KAPITEL
50
Maddocks stellte einen dreifachen Kaffee auf seinem Schreibtisch in der Einsatzzentrale in Surrey ab, zog sich den Mantel aus und hängte ihn über die Rückenlehne seines Stuhls. Er hatte nicht schlafen können. Angie ging nicht ans Handy, was kein gutes Zeichen war. Gerade wollte er in der Social-Media-Abteilung des MVPD anrufen, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging, als sein Handy klingelte.
Rasch zog er es hervor. Auf dem Display wurde Holgersen angezeigt. Nicht Angie.
»Ja?«, meldete er sich, ließ sich auf dem Stuhl nieder und griff nach seinem Kaffee.
»Die Taucher haben ihre Leiche gefunden – es ist die russische Dolmetscherin.«
Maddocks’ Hand mit dem Kaffeebecher verharrte mitten in der Luft.
»Was?«
»Jep – sie ist tot. Sie hat es nicht bis auf die andere Seite der Insel zum Sturmgucken geschafft. Gestern haben sie ihren kleinen Yaris aus dem Duck Lake am Highway nach Sooke gefischt. Heute Morgen haben die Taucher ihre Leiche gefunden. Die reinste Schlammbrühe, das Wasser da.«
»Ist sie von der Fahrbahn abgekommen?«
»Ermordet, wie’s aussieht – die Kehle ist glatt durchgeschnitten, fast bis zur Wirbelsäule.« Pause. »Sie wurde gefoltert, Boss – Zigarettenverbrennungen und zwei abgeschnittene Finger.«
Maddocks schluckte langsam und stellte den Kaffeebecher ab. »Tarasovs Mörder«, sagte er leise. »So hat er sie gekriegt. So hat er sie gefunden. Durch die Dolmetscherin.«
»Das wäre auch meine Arbeitshypothese. Er folgt der Dolmetscherin, zwingt sie, im Büro anzurufen und von irgendwelchen falschen Wochenendplänen zu erzählen, dann foltert er sie, bis er hat, was er über die Barcode-Mädchen wissen will.«
»Aber wie hat er die Dolmetscherin gefunden?«
»Schätze mal, er beobachtet uns, Boss. Diese Russen wissen, dass wir ihre Barcode-Ware haben. Ich glaube, er hat uns beschattet, um herauszufinden, wo wir die Mädchen verstecken. O’Hagan wartet auf Anweisungen von dir. Sie will die Bestätigung, dass das ihr Fall ist, sonst wird ihr deine Task Force die Leiche wieder vom Tisch schnappen, sobald sie Bescheid wissen, genau wie bei Tarasov.«
Das Blut in Maddocks’ Adern schien zu Eis zu werden. Er rieb sich über die Stirn und hob den Blick. Auf der anderen Seite des Raumes sprach Takumi gerade mit einem Officer. »Macht alles hieb- und stichfest, Holgersen, du hast nämlich recht. Sobald ich diese Information an Takumi weitergebe, haben wir es nicht mehr in der Hand. Sie werden alles wollen, was ihr habt.«
»Kommt ihr da drüben in Surrey denn irgendwie weiter?«
»Es geht voran. Schon irgendwelche Zeugen? Irgendetwas, das unseren Verdächtigen im Fall Tarasov mit der Dolmetscherin in Verbindung bringt?«
»Bisher nichts. Deine Task Force hat das gesamte Filmmaterial der Überwachungskameras im Krankenhaus. Also
können wir nicht nachsehen, ob die Dolmetscherin nach der Befragung von Tarasov verfolgt wurde.«
»Ich sorge dafür, dass man sich darum kümmert.« Maddocks sah auf, als plötzlich die Tür zur Einsatzzentrale aufgestoßen wurde. Rollins von Projekt Gateway kam hereingestürmt, zwei Polizisten im Schlepptau. Takumi winkte sie heran. Sie neigten einander die Köpfe zu und redeten. Takumi griff nach einem Telefon und wählte. Irgendetwas war da im Gange.
»Ich muss los. Noch ganz kurz, wie geht’s Jack-O?«
»Der alte Master Jack will dich schon gar nicht mehr zurückhaben, Boss. Der hat hier das reinste Luxusleben.« Er zögerte. »Mit Pallorino alles klar?«
Ein sorgenvoller Stich. »Warum?«
»Wegen dem, was passiert ist …«
»Was ist
denn passiert?«
»Sie wurde einen Kopf kürzer gemacht. Vedder hat sie entlassen.«
Maddocks’ Gedanken überschlugen sich. Die Sorge wurde zu Angst. »Du meinst, sie ist nicht
da? Nicht an ihrem Social-Media-Schreibtisch?«
»Ich dachte, das weißt du, Boss.«
Herrgott.
