KAPITEL 49
Montag, 8. Januar
Kjel Holgersen rutschte auf dem grasigen Hang aus, der hinab zum Duck Lake führte. Aus den schlammigen Wassern dieses Sees hatte man am Morgen des vergangenen Tages den kleinen blauen Yaris der russischen Dolmetscherin gezogen. Seither suchten Taucher in dem trüben Tümpel nach der Leiche der Frau. Nun hatte man Kjel darüber benachrichtigt, dass man sie gefunden hatte. Weil er nicht auf Jack-O fallen wollte, der in seiner Trage unter Kjels Jacke eingekuschelt war, landete er hart auf seinem dürren Hintern im schwarzen Schlamm.
»Scheiße!« Er kämpfte sich wieder hoch, aber seine Hände versanken gut dreißig Zentimeter tief im schleimigen Matsch. Es regnete. Die Tropfen trafen mit lautem Klatschen auf die Grütze um ihn herum. Der Verkehr auf dem Highway über ihnen verursachte einen beständig niedergehenden Sprühnebel. Es gelang Kjel, sich wieder hochzurappeln und den Rest des Weges über das glitschige Gras zu Leo und dem Coroner Charlie Alphonse hinabzuschlittern.
Leo hatte es irgendwie geschafft, vor ihm am Tatort einzutreffen. Er rauchte und schnippte die Zigarettenasche auf den nassen Boden, was Kjel ärgerte, weil er selbst auch gern eine geraucht hätte, was aber das Blödeste war, was man an einem Tatort tun konnte. Vielleicht war es auch nicht so cool, einen Hund mitzubringen, aber was hätte er so kurzfristig tun sollen? Er nickte erst Leo, dann dem Coroner zu. »Alphonse«, begrüßte er ihn.
»Das ist doch mal ein Wetterchen, was?« Alphonse sah in den Regen hinauf. »Ich habe O’Hagan schon verständigt. Sie ist auf dem Weg.«
»Gibt es Beweise dafür, dass etwas nicht stimmt?«, fragte Kjel und versuchte, sich die schmutzigen Hände an der durchnässten Hose abzuwischen, während er auf die braune, von Regentropfen getupfte Wasseroberfläche des Duck Lakes blickte.
»Der Captain der Taucher hat einen Mord gemeldet«, sagte Leo. »Weiß noch nicht, warum – man hat sie da drüben gefunden, nahe am anderen Ufer.« Er deutete mit seiner Zigarette, die bereits etwas aufgeweicht vom Regen war. »Da, wo der See in den Fluss übergeht. In dem Bereich ist alles voller Schilf und Rohrkolben. Der Schlamm und der ganze Mist am Boden sind da etwa einen Meter tief. Sie war darin eingesunken, deshalb haben sie solange gebraucht, um sie nach dem Yaris zu finden. Die Leiche muss aus dem offenen Autofenster getrieben sein oder so. Offenbar verläuft die Strömung am Seegrund in diese Richtung.«
»Und da kommt schon O’Hagan.« Alphonse nickte hoch zum Highway.
Kjel sah gerade noch rechtzeitig hin, um die stämmige kleine Pathologin auf dem Hintern die Böschung herunterrutschen zu sehen, während sie versuchte, ihre Tasche hochzuhalten. Er lachte, als sie angeschlittert kam.
»Hey, hey, Doc. Netter Auftritt. Schön, dass ich hier nich der Einzige mit Klasse bin.«
O’Hagan murmelte irgendetwas Unwirsches vor sich hin, und Kjel reichte ihr eine schlammverschmierte Hand, um ihr aufzuhelfen.
Als sie wieder stand, rückte sie ihre Kappe zurecht, auf der CORONER stand. »Wo ist sie?«
»Sie bringen sie gerade am anderen Ufer rauf«, antwortete Alphonse.
Schweigend sahen sie zu, wie drei Taucher die Wasseroberfläche durchbrachen und die Leiche der russischen Dolmetscherin auf das Ufer zubewegten. Gelbes Polizeiabsperrband flatterte oben an der Straße, wo der Yaris die Leitplanke durchbrochen hatte und wo seine Reifen eine dunkle Spur durch Matsch und Gras gezogen hatten.
»Was ist das?«, fragte O’Hagan.
»Was?«, hakte Kjel nach.
»Unter Ihrer Jacke.«
»Master Jack.« Er grinste.
»Maddocks’ Hund?«
»Jep.«
»Wo ist Maddocks?«
»Hat einen großen Fall in der großen Stadt.«
»Auf dem Festland?«
»Yup. Surrey. Seine alten Jagdgründe.«
Die Pathologin musterte ihn. »Hat das was mit den Barcode-Mädchen zu tun?«
Kjel nickte und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf ihre Wasserleiche. »Da kommt sie ja.«
Die Taucher brachten die Leiche auf dem Gesicht treibend zu ihnen. Sie trug einen hellbraunen Pullover und einen Tweedrock. Strümpfe. Keinen Mantel. Keine Schuhe. Ihr Haar trieb um ihren Kopf, braun wie das Wasser. Alphonse winkte seinen Leuten zu, die mit einer Metalltrage und einem Leichensack die Uferböschung herunterkamen. Es blitzte, als der Tatortfotograf Aufnahmen von dem Vorgang machte.
Die Taucher kämpften sich rutschend mit ihrer Last durch den Schlick und das Schilf. Eine Ente stob schnatternd aus den Rohrkolben auf, ihre kleinen Flügel flatterten wie verrückt, um den dicklichen Körper emporzuheben. Auf der nassen Autobahn über ihnen donnerte der morgendliche Berufsverkehr vorbei. Das Leben ging weiter. Die Leute gingen zur Arbeit und die Kinder zur Schule.
Sie legten die Leiche ins Gras und drehten sie um. Ihr Mund stand weit offen. Schwarze Unterwasserpflanzen hingen heraus. Ihre Haut war fahlweiß und schleimbedeckt. Milchig und blicklos starrten ihre Augen hinauf in den prasselnden Regen.
»Verdammt«, fluchte Kjel. »Sie ist es wirklich. Die russische Dolmetscherin, die uns bei Sophia Tarasov geholfen hat.« Er ging neben O’Hagan vor der Leiche in die Hocke, wobei er darauf achtete, Master Jack unter seiner Jacke nicht zu zerdrücken. Die Pathologin wischte sich die Hände an einem Tuch aus ihrer Tasche sauber und streifte mit einiger Mühe die Handschuhe über. Sanft strich sie der Frau das nasse Haar von Gesicht und Hals. Kjel erstarrte.
»Scheiße«, fluchte er gedämpft. »Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten. Glatter Schnitt.«
»Fast bis zur Halswirbelsäule«, fügte O’Hagan hinzu. Sie schob den Saum des Pullovers hoch und setzte einen kleinen Schnitt unterhalb der Rippen, um das Thermometer hineinzuführen. Sie las die Lebertemperatur ab. »Das Postmortem-Intervall könnten zweiundsiebzig Stunden oder mehr sein. Schwer zu sagen, ohne die genaue Temperatur am Boden dieses Sees zu kennen. Ich weiß mehr, sobald wir sie im Leichenhaus haben.«
»Sie könnte am Freitag gestorben sein«, sagte Leo und blieb in sicherer Distanz hinter Kjel. Der alte Detective von der Mordkommission kam einer Leiche nie zu nahe, wenn er es vermeiden konnte. »Als ihr Auto die Leitplanke durchbrochen hat und in den See gerutscht ist.«
»Ja«, sagte Kjel und beugte sich noch tiefer über die Tote. »Aber ich weiß nicht, wie eine Leiche mit durchschnittener Kehle und ohne Schuhe das Auto durch die scheiß Leitplanke steuern kann.« Er deutete auf eine kleine, runde, rotschwarze und offenbar entzündete Wunde am Handgelenk der Frau. »Was, glauben Sie, ist das da, Doc? Eine Verbrennung vielleicht?«
O’Hagan schob den Ärmel zurück und entblößte weitere identische Verletzungen auf der zarten Haut der Arminnenseite der Toten. »Optisch passen die Verletzungen zu Zigarettenbrandwunden.« Ihre Hand hielt inne. Gleichzeitig sah Kjel es auch.
»Verdammt«, flüsterte er.
Der Dolmetscherin fehlten der kleine Finger und der Ringfinger der rechten Hand.
»Direkt über dem Knöchel abgeschnitten.« Er sah Leo an. »Sieht aus, als hätte man sie gefoltert. Und als hätte sie Widerstand geleistet. Er musste sie verbrennen und ihr mehr als einen Finger abschneiden.« Er verstummte und überlegte.
Das Barcode-Mädchen. Sophia Tarasov – sie war es, die der Mörder der Dolmetscherin gewollt hat. So hat er herausgefunden, wo er die Mädchen finden kann und welche von ihnen mit Maddocks gesprochen hat. Und diese unschuldige Zivilistin hat unter Einsatz ihres Lebens darum gekämpft, ihm diese Informationen vorzuenthalten. Um Tarasov zu beschützen. Aber sie hat verloren. Wir alle haben verloren.
Mit dem Ärmel wischte er sich das Wasser aus dem Gesicht. »Bringen Sie sie besser jetzt sofort ins Leichenhaus, Doc, ich schätze nämlich, dass man Ihnen Ihre Leiche genauso vom Tisch klauen wird wie Tarasovs.«
Er stand auf. Schweigend und durchnässt warteten sie, während der Körper in den Leichensack gehüllt und vorsichtig auf die Trage gelegt wurde. Dann brachten die Leute des Coroners sie rutschend und stolpernd den steilen Abhang hinauf.
Jack-O regte sich in seiner Trage. Kjel öffnete den Reißverschluss und spähte hinein. »Okay, alter Junge, du kannst pinkeln gehen, sobald wir hier raus sind.«
Während sie nun ebenfalls die Böschung hinaufkletterten, hielt O’Hagan ihn zurück und sagte leise: »Was ist da los mit Angie?«
»Keine Ahnung«, antwortete er. »Ich hab nur gehört, dass man sie gefeuert hat.« Er warf Leo einen Blick zu, der gerade ein Grasbüschel packte, um seinen haarigen, dicken Hintern den Hang hinaufzuwuchten.