KAPITEL 48
Oly lauscht der Stimme aus der Kelvin Maximum Security Institution. Sie dringt durch ein komplexes Umleitungssystem aus dem Büro seiner Anwaltskanzlei in Vancouver zu ihm durch. Er steht am Fenster seines Büros und verarbeitet diese Informationen, während er zusieht, wie seine Gäste von Bord seiner drei Boote gehen, die pünktlich zur Cocktailstunde angelegt haben – ein sieben Meter langes Wellcraft, ein neun Meter messendes Grady-White und ein Trophy, ebenfalls sieben Meter lang. Seine Gäste sind allesamt Männer, in die Allwetteranzüge seines luxuriösen Angelunternehmens gekleidet.
Die Kühlboxen, die seine Guides abladen, sind offensichtlich schwer, also konnten seine Gäste wohl einen guten Fang machen. Heilbutt oder vielleicht auch Wildlachs. Jenseits des stahlgrauen Wassers auf einer weiteren Insel, die ebenfalls ihm gehört, windet sich Nebel durch die Nadelbäume der dicht bewachsenen Hänge. Ein Weißkopfseeadler zieht hoch oben träge seine Kreise. Er hofft, dass es seinen Guides auch gelungen ist, die Orcaherde zu finden, die am vergangenen Tag draußen auf dem Meer gesichtet wurde. Seine Guides tragen den Fang hinüber zu den Fischsäuberungsstationen aus Edelstahl am Ende des Docks. Das Abendessen aus Alaska-Königskrabbe und Hummer wird gerade von seinen Köchen zubereitet. Die Frauen befinden sich im Spa-Bereich und warten darauf, die Gäste mit Massagen – oder auf Wunsch auch mit mehr – zu verwöhnen. Dies ist eine der ältesten und beliebtesten Fly-in-Angler-Lodges entlang der pazifischen Küste. Ein garantiertes Fünf-Sterne-Erlebnis. Das Meer ist seit jeher die Quelle seines Reichtums.
»Welchen Namen hat sie genannt?«, fragt er leise.
»Roksana.«
»Sie erinnert sich noch an ihren früheren Namen?«
»Sie erinnert sich allmählich wieder an Dinge. Sie erinnert sich an mich – daran, dass ich ihr diese Turnschuhe mit den Luftsohlen geschenkt habe. Sie sagt, dass es alte Beweise vom Tatort an der Engelskrippe gibt, die gerade mithilfe neuer DNS-Technologie noch einmal neu getestet werden. Die RCMP hat ihr DNS-Profil schon mit dem abgetrennten Fuß in Verbindung gebracht. Und die Fingerabdrücke von der Krippe haben sie zu Milo geführt.«
Er spürt eine dunkle Ahnung aufsteigen, der Kreis schließt sich. Unausweichlich. Er greift nach dem aus Knochen geschnitzten Brieföffner auf seinem Schreibtisch und spielt damit herum. »Also … war sie auch schon bei Milo?«
»Ich … weiß es nicht.«
»Genau deshalb darf man niemals etwas unerledigt lassen, Semy.«
»Genau deshalb rufe ich an.«
»Wie heißt sie?«, wiederholt er die Frage. »Sie muss einen Adoptivnamen haben.«
»Sie hat nur den Namen Roksana genannt.«
Einige der Gäste überqueren nun die Gangway und steuern das Hauptgebäude der Lodge an. Der größte von ihnen, ein schwarzhaariger Mann aus Dubai, ist derjenige, mit dem er am dringendsten über Geschäftliches reden muss. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass dieser Mann ausgerechnet am selben Tag hier ist, an dem Semy ihn anruft – es war der Cousin dieses Mannes aus Saudi-Arabien, der damals Ana und die Zwillinge gewollt hatte.
Er fragt noch einmal. »Unter welchem Namen hat sie sich im Kelvin angemeldet? Was stand auf ihrem Besucherausweis?«
»Ich habe ihren Besucherausweis nicht gesehen.«
»Wo lebt sie? Welchen Beruf hat sie?«
»Ich … es war ein Schock, sie zu sehen. Ich habe nicht gefragt. Sie hat es nicht gesagt.«
Innerlich flucht er, aber seine Stimme ist vollkommen gelassen, als er sagt: »Ist schon gut. Beruhige dich. Wir kümmern uns darum. Ich weiß deinen Anruf zu schätzen.« Ein kurzes Innehalten. »Wie sieht sie aus?«
»Wie Ana. Genau wie Ana. Ich dachte schon, sie wäre es, sie wäre zurückgekommen. Aber ihr Haar …«
»Ich weiß.« Ihr Haar hatte dieselbe Farbe wie seines. Nur dunkler. Die gleiche helle Haut. Die gleichen hellgrauen Augen. Diese Attribute in doppelter Ausführung waren es gewesen, die seinen Kunden aus Saudi-Arabien so fasziniert hatten. Der Prinz hatte einen Spitzenpreis für die Zwillinge gezahlt. Das Geld hatte er zurückgeben müssen, als er nicht hatte liefern können. Wegen Semy.
»Wie groß war sie?«
»Ungefähr ein Meter fünfundsiebzig. Schlank. Sie hat eine Narbe links am Mund.«
»Was hast du ihr gesagt?«
»Nichts – nichts, an das sie sich nicht ohnehin schon erinnert.«
»Danke, Semy.« Er denkt nach, darüber, was er vor all den Jahren in den Zeitungen gelesen hat. Dass das Engelskrippenmädchen nichts sagte und keine Erinnerungen zu haben schien. Er hatte sich sicher gewähnt. Er hatte es gut sein lassen. Das war ein Fehler gewesen. »Auf Wiedersehen, Semy.«
Er legt auf. Sein Blick wandert zum Bücherregal. Zu einem gerahmten Foto. Ana. Mit sechzehn. Ihr Bauch gerundet von seinem Nachwuchs. Sein Besitz. Ana war diejenige gewesen, die er eine Weile für sich selbst behalten und die ihm zwei identische Töchter geboren hatte. Was den Narzissten in ihm fasziniert hatte. Eine Weile lang. Bis er ein besseres Angebot bekommen hatte. Doch Ana hatte sich ihm widersetzt. Ohne Semy wäre ihr das nie gelungen.
Seine Gäste betreten nun unten die Lodge. Keine Zeit zu verlieren. Er kehrt an seinen Schreibtisch zurück, schließt eine der unteren Schubladen auf und holt ein ungebrauchtes Wegwerfhandy hervor. Sobald der Auftrag, den er nun in die Wege leiten wird, unter Dach und Fach ist, wird er das Handy entsorgen. Ein spezielles Handy für jeden Auftrag. Immer.
Er tätigt den Anruf und hinterlässt seinem Mann eine Nachricht. »Ich habe eine weitere Anweisung«, sagt er. »Dreifach. Top Level.«
Nachdem er wieder aufgelegt hat, schenkt er sich einen Wodka ein und leert ihn in einem Zug. Er wirft einen Blick in den Spiegel, dann geht er hinab, um seine Gäste nach einem erfolgreichen Tag auf See zu begrüßen.
Unten ist alles makellos sauber. Champagner, Austern und Wodka, alles auf Eis. Diskrete Hintergrundmusik. Eine Frau Anfang neunzig kommt um die Ecke geschlurft. Vorsichtig balanciert sie eine Silberplatte mit fein geschnittenem Räucherlachs. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet. Ein wenig zittrig stellt sie die Platte auf dem Tisch neben den Austern ab.
»Mama!«, ruft er und breitet in einer warmherzigen Geste die Arme aus, bevor er einmal in die Hände klatscht. »Es ist fantastisch, wie immer.«
Während er spricht, kommt der dunkelhaarige Mann aus Dubai herein. »Ahmed! Kommen Sie, kommen Sie rein, damit ich Ihnen meine Mutter vorstellen kann. Elena, die stets großzügige Gastgeberin.«
Die alte Frau verbeugt sich und eilt dann davon, bevor Ahmed sie ansprechen kann.
»Und Ihre wunderschöne Frau?«, fragt Ahmed. »Ist sie dieses Mal nicht hier?«
»Irina hält sich zurzeit in unserer Stadtresidenz auf. Das abgeschiedene Leben in einer Luxuslodge gefällt ihr gut, aber nur eine gewisse Zeit lang – irgendjemand muss ja schließlich auch in den Boutiquen shoppen gehen.« Er lacht.
Ahmed stimmt in sein Lachen ein. Die anderen Männer treten ein, lächelnd und über ihren Fang plaudernd.
»Kommen Sie, kommen Sie alle hier entlang. Lassen Sie uns am Kamin etwas trinken, dort ist es warm.«
Während er seinen Gästen vorausgeht, fühlt er das Handy in seiner Tasche vibrieren.
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