KAPITEL 14
Tonya lenkte den Wagen am Campingplatz von Blåvand vorbei und bog in den Hvidbjerg Strandvej ein. Wenig später fuhren sie auf einer mit Schlaglöchern versehenen Schotterpiste bis zu einem reetgedeckten roten Backsteingebäude mit weißen Tür- und Fensterrahmen. Weinrosen und Bibernellrosen gaben sich hier ein munteres Stelldichein. Ihre roséfarbenen und weißen Blüten wurden von den ersten Sonnenstrahlen liebkost, die in diesem Augenblick über die Fichten und Kiefern strichen. Tonya stieg aus und streckte sich dem frühmorgendlichen blauen Himmel entgegen. Die frische Luft schmeckte salzig, das Kreischen einiger Sturmmöwen hieß sie an der Nordsee willkommen. Über die mit Dünengras bewachsenen Sandhügel hinweg konnte sie das leise Rauschen der See hören, was ihr verriet, dass das Haus kaum mehr als fünfzig Meter vom Strand entfernt lag.
Als sie ein Geräusch hinter sich hörte, drehte sich Tonya um. Die mit kleinen Glasscheiben bestückte weiße Eingangstür schwang auf und eine Frau, die Tonya auf Anfang fünfzig schätzte, musterte ihre blau und grün unterlaufene Gesichtshälfte. Die Frau trug Reithosen und -stiefel zu einer cremefarbenen Bluse und hatte das blonde Haar zu einem Knoten aufgesteckt. Nach einer ersten bestürzten Reaktion auf Tonyas Äußeres lächelte sie vergnügt.
»Dass ich es noch mal erleben darf, dass Jakob ein Mädchen mitbringt!«, feixte sie und konnte ihren schwäbischen Dialekt nicht verbergen.
»Ich fürchte, auf dieses Mädchen müssen Sie noch länger warten. Ich bin eine Kollegin.«
»Warum nur hatte ich das befürchtet?« Die Frau trat zu ihr und streckte ihr nahezu ruckartig ihre Rechte entgegen. »Doris Poulsen. Seit achtundzwanzig Jahren in Dänemark, der Liebe wegen. Nenn mich bitte Dodo.«
»Hallo, Dodo, ich bin Tonya.«
»Herzlich willkommen, Tonya. Ich hoffe, du kannst deinen Urlaub hier genießen.«
»Ja, das hoffe ich auch«, antwortete Tonya und hatte selten einmal etwas ernster gemeint. Sie hoffte wirklich sehr, hier endlich zur Ruhe zu kommen.
Jake kam herüber und ließ sich von der stämmigen Frau, die nur wenig kleiner war als er selbst, kräftig umarmen.
»Leider muss ich sofort los und mit ein paar Touristenmädchen einen Strandritt unternehmen.« Sie drückte Jake einen Schlüsselbund in die Hand, winkte Tonya kurz zu und joggte dann über den Weg davon.
»Dodo und ihr Mann wohnen hier. Sie ist Pferdewirtin, er Lehrer, und nebenbei betreuen sie die beiden Ferienwohnungen oben und haben in ihrer Frühstückspension vier Gästezimmer. Wenn du dir dein Frühstück nicht selbst zubereiten möchtest …« Jake deutete auf den halbrunden Erker direkt vor den ersten Dünen. Hinter seinen bodentiefen Fenstern konnte sie einen großen runden Tisch und hochlehnige Stühle erkennen.
Jake betrat das Haus und sie folgte ihm zügig. Während der Flur, von dem einige Türen abgingen, geradeaus führte, nahm Jake gleich links neben dem Eingang eine steile Treppe nach oben. Über sie gelangten sie in einen kleinen Raum mit Schuhregalen und einer Garderobe. Jake schloss die rechte der beiden abgehenden Türen auf und ließ Tonya den Vortritt. Verblüfft hob sie die Augenbrauen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Ferienwohnung aus nur einem einzigen großen Raum bestand, einmal abgesehen von einer schmalen Tür gleich links, hinter der sie das Bad vermutete. Der dunkle Schiffsboden bildete einen warmen Kontrast zu den weiß lasierten Holzwänden, den weißen Möbeln und der sich über die gesamte Breite ausdehnenden Fensterfront. Hinter dieser umkleidete eine halbrunde Brüstung den Balkon, der oberhalb des Erkers mit dem Frühstückszimmer lag. Rechts gab es eine Sitzecke, links in einer Nische, halb versteckt hinter einem hellblauen Vorhang und einem Kleiderschrank, konnte Tonya ein Bett sehen. Dahinter, direkt vor der Panoramascheibe, stand ein Tisch mit vier bequem aussehenden Stühlen.
An den Wänden über der Couch und neben der Tischgruppe hingen zwei große Keilrahmen mit je einem abstrakten Gemälde, die aber beide erfreulich klar das Meer, die Dünen, Segelboote und den viereckigen weißen Leuchtturm von Blåvand erahnen ließen.
»Die Bilder sind von meiner Schwester«, erläuterte Jake, als er Tonyas Interesse bemerkte.
»Sie sind toll. Ich liebe die kräftigen Farben. Und die Gelassenheit, die beide Bilder ausstrahlen.«
»Es wird sie freuen, das zu hören.«
»Bist du auch so künstlerisch begabt?« Interessiert wandte sich Tonya zu Jake um. Er lehnte lässig im Türrahmen und wollte die Wohnung offenbar nicht betreten.
»Sicher. Ich habe die Ein-Kreis-und-fünf-Striche-Strichmännchen nahezu perfektioniert.«
»Du hast meine Bewunderung!« Tonya lachte und ging auf ihn zu, da sie ihren Trolley aus dem Auto holen wollte.
»Denkst du, du kannst es hier eine Weile aushalten?«
»Es ist ein Traum, Jake. Vielen Dank, dass du und deine Familie mir diese Wohnung zur Verfügung stellt.«
»Gerne. Ich hole mal dein Gepäck.«
»Das kann ich doch selber.« In diesem Moment klingelte ihr Smartphone. Jake deutete mit dem Kinn an, dass sie bleiben und das Gespräch entgegennehmen sollte, ehe er sich umwandte und gleich darauf die Stufen hinunterpolterte.
Thomas’ Gesicht auf dem Display verriet ihr, wer etwas von ihr wollte.
»Hey, Tom«, meldete sie sich. Sie ging zur Fensterfront, öffnete die Balkontür und trat hinaus. Über die Dünen hinweg konnte sie das Meer sehen, die silbernen Diamanten, die die Sonne den Wellen entlockte, und einige frühmorgendliche Surfer.
»Bist du gut da oben angekommen?«
Tonya bejahte. Offenbar wusste ihr Bruder, wohin Jake sie gebracht hatte.
»Doch, es ist sehr schön hier. Gemütlich.«
»Fein. Jake hat mir versprochen, dass du dich da wohlfühlen kannst. Und sicher.«
Tonyas Blick glitt über den menschenleeren weißen Sandstrand zu einem unbebauten Landstrich, der ein Natur- oder Vogelschutzgebiet sein mochte. Erst in einiger Entfernung entdeckte sie ein weiteres Gebäude. Dodos Haus lag abseits des Touristenzentrums, wenngleich tagsüber vermutlich unzählige Menschen den Strand bevölkerten. Aber Tonya würde nur eine von vielen Sommerurlaubern an der dänischen Nordsee sein. Zumindest aus Sicht der anderen.
»Das mit dem Sicherfühlen könnte tatsächlich klappen.«
»Das ist schön. Komm ein bisschen runter, ruh dich aus, ja?«
Tonya nickte lediglich, hörte sie im Hintergrund doch eine weibliche Stimme.
»Hast du Besuch? Oder bist du schon bei der Arbeit?« Ein Blick auf die Wanduhr verriet ihr, dass es noch nicht einmal sieben Uhr war.
»Delia ist vorbeigekommen und hat mir Frühstücksbrötchen gebracht. Sie ist auf dem Weg zu irgendeinem Meeting.«
Tonya atmete tief ein und möglichst leise wieder aus. Thomas sollte nicht bemerken, wie schwer es ihr fiel, die beiden zusammen zu wissen. Dennoch fragte sie: »Du triffst sie zurzeit öfter?«
»Wir telefonieren viel und ja – wir sehen uns ab und zu. Ist das ein Problem für dich?«
»Nein. Ich weiß nicht. Nein, denn ich will nicht, dass es ein Problem ist.«
Thomas schwieg, weshalb Tonya erneut Delias Stimme hören konnte. Schließlich fragte ihr Bruder: »Sie möchte kurz mit dir sprechen. Ist das in Ordnung?«
»Natürlich.« Tonya lehnte sich an die Brüstung und beobachtete die Flugkünste einiger Möwen.
»Hallo, T. Wie geht es dir?«
»Gut soweit.«
»Tom hat mir erzählt, was passiert ist. Es tut mir so leid. Ich würde verrückt werden vor Angst. Aber es ist doch gut, dass du einen Bruder hast, der bei der Polizei arbeitet.«
»Ich weiß mich schon zu behaupten.«
Von Delia kam ein leises Lachen. »Nichts anderes habe ich von dir erwartet. Dennoch wünsche ich dir, dass das ganz schnell aufhört. Und dass es dir gut geht.«
»Danke.« Tonya schüttelte über sich selbst den Kopf. Delia war ein herzensguter Mensch. Jemand, der sich glücklich schätzen würde, einen Mann wie Thomas in ihrem Leben zu haben. Und eigentlich sollte sie selbst das fördern, zumindest könnte Thomas seinen Beschützerinstinkt dann völlig auf Delia konzentrieren. Damit wäre sie selbst – nach Timo, der ja jetzt Sandra und die Kinder hatte – einen der viel zu besorgten Männer aus ihrer Familie los. Allerdings würde Thomas Delia bald verraten müssen, dass er nicht einfach nur bei der Polizei arbeitete. Das konnte noch kritisch werden … Tonya konnte nur hoffen, dass sie keine Schwierigkeiten damit haben würde, von Thomas nur Halbwahrheiten aufgetischt bekommen zu haben.
»Ich wünsche dir eine erholsame Zeit, etwas Spaß und –« Delia verstummte und lachte dann seltsam gepresst auf. »Mensch, jetzt fehlt mir das Wort. Vielleicht brauche ich noch einen Kaffee.«
Tonya schmunzelte. Offenbar waren sich auch Delias und Thomas’ Kaffeekonsum recht ähnlich. Die beiden konnten wirklich gut zusammenpassen.
»Ich kenne das. Man weiß genau, was man sagen möchte, und plötzlich ist das Wort weg. Kürzlich fiel mir einfach das Wort Mango nicht ein. In meinem Kopf war klar, dass es mit M anfängt, doch immer geisterte Magnolie darin herum. Die stand da wie ein Baum, der das richtige Wort vor mir verbarg.«
Delia stimmte in ihr Lachen ein. »Ich sag es dir dann morgen.«
»Okay. Aber ich denke, ich habe dich auch so verstanden und danke dir dafür.«
»T, wenn es dir unangenehm ist, dass ich mich ab und zu mit Thomas treffe –«
»Nein, nein«, beeilte sich Tonya zu beteuern. »Es ist nur … neu. Ein wenig ungewohnt vielleicht. Eigentlich finde ich es großartig. Aber etwas in mir tut sich damit auch ein wenig schwer«, gab sie schließlich zu.
»Danke für deine Ehrlichkeit. Du weißt, wie sehr ich eure ganze Familie schätze.«
»Es ist gut, Delia. Wirklich.«
»Es heißt auch noch nichts. Wir telefonieren und treffen uns ja nur selten«, schwächte Delia noch einmal ab. Tonya beruhigte sie erneut, fragte sich dabei allerdings, ob ihr Bruder das Ganze ebenso locker sah wie Delia. Ob er, was seine Gefühle für ihre frühere Nachbarin betraf, nicht schon deutlich weiter war, als sie es offenbar empfand?
»Ich gebe ihn dir wieder. Alles Gute dir.«
»Danke.« Tonya wartete, bis sich Thomas mit einem leisen Räuspern meldete. »Gibt es etwas Neues von Hoss? Oder von der Spurensicherung?«
»Zweimal nein, tut mir leid. Wie du weißt, hat in dem Haus vor kurzem eine Hochzeit stattgefunden, es gibt viel zu viele Spuren, die abgeglichen werden müssen.«
»So ein Mist.«
»Lass das unsere Sorge sein. Bitte, T. Du hast furchtbar ausgesehen. Genieße deine Auszeit.«
Wieder warf Tonya einen Blick auf das im leichten Wind bewegte Dünengras, die spiegelnde Meeresoberfläche und die winzigen Wolken, die träge über den tiefblauen Himmel zogen. Die Weite und das stete Rauschen hatten eine überaus beruhigende Wirkung auf sie.
»Das werde ich bestimmt.«
»Benimmt sich Jake anständig?«
»Ach komm schon, großer Bruder.«
»Hey, das zu fragen ist mein Job.«
»Er wird ja später wieder zurückfahren und hat deshalb keine Chance, sich nicht anständig zu verhalten.«
»Also hör mal …« Thomas zögerte kurz, ehe er fortfuhr: »Dir ist schon klar, dass Jake Urlaub hat. Und dass er sich bereit erklärt hat, diesen zu opfern, um auf dich aufzupassen, weshalb Gotthilf mit unserem Chef im Gespräch ist, ob Jake einen Teil seines Urlaubs später erstattet bekommen soll.«
»Und das heißt?« Tonya hätte die Frage am liebsten zurückgenommen, stand ihr die Antwort doch klar vor Augen: Jake würde hierbleiben.
Unwillkürlich wanderte ihr Blick zur Eingangstür, wo der Inhalt ihres Gesprächs lehnte. Ihren Trolley und den Rucksack hatte er neben sich abgestellt. Sie hatte ihn nicht kommen hören, wusste demnach nicht, wie lange er schon dastand und ihr Telefonat mit anhörte.
»Es gibt hier nur ein Bett und eine viel zu kleine Couch. Jake wird definitiv nicht hierbleiben. Oder ich nicht. Ihr könnt es euch aussuchen.«
»Hm. Gib ihn mir mal.«
»Woher willst du wissen, dass er hier ist?«
»Weil du gesagt hast, dass wir es uns aussuchen können. Damit hast du ihn eingeschlossen.«
»Blöde Ermittler, die auf jedes blöde Detail achten«, nuschelte Tonya vor sich hin.
»Ich liebe dich auch, T. Jetzt gib mir mal den Kerl, der meint, er könnte meine kleine Schwester in eine Wohnung entführen, in der es nicht wenigstens ein separates Zimmer gibt.«
»Gerne! Ich gebe ihn dir sehr, sehr gerne!« Tonya ging grinsend auf Jake zu. Er sah ihr mit gerunzelter Stirn entgegen. Sie drückte ihm das Telefon gegen die Brust und ließ es los, kaum dass seine Hand sich dem Gerät näherte, sodass er es schnell auffangen musste. Dann ließ sie ihn demonstrativ stehen, ohne ihr Gepäck zu beachten. Auf der Treppe hörte sie noch, wie Jake sagte: »Was denkst du denn von mir? Ich habe ein Zimmer im Erdgeschoss. Und vor dir habe ich schon mal gar keine Angst, Wieland.«
»Sie sind zu sechst, Jake. Und vergiss meine Ninja-Schwester nicht!«, rief Tonya hinauf und verließ das Haus, ehe Jake die Zeit fand, die Treppe hinunterzueilen.
fleuron
Jake entdeckte Tonya ein gutes Stück entfernt und joggte los. Dabei machte er sich Gedanken darüber, wie viele Männer, die Interesse an ihren Schwestern gezeigt hatten, die Wielandbrüder bereits vertrieben haben könnten, womöglich ohne dass Tonya und Lana je etwas davon erfahren hatten. Tonyas Aversion gegen einen Beschützer konnte er mittlerweile in zweifacher Weise nachvollziehen. Allerdings war er nicht so leicht einzuschüchtern. Vielmehr kam ihm Thomas’ bedrohliches Gehabe und das seiner Brüder sogar entgegen, denn dadurch war Tonya jetzt noch zu haben.
Er legte an Geschwindigkeit zu und fragte sich, ob Tonyas Singledasein nicht zuletzt darin begründet lag, dass sie sich erst in ihren Studien und dann in ihrer Arbeit vergraben hatte. Weil sie so den Schmerz über den Verlust ihrer ersten Liebe hatte verbuddeln können? Das Gefühl, für Dennis’ Tod mitverantwortlich zu sein? Es war kein leichtes Gepäck, das diese Frau sich auf die zarten Schultern gebunden hatte.
Nun kamen auch noch die diffusen Angriffe auf sie hinzu. Jene Geschehnisse jeweils zu Beginn eines Monats, die ihr die Hunde, das Zuhause und ihren gewohnten Alltag geraubt hatten. Ebenso hatte sie die Sorge um lieb gewonnene Menschen – wie ihre Vermieter – aufgeladen bekommen. Und die Angst um ihr eigenes Leben.
Ob sie sehen konnte, dass sie dadurch einen Freund gewonnen hatte? Einen, der bereit war, auf sie aufzupassen, das gemeinsam mit ihr durchzustehen? Mich. Und wenn du es zulässt, wäre ich gern mehr als nur ein Freund.
Drei Männer, die gerade ihre Surfboards an die Wasserlinie trugen, blieben abrupt stehen und schauten Tonya hinterher. »Sorry, Jungs, die ist nichts für einen Urlaubsflirt«, brummte er vor sich hin. Gleich darauf joggte er in ihrem Rücken vorbei und erreichte Tonya, als sie ihre Schuhe auf die algenbewachsenen feuchten Steine einer Buhne ablegte und auf diese hinaufkletterte.
Die Wellen schwappten um die Ansammlung von Findlingen und warfen das Sonnenlicht unruhig zurück, sodass Tonya von eigentümlichen Lichtblitzen beleuchtet wurde. Jake blieb neben ihren Schuhen stehen und beobachtete das Schauspiel aus Licht und Schatten, als sie äußerst geschickt von einem Stein zum anderen sprang oder kletterte. Zweimal rutschte sie beinahe ab, fand aber schnell ihr Gleichgewicht wieder. Man sah ihr an, dass sie früher auf unzählige Bäume geklettert sein musste, über Hecken, Zäune und Gräben gesprungen war und so manch einen Wald unsicher gemacht hatte. Ihr Körpergefühl war perfekt ausgebildet, sodass sie sicher vorne ankam, wo die Wellen kräftiger gegen das Hindernis schlugen und sie mit einem Schleier aus Gischt umgaben.
Jake zog sein Smartphone aus der Hosentasche und knipste einige Fotos von ihr, steckte es aber schnell wieder weg, als sie sich umdrehte und auf den Rückweg machte. Sie blieb auf einem der letzten schwarz schimmernden Steine stehen und blickte mit hochgezogenen Augenbrauen auf ihn herunter. »Du lebst ja noch!«
»Tom muss schon andere Geschütze auffahren, als mich durchs Telefon anzugrunzen, um mich davon abzuhalten, meinen Urlaub mit dir zu verbringen.«
»So, ich mache also Urlaub?« Tonya klang seltsam zurückhaltend. Verletzlich. Das verriet Jake, dass die Ereignisse nicht spurlos an ihr vorübergingen. Er stellte einen Fuß auf den ersten halb versandeten Stein, beugte sich leicht nach vorn und sagte: »Wir können versuchen, dass unser Aufenthalt hier dem so nahe wie möglich kommt. Was denkst du?«
Sie sah ihn an. Lange, schweigend. Reglos stand sie dort oben, während ein sanfter Wind ihre Locken zauste, umspielt von den glucksenden Wellen und jenen eigentümlichen Lichtreflexionen.
Jake wich ihrem intensiven Blick nicht aus, der für ihn nur schwer zu deuten war. Überlegte sie, ob sie ihm vorbehaltlos vertrauen konnte? Nicht im Hinblick auf die Geschehnisse um sie herum, sondern als Freund. Fragte sie sich gerade, ob er jemand war, bei dem sie sich öffnen durfte, bei dem sie sich so geben konnte, wie sie war, wie sie sich fühlte? Vielleicht versