KAPITEL 54
Dienstag, 9. Januar
Langsam kam Angie wieder zu sich, Verwirrung vernebelte ihre Gedanken. Sie versuchte zu begreifen, was hier vorging, wo sie war. Sie hatte das Bewusstsein verloren.
Warum? Wie lang? Was ist passiert?
Sie versuchte, die Zunge zu bewegen. Sie fühlte sich zu groß an. Angies Mund war trocken, schmeckte metallisch. Ihr Schädel, ihr Gehirn, ihr ganzer Körper pochte vor Schmerz mit jedem Herzschlag. Vorsichtig öffnete sie die Augen und zuckte vor dem plötzlichen Licht zurück, das durch ein Fenster hoch oben hereinfiel. Nahe der Decke. Vergittert.
Eiskaltes Wiedererkennen durchzuckte sie.
Ich war schon einmal hier. Was ist das für ein Ort?
Angie schloss die Augen wieder und berührte vorsichtig mit den Fingerspitzen ihren Schädelansatz. Als sie die Hand wieder zurückzog, waren ihre Finger klebrig. Blut? Ihres? Sie stöhnte, während sie versuchte, den Kopf zu bewegen, um die Augen ein weiteres Mal öffnen zu können. Ihr Hals fühlte sich an, als wäre er gebrochen. Die Muskeln in ihrem verletzten Arm schienen in Flammen zu stehen.
Einen Moment lang gab sie einfach auf, lag nur da, versuchte ihre Gedanken zu sortieren.
Sie hatte einen Anruf bekommen – das war passiert. Von Nadia Moss. Gerade, als sie den russischen Club verlassen hatte. Moss hatte geflüstert, dass sie Angie allein treffen wollte, draußen, hinter dem Club, wo sie eine Zigarettenpause machen würde. Drinnen im Club konnte sie nicht sprechen. Zu riskant, hatte Moss gesagt. Sie hatte verzweifelt geklungen.
Spannung baute sich in Angie auf. Sie kämpfte darum, die Lider wieder zu heben, richtig aufzuwachen, sich mit aller Klarheit daran zu erinnern, was als Nächstes passiert war.
Nadia hatte die Hintertür zur Gasse geöffnet. Sie hatte Angie zu sich gerufen. Da hatte jemand sie von hinten gepackt … dann ein Taser. Es musste ein Taser gewesen sein. Danach erinnerte sie sich an nichts mehr, nur noch Schwärze, abgesehen von einer vagen Vorstellung davon, dass sie sich irgendwann in einem Fahrzeug befunden hatte, mit etwas aus Stoff über dem Kopf. Dann … ein Wummern, ein Vibrieren. Ein Helikopter? Ein Bild tauchte auf – sie befand sich in einem Helikopter und flog durch die Nacht. Es war dunkel. Kalt. Ein schwaches Leuchten von der Elektronik, vielleicht von einem Armaturenbrett. Man hatte ihr die Hände und Füße gefesselt. Jetzt versuchte sie, die Beine zu bewegen. Nicht mehr gefesselt, stellte sie fest. Sie trug noch immer ihre Stiefel. Die Hände waren frei. Sie versuchte, tief durch die Nase Luft zu holen. Sie erkannte den Geruch des Raums.
Ich war ganz sicher schon einmal hier.
Auf einmal schrillten Alarmglocken in ihrem Kopf. Sie wurde ganz ruhig. Sie spürte eine Präsenz. Da ist jemand bei mir im Raum. Vorsichtig sog sie wieder Luft durch die Nase ein, und da roch sie ihn. Ein Geruch nach Schweiß, untermalt von dem schwachen Duft eines maskulinen Aftershaves.
»Willkommen zu Hause, Roksana.«
Es fühlte sich an wie ein Stromstoß. Angie stockte der Atem, als sie durch die Zeit zurückgerissen wurde. Sie befand sich in dem feuchten, dunklen Raum, in den Alex sie durch Hypnose zurückversetzt hatte.
»Ich … habe auf einem Bett gelegen. In einem dunklen Raum. Da war jemand bei mir in der Dunkelheit und hat meine Hand gehalten. Eine Frau. Ihre Haut war kühl. Weich. Sie hat lieblich gesungen, sanft, wie bei einem Wiegenlied … diese Worte über die kleinen Kätzchen. Auf Polnisch. Dann hat sie auf einmal mit dem Singen aufgehört. Jemand war hereingekommen. Ich hatte Angst. Es wurde schwärzer im Raum … Da … da war ein Mann im Raum, auf ihr. Ein großer, großer Mann.«
»Auf wem, Angie?«
»Ich … weiß es nicht. Die singende Frau. Er hat auf ihr gegrunzt wie ein Schwein, und sie hat leise geweint. Furchtbare Angst. Nicht schön. Schrecklich.«
Angie sprang auf. Alles drehte sich. Übelkeit schlug über ihr zusammen und sie würgte. Sie hatte auf einem Bett gelegen. Sie tastete um sich, immer noch nicht in der Lage, sich richtig zu konzentrieren.
»Willkommen zu Hause, Roksana«, wiederholte er. Die Stimme klang leise, tief. Sonor. Grauen stieg in ihr auf. Sie schluckte, dann blinzelte sie hektisch. Ich kenne diese Stimme. Ich kenne sie.
Ihr Blick wurde schärfer. Sie konnte die Mauer gegenüber und das vergitterte Fenster hoch oben sehen. Es gelang ihr, den Kopf zur Seite zu drehen, der Stimme zu. Das blasse Licht, das durch die Fenster schien, fiel auf einen großen Mann. Rotes Haar. Buschiger roter Bart. Blasse Haut. Blassgraue Augen.
Der rote Mann. Der böse Mann. Er war es.
»Wer … wer bist du?« Ihre Stimme klang heiser. »Wo bin ich?«
Er streckte den Arm aus, strich ihr mit dicken Fingern durchs Haar und wickelte sich eine Strähne um die Hand. Er legte den Kopf schief und Angie sah das blaue Krabbentattoo seitlich an seinem dicken Hals. »Herrlich«, flüsterte er. »Du bist so schön geworden, mein Mädchen.« Er berührte sacht ihre Lippen, strich über ihre Narbe. Sie zuckte zurück und stieß gegen die Wand.
»Nimm deine beschissenen Finger weg!«
Er lächelte. Lichter tanzten vor ihren Augen. »Hierher bringe ich alle meine Mädchen, Roksi. Erinnerst du dich? Hier habe ich dich und deine Mutter untergebracht. Ich wollte dich hierher zurückbringen, ich wollte, dass du es beim Aufwachen siehst, dass du dich erinnerst, dass ich mich erinnere. Ich wollte dich sehen und berühren, ich wollte dir in die Augen sehen und ich wollte, dass du mir in die Augen siehst.« Er musterte sie. »Mein Nachwuchs«, sagte er leise. »Kluges Mädchen. Nach all den Jahren hast du mich gefunden. Du hast meinen Club gefunden. Sehr gut gemacht, Roksi. Du bist tatsächlich ganz meine Tochter.«
Galle schoss ihr in die Kehle. Sie erkannte es selbst – an seiner Hautfarbe. Seinem Haar. Dem lichten Grau seiner Augen. Sie hatte ihn gefunden. Sie hatte ihren biologischen Vater gefunden. Und er war der rote Mann. Ein Monster.
»Wie … wie heißt du?«, flüsterte sie.
Er lächelte. »Oly. Olyeg Kaganov.«
»Wer war meine Mutter?«
»Sie war einmal meine Hure. Hübsches kleines Ding aus Polen. Sie ist mit sechzehn schwanger geworden.«
Angie zog sich die Brust zusammen. Sie starrte ihn an, versuchte, ihn wirklich zu sehen, sein Gesicht in sich aufzunehmen, die Form seines Körpers, seinen Geruch. Sie versuchte, ihn zu verstehen. Ihren Dad.
»Du hast sie umgebracht. Du hast meine Mutter umgebracht, nicht wahr?«
Sein Lächeln wurde zu etwas Dunklerem.
»Ana«, sagte sie leise. »Das war ihr Name – ihr Name war Ana.«
»Sehr gut. Hast du das von Semy?«
Schierer, weißlodernder Hass erfüllte ihr Herz. Ein vertrautes Brennen sickerte in ihr Blut und der altvertraute Geschmack der Wut breitete sich in ihrem Mund aus. Scharf, klar, auf einmal funktionierte ihr Kopf wieder. Die Wut durchdrang ihren Körper, Hand in Hand mit dem pochenden Schmerz.
»Anastazja Kowalski«, sagte er leise. »Tochter von Danek Kowalski, einem politischen Aktivisten, der während der Zeit vor der Solidarność in Polen gefangen genommen und getötet wurde.«
Ein Großvater. Ich hatte einen Großvater, und sein Name war Danek Kowalski.
Angie konzentrierte sich verbissen auf diese Nachricht. Sie hatte eine Familie. In Europa. Sie würde aus diesem Raum hinauskommen, hinaus aus diesem Gefängnis ihrer Vergangenheit. Sie würde den Rest ihrer Familie finden. Sie würde sie wissen lassen, was aus Ana geworden war.
»Ana hat mir gesagt, dass ihre Mutter gestorben ist, als sie noch klein war«, sagte er, der Blick seiner grauen Augen durchbohrte sie. »Ihr Vater hat sie allein großgezogen. Sie war vierzehn, als in Polen die Gewalt ausgebrochen ist und man ihren Vater fortbrachte. Da haben die Menschenhändler sie gekriegt. Hier, siehst du?« Er griff nach einem gerahmten Foto, das auf dem kleinen Tisch neben dem Bett stand. Er hielt es ihr hin.
»Nimm es.«
Angie griff danach und starrte es an. Eine junge Frau blickte ihr entgegen. Kaum sechzehn. Ein großer, runder Bauch. Sie sah ihr, als sie selbst noch ein Teenager gewesen war, zum Verwechseln ähnlich – abgesehen von dem langen, dunklen, welligen Haar und dem Olivton ihrer Haut. Tränen sammelten sich in Angies Augen. Sie begann zu zittern.
»Ich dachte, du würdest vielleicht gern noch mal die alten Fisch- und Krabbenkäfige sehen, bevor wir Lebewohl sagen.« Er hielt kurz inne. »Roksi.«
Ihr Blick huschte wieder zu ihm. »Lebewohl?«, flüsterte sie. Tränen verwischten ihre Sicht und ließen sein großes Gesicht verschwimmen.
»Eine Familienwiedervereinigung, sozusagen. Ich glaube, es ist passend, dass dein Leben hier endet, wo deine Mutter und deine Schwester gestorben sind. Denn siehst du, meine Roksana, alles kehrt immer zum Anfang zurück.« Mit der fleischigen Hand malte er sanft einen Kreis in die Luft. »So soll es sein. Aber dieses Mal« – er lächelte – »kann kein Fuß davontreiben.«
Angie würgte. Sie versuchte aufzustehen, aber da drehte sich wieder alles um sie herum. Hart sackte sie gegen die Wand, schwer atmend. »Was … was hast du ihnen angetan? Wie hast du sie getötet?«
»Komm, ich zeige es dir.« Er hielt ihr die Hand hin. »Es ist Zeit.«
Sie konnte sich nicht bewegen. Sie würde sich übergeben, ohnmächtig werden – sie durfte nicht wieder das Bewusstsein verlieren. Sie musste gegenwärtig bleiben, dagegen ankämpfen.
Sein Lächeln verschwand. Sein Blick wurde hart. Er nahm ihr das gerahmte Foto vom Schoß und stellte es wieder auf den Nachttisch. Dann sprang er auf die Füße und zog eine Pistole hinter dem Rücken hervor. Mit dem Lauf zielte er auf sie und ruckte ihn dann leicht in Richtung Tür. Ihr Vater war groß – deutlich über ein Meter achtzig. Gebaut wie ein Holzfäller. Gewaltige Oberschenkel. Bauchmuskeln, die steinhart sein mussten. Brustmuskeln, die sich unter seinem Hemd bewegten, und Bizepse, die seine Hemdsärmel spannten. Olyeg Kaganov mochte Mitte sechzig sein, aber ihr Vater war immer noch ein wahrer Goliath.
»Na los. Steh auf. Beweg dich. Wir machen einen kleinen Spaziergang durch den Wald, wo du gern mit Mila gespielt hast.«
Der Klang des Namens ihrer Schwester jagte wie ein Stromstoß durch ihren Körper. Angie sah ihm fest in die Augen, während sie ganz langsam die linke Hand nach hinten schob und in der hinteren Tasche ihrer Jeans nach etwas tastete.
»Mach dir keine Mühe«, sagte er. »Ich habe dein Handy. Und das kleine Messer.«
Als er sich zur Seite drehte, erblickte sie sein Messer – eine riesige Jagdklinge an seinem Gürtel.
Er umfasste ihren Oberarm und zog sie auf die Füße. Sie keuchte, ihre Augen tränten vor Schmerz. Aber sie weigerte sich, aufzuschreien. Von Nahem konnte sie ihn erst richtig riechen – und sie erinnerte sich an seinen Geruch, so wie sich ein Beutetier an den Geruch des Räubers erinnert, der es jagt. Ein Geruch, den sie als Kind zu fürchten gelernt hatte. Er versetzte ihr einen Stoß, und sie stolperte auf die Tür zu. Auf dieselbe Tür, die sie mit Alex’ Zauberschlüssel geöffnet hatte. Nur hatte sie jetzt keinen Schlüssel, kein besonderes Wort, das sie nur auszusprechen brauchte, um zurück in Alex’ sicheres Wohnzimmer zu gelangen.
Kaganov griff nach der Türklinke und stieß die Tür weit auf. Geblendet blinzelte sie in die Helligkeit und versuchte sich zu orientieren.
»Geh.« Er stieß ihr den Lauf der Pistole in den unteren Rücken. »Da entlang, dem Pfad nach in den Wald hinunter.«
Sie versuchte, immer einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber sie geriet ins Stolpern und wäre fast auf die Knie gefallen. Angie blieb stehen. Schwer atmend richtete sie sich wieder auf, dann versuchte sie noch einmal, dem unebenen und gewundenen Pfad zu folgen, der vor ihr lag. Als sie in den Schatten der Bäume traten, wurde der Boden unter ihren Füßen federnd, er war moosüberwachsen. Hoch oben hörte sie das Brummen eines Flugzeugs und sie blickte blinzelnd zum Himmel hinauf. Eine kleine Propellermaschine mit Schwimmern flog durch den weißgrauen Himmel, dann verschwand sie hinter den Baumwipfeln, ohne dass dort oben jemand ahnte, was sich im Wald hier unten abspielte.
Der Pfad führte in einen Wald aus alten Zedern, die turmhoch um sie aufragten. Die Äste hingen tief herab, Baumrinde blätterte in roten Fetzen von den Stämmen, die so breit waren, dass sie nicht einmal von zwei Männern mit ausgebreiteten Armen umfasst werden konnten. Moos und bunte Flechten wuchsen auf Felsen. Angie blieb stehen, als der Gesang einer Frau durch den Wald an ihre Ohren drang.
Kleine Beeren, schwarze Beeren, zwei graue Kätzchen …
Die Bäume über ihr wankten im Wind. Zweige raschelten. Das war es. Das war der Ort. Milas und ihr Ort.
Ein Kind lachte. Angie fuhr herum. In den Schatten der Zedern erhaschte sie etwas Rosafarbenes. Da war das kleine Mädchen, es spähte um einen dicken Baumstamm herum und ihr langes rotes Haar fiel ihr über die Schulter. Das Mädchen lächelte.
»Mila?«, flüsterte Angie und hielt dem Mädchen die Hand hin. Aber die Kleine duckte sich hinter den Stamm und verschwand im Wald.
Kaganov lachte. »Ja, hierhin hat Semy euch immer zum Spielen gebracht.«
Gewinn Zeit. Körperlich kannst du es nicht mit ihm aufnehmen. Du hast keine Waffe. Du musst deinen Verstand einsetzen – etwas anderes hast du nicht. Spiel mit. Gewinn Zeit, damit du dir etwas einfallen lassen kannst.
Sie drehte sich zu ihm um. Turmhoch ragte er über ihr auf, und sie versuchte, nicht auf die Pistole zu blicken, die auf ihre Brust gerichtet war, oder auf das Messer an seiner Hüfte. Stattdessen konzentrierte sie sich auf seine Augen.
»Wer ist Semy für dich?«, fragte sie. Mein Vater hat Stolz. Er hat mich hergebracht, damit ich ihn sehe, damit ich beeindruckt bin, ehrfürchtig, damit ich mich vor ihm fürchte. Er ist ein Narzisst, der angeben will. Um seinem Ego zu schmeicheln.
»Mein Cousin von der Seite der Familie aus Little Odessa«, antwortete er. »Mit deinem Besuch bei ihm im Kelvin hast du sein Todesurteil unterschrieben. Genau wie bei Milo Belkin.«
»Wie meinst du das?«
Halbherzig zuckte er mit einer massigen Schulter. »Ich musste sie töten lassen. Lose Fäden. Jetzt muss ich sie verknüpfen, da du angefangen hast, alles aufzutrennen.«
»Sie sind tot?«
Ein träges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Dieser Scheißkerl genoss es auch noch. Spiel mit, Angie, spiel mit ihm.
»Wie … wie hast du davon erfahren?«
»Ich habe Kontakte. Insider.«
»Und die haben dir davon erzählt, dass ich Semy und Milo besucht habe?«
»Nein. Semy hat mich angerufen und es mir erzählt. Er hat es getan, damit seine Familie weiterhin in Sicherheit ist, obwohl er wusste, dass ihn dieser Anruf umbringen würde. Und dich. So sehr hat der Mistkerl seine Familie geliebt.«
Da begriff Angie. »Dann warst du das – du hast den Tod von Stirling Harrison und seiner Frau befohlen. Ich habe gedacht, sie mussten sterben, damit Semy auf Bewährung rauskommt. Aber jetzt verstehe ich – du wolltest, dass der Bewährungsausschuss ihn weiterhin als Bedrohung mit Bandenverbindungen betrachtet. Du wolltest , dass er so lange wie möglich hinter Gittern bleibt.«
Er stieß ein leises Schnauben aus. »Milo und er. Die beiden haben mir nur Ärger gemacht in einer Zeit, in der ich versucht habe, das Geschäft aufzubauen. Ich habe sie ins Gefängnis gesteckt, als Warnung für die anderen.«
»Wie haben sie dir Ärger gemacht?« Lass ihn weiterreden. Er geht darauf ein.
»Milo war einfach zu dumm – eine Schwachstelle. Semy war zu weich.« Kaganovs Züge verdunkelten sich. »Er hat Ana und euch beide zu gerngehabt. Er hat euch diese Schuhe geschenkt – von denen einer jetzt angespült wurde. Bevor sich die Gelegenheit ergeben hat, Semy in diese Drogenrazzia zu verwickeln, habe ich ihn gezwungen zuzusehen, was ich mit der kleinen Mila und deiner Mutter gemacht habe. Weil es seine Schuld war. Weil ich wegen ihm dazu gezwungen war, Ana und Mila zu töten. Er hat mich eine Menge Geld gekostet.«
Hass trübte Angies klare Sicht. Begleitet von dem vertrauten heißglühenden Zorn.
Konzentrier dich. Konzentrier dich. Lass nicht zu, dass dich die Wut blind macht.
»Es hat Semy für den Rest seines Lebens nicht mehr losgelassen – Mila und Ana sterben zu sehen. Ich glaube, deshalb hat er seine eigene Tochter Mila genannt. Sie wurde geboren, kurz bevor er ins Gefängnis musste. Aber jetzt reicht es mit dem Gerede. Vorwärts.«
»Die gefundenen Drogen hatten einen Straßenwert von mehreren Millionen. Ein großes Opfer, nur um deinen Cousin ins Gefängnis zu bringen.«
»Ich habe einen Tipp von einem Doppelagenten bekommen, dass das VPD schon von der Lieferung wusste. Die Lieferung war unsauber. Wir hätten die Drogen sowieso verloren. Also habe ich die Mannschaft ausgetauscht und Semy und Milo mitgeschickt. Weiter!«
»Nein.« Sie blieb stehen, die Hände in die Hüfte gestemmt, ihr Verstand wurde nun rasch härter, klarer. Aus dem Augenwinkel registrierte sie, dass diverse Waldwege von der Lichtung führten. Mögliche Fluchtrouten. »Erzähl mir erst, was in dieser Nacht vor der Engelskrippe passiert ist. Wie konnten wir Semy und Milo entkommen? Warum war es ihre Schuld?«
Er leckte sich über die Lippen.
»Komm schon, Oly, dafür hast du mich doch extra hergebracht.« Der Name dieses Mannes hinterließ einen sauren Geschmack in ihrem Mund. Der Name ihres Vaters. »Das kann nicht ganz leicht gewesen sein. Also, warum die Eile? Warum sagst du mir nicht, was an jenem Heiligabend passiert ist, bevor ich sterbe?«
Er holte tief Luft, ein Anflug von Belustigung im Mundwinkel. »Semy und Milo und noch ein anderer Mann – Ivanski – sollten auf Mila und dich und deine Mutter aufpassen. Und auf zwei weitere Frauen. Ihr habt euch in einer Wohnung in der Stadt befunden, während wir auf die Nachricht unserer Kontaktleute am Hafen gewartet haben, dass man euch auf ein Schiff bringen konnte.«
»Auf was für ein Schiff?«
»Der Anfang eurer Reise nach Saudi-Arabien. Ich habe euch an einen Prinzen dort verkauft, für seinen Harem. Zu einem Spitzenpreis. Er wollte Mila und dich schon sehr früh heranziehen. Ich habe Ana als Betreuerin in den Handel eingeschlossen. Dann, während ihr alle in dieser Wohnung auf das Signal gewartet habt, haben die Männer am Heiligabend ein bisschen viel getrunken. Ihnen ist der Wodka ausgegangen. Deine Mutter hat ihre Chance erkannt. Sie ist zu Semy gegangen, der anfällig für ihren Charme war. Viel zu anfällig.«
»Er hat sie geliebt, nicht wahr?«
Olys Miene wurde dunkel, wodurch seine Augen eisgrau erstrahlten wie die eines Wikingerkriegers. Aber er ging nicht auf ihre Frage ein. Was ihr verriet, dass sie recht hatte. Nun wusste sie, warum Semy bestraft worden war – sie kannte den wahren Grund, warum ihr Vater der Polizei einen Tipp wegen der Drogen zugespielt hatte. Warum Semy dazu gezwungen worden war zuzusehen, wie dieser rote Mann Mila und Ana tötete.
»Ana schlug vor, dass Semy zum Wagen gehen und noch mehr zu trinken kaufen fahren sollte. Die Männer haben sich gelangweilt. Sie hatten tagelang in der Wohnung festgesessen. Semy hat zugestimmt. Sobald er weg war, hat Ana die Tür verriegelt, so getan, als wäre sie selbst betrunken, und Ivanski und Milo ermutigt, den restlichen Wodka zu leeren. Dann hat sie sich ihnen angeboten. Sie hatte mit beiden Sex. Als sie dann allmählich weggedämmert sind, hat Ana euch zwei aus dem Nachbarzimmer geholt und ist geflohen.«
Die Spermaspuren auf ihrer lila Strickjacke. Keine Zeit, mir die Schuhe anzuziehen, während wir durch den Schnee gerannt sind, wo uns die alte Chinesin aus dem Pink Pearl gesehen hat.
»Was ist mit den anderen beiden Männern, die dort waren?«
»Die waren im Nebenzimmer. Völlig hinüber. Haben nichts mitgekriegt.«
»Dann waren es Milo und Ivanski, die uns gejagt haben?«
»Semy ist gegen Mitternacht zurückgekommen. Er hat gesehen, wie Milo und Ivanski euch über die Straße in diese Gasse gejagt haben. Er hat gehalten, Schüsse gehört und gesehen, wie deine Mutter mit beiden gekämpft und versucht hat, dich und deine Schwester in die Babyklappe zu schieben. Milo hat dir das Gesicht zerschnitten, als er Ana erstechen wollte. Er wusste, dass ihr Zwillinge die wertvolle Ware wart. Ana war entbehrlich. Aber sie hat sich gewehrt, und so hat Milos Messer dich im Gesicht erwischt. Sie hat es geschafft, dich in die Babyklappe zu stoßen. Semy ist zum anderen Ende der Gasse gefahren, und da haben die Kirchenglocken angefangen zu läuten und die Leute kamen heraus. Milo und Ivanski haben Ana und deine Schwester gepackt und sie zu Semy und dem Wagen gezerrt. Aber du …« Er schnalzte tadelnd mit der Zunge und versuchte wieder, ihre Narbe zu berühren. »Du warst diejenige, die entkommen ist. Nur dieses Kennzeichen ist dir geblieben.«
Rasch wich sie seiner Berührung aus. Seine Augen wurden schmal und die Muskeln an seinem Hals spannten sich. Wut färbte seine Wangen rot.
Mach es jetzt nicht kaputt. Gewinn Zeit, gewinn Zeit. Angie zwang sich dazu, stehen zu bleiben.
»Warum hast du uns verkauft? Deine eigenen Kinder? Warum hast du uns überhaupt zuerst bei dir behalten?«
Er zuckte gereizt mit den Schultern. »Ich habe eine Frau. Ana war nur zum Vergnügen da. Die Saudis sind zu Besuch gekommen und haben euch beide gesehen. Kleine Zwillingsrotschöpfe. Taufrisch. Ihr habt einem Mann gefallen, der genug Geld hat, um sich kleine Länder zu kaufen. Er hat mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen konnte. Und jetzt geh weiter.« Er winkte mit der Pistole. »Oder ich töte dich hier an Ort und Stelle.«
Angie drehte sich um und ging langsam weiter, während sie fieberhaft nachdachte. Langes Gras, taufeucht, durchnässte den Saum ihrer Jeans. Wasser tropfte von den Bäumen. Der Geruch nach feuchter Erde und Moos umwaberte sie dicht und vertraut. Sie war den ganzen Weg zu diesem Ort zurückgekehrt, der in ihrer Erinnerung verankert war. Milas Fuß hatte sie hergeführt. Der Kreis hatte sich geschlossen. Sie war wieder hier, wo ihre Schwester und ihre Mutter ihr Leben verloren hatten. Angie hatte endlich die Wahrheit gefunden, und nun würde auch sie sterben.
Als sie weiterging, sah sie ein Gebäude zwischen den Bäumen auftauchen. Es war groß. Aus Baumstämmen erbaut. Mit einem grünen Dach. Ein Helikopter stand auf einem winzigen Landeplatz daneben. Damit musste man sie hergebracht haben. Eine alte Frau in Schwarz sah durch die Fenster zu ihnen herüber. Angie blieb stehen, ihr Herz schlug schneller.
»Meine Mutter«, sagte Kaganov und gab der Frau ein Zeichen, um sie vom Fenster zu verscheuchen. »Mütter sind wichtig, nicht wahr, Roksana?«
Die Wut in ihr schwoll an. Böse – er war das reine Böse, und er genoss es. Sie fuhr zu ihm herum, aber er hob die Hand und schlug ihr mit dem Kolben der Pistole hart ins Gesicht. Schmerz explodierte in ihrer Wange. Sie stolperte zur Seite, beugte sich vor und drückte sich die Hand aufs Gesicht. Blut sickerte zwischen ihren Fingern hindurch. Sie konnte es riechen, es schmecken – ihr eigenes Blut. Bevor sie sich wieder fassen konnte, trat er ihr gegen die Beine, woraufhin sie wieder zur Seite wegstolperte.
»Geh, habe ich gesagt. Weiter. Wir müssen auf die andere Seite der Insel kommen. Bis zum Mittagessen muss ich wieder bei meinen Gästen sein.«