»Hat Vedder – oder irgendwer – gesagt, warum sie entlassen wurde?«
»Totales Stillschweigen.«
»Ruf mich sofort an, wenn du etwas Neues weißt.« Maddocks legte auf, trank einen großen Schluck lauwarmen Kaffee und stand auf. Er ging auf direktem Weg zu Takumi und zog ihn beiseite. Er informierte ihn über die russische Dolmetscherin.
»Ich möchte mir das Bildmaterial der Überwachungskameras ansehen«, sagte Maddocks. »Von dem Moment an, in dem die Dolmetscherin mit mir, Detective Holgersen und der Phantombildzeichnerin das Krankenhaus verlassen hat.«
»Diese Aufgabe werde ich jemand anderem übertragen. Im Moment brauche ich Sie für die Überwachung des Club Orange B. Es gibt zwei Entwicklungen: Die Hafenarbeiter haben soeben dem Vertrag mit der Hafengesellschaft zugestimmt. Vor zehn Minuten wurde der Streik beendet, und jetzt geht alles sehr schnell. Die ersten Containerschiffe, die draußen im Meer vor Anker lagen, machen sich schon zum Einlaufen bereit. Rollins zufolge hat sein Undercover-Mann Kontakt mit ihm aufgenommen und ihn darüber informiert, dass die Hafenarbeiter, die mit den Hells Angels in Verbindung stehen, nervös sind. Irgendetwas steht da bevor, aber noch scheint niemand genau sagen zu können, wann genau es losgeht – vielleicht in den kommenden vierundzwanzig bis zweiundsiebzig Stunden. Sein Agent vermutet, dass auf einem dieser Containerschiffe eine Fuhre Frauen in den Hafen gebracht werden soll. Außerdem hat sich der verdeckte Ermittler aus dem Club Orange B gemeldet – dieselbe Geschichte. Irgendetwas braut sich da zusammen. Wir glauben, es steht mit den Entwicklungen am Hafen in Zusammenhang. Im Club gehen Anzugträger ein und aus. Zwei Transporter wurden gebracht und stehen jetzt auf dem Parkplatz neben dem Club. Zwei Frauen haben Koffer voller Kleider geliefert. Und eine Friseurin und Visagistin wurde gesehen, wie sie in die oberen Räumlichkeiten hinaufgegangen ist. Die Zimmer da oben sind für die übrigen Angestellten im Club verboten. Der verdeckte Ermittler glaubt, dass da etwas passieren wird. Vielleicht reihen sich die Käufer auf, um die eintreffenden Frauen zu begutachten.«
»Sie meinen, sie laden die Frauen aus und verkaufen sie direkt aus den Containern, nach Wochen auf See?«, fragte Maddocks und dachte daran, dass Tarasov und ihre Gruppe an jenem entlegenen Ort an der Küste erst wieder aufgepäppelt worden waren, bevor man sie an Sabbonnier und den Bacchanalian Club verkaufte.
»Der Streik hat vielleicht ihren Zeitplan durcheinandergebracht. Vielleicht kommen sie deshalb direkt zur Auslieferung.«
Maddocks fluchte.
»Unsere Notfallteams bringen sich rund um den Hafen herum in Stellung«, fuhr Takumi fort. »Weitere Notfallteams stehen beim Club Orange B bereit. Ich will Sie in einer Befehlsposition in unserer Überwachungseinrichtung auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Clubs haben. Sie übernehmen dort das Kommando. Wir dürfen die Notfallteams keinen Moment zu früh reinschicken – wenn es sich wirklich um eine Verkaufsauktion für verschleppte Frauen handelt, dann müssen wir abwarten, bis wirklich alle Mädchen im Club sind. Wir müssen warten, bis die Käufer bereitstehen, erst dann geben Sie den Befehl. Verstanden?«
»Verstanden.«
»Ein komplettes Briefing mit dem restlichen Team in …« Er sah auf seine Uhr. »In fünfzehn Minuten.« Er hob die Hand. »Bowditch? Hier rüber … Gibt es etwas Neues über diese Häftlinge?«
Rasch kam Bowditch zu ihnen herübergeeilt. »Bisher nichts, Sir. Offenbar wurde der Häftling Milo Belkin während einer Auseinandersetzung in den Duschräumen erstochen. Er ist sehr schnell verblutet. Keiner der anderen Häftlinge sagt ein Wort. Die Sicherheitsbeamten haben offenbar nichts gesehen. Das Überwachungskamerasystem ist auf mysteriöse Weise in dem Moment, in dem es passiert ist, ausgefallen.«
Maddocks blieb das Herz stehen, dann donnerte es in doppelter Geschwindigkeit los. »Worum geht es da?«
»Zwei Häftlinge, die mit unserer russischen Organisation in Verbindung stehen, sind gestern Abend in zwei verschiedenen Strafvollzugsanstalten gestorben.« Takumi wandte sich wieder an Bowditch. »Was ist mit dem anderen? Semyon Zagorsky? Irgendetwas Neues über ihn?«
»Der Pathologe meint, es sieht aus wie Selbstmord«, antwortete Bowditch. »Man hat ihn frühmorgens erhängt in seiner Zelle gefunden. Er hat die Gummizüge seiner Hosen verwendet, um daraus ein Seil zu drehen. Was allerdings nicht zu der Selbstmordtheorie zu passen scheint, ist die Tatsache, dass er gerade dabei war, seiner Tochter Mila einen Brief zu schreiben. Der lag unfertig auf seinem Schreibtisch.«
Mila?
»Wie stehen diese beiden Häftlinge mit Ägis in Verbindung?« Angst schnürte Maddocks den Magen zu.
Takumi sah ihn an. »Beide Männer wurden bei einem Drogenfund im Jahr 1993 verhaftet. Ein Officer des VPD kam damals bei einer Schießerei ums Leben. Man glaubte, dass die Drogen mit dem organisierten russischen Verbrechen in Verbindung standen, aber keiner der beiden Häftlinge hat die Namen ihrer Komplizen preisgegeben, von denen zwei vom Tatort fliehen konnten. Nichts konnte bewiesen werden. Vielleicht gibt es auch überhaupt keine Verbindung zu unseren Barcode-Fällen, aber das Timing dieser Todesfälle lässt die Alarmsirenen schrillen.« Damit wandte er sich ab und ging davon. »Eden? Haben Sie diesen Bericht für mich?«
Maddocks starrte ihm nach, Schweiß prickelte auf seiner Haut. Angie? Wo zum Teufel bist du? Warum wurdest du gefeuert? Zagorsky hat eine Tochter namens
Mila? Hast du auch ihn besucht?
Er verließ die Einsatzzentrale und eilte auf die Feuertreppe zu. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend rannte er ganz nach oben und stieß die Tür zum Dach auf. Er trat in den kalten, nebligen Regentag hinaus, zog sein Wegwerfhandy hervor und rief Angie an. Sein Blick ruhte auf der Stadt unter sich.
Sein Anruf ging direkt an die Mailbox – es klingelte nicht einmal. Seine Nervosität wuchs.
Er rief Flint an.
Sobald sein Vorgesetzter abhob, sagte Maddocks: »Können Sie mir sagen, was mit Detective Pallorino passiert ist? Ich muss wissen, ob es für meinen Fall relevant ist.«
Eine Pause entstand. Er hörte, wie Flint aufstand und die Tür hinter sich schloss. »Sie hat massiv gegen ihre Auflagen verstoßen. Sie hat unter Einsatz ihrer Polizeimarke einen Inhaftierten besucht, der ein Verdächtiger in einer aktiven Ermittlung der RCMP war. Dazu war sie nicht autorisiert. Außerdem prüft die RCMP, ob man ihr vorwerfen kann, die Ermittlungen behindert zu haben. Sie hat Beweismittel zurückgehalten, die mit dem Fall dieses angespülten Fußes in Verbindung stehen.«
»Einen Verdächtigen?«
»Wie bitte?«
»Sie hat nur einen inhaftierten Verdächtigen besucht?«
Ein kurzes Zögern. »Sollten es denn mehr sein?«
»Nein. Ich weiß es nicht. Hat sie ihre Marke schon zurückgegeben?«
»Nein. Wir wissen nicht, wo sie ist. Genauso wenig wie die RCMP – sie suchen nach ihr. Ihre Kreditkartendaten zeigen, dass sie gestern Abend aus ihrem Hotel in Coal Harbour ausgecheckt hat, dann ist sie abgetaucht.«
Scheiße!
Er legte auf und fuhr sich übers Haar.
Was zum Teufel hast du vor, Angie? Drehst du durch? Bist du in Schwierigkeiten? Oder tot?
Sein Handy klingelte. Er tauschte die Telefone. Es war Eden.
»Sergeant, Takumi braucht Ihren Input für die Vorbereitung des Briefings. Sofort. Die Officer der Notfallteams sind gerade eingetroffen.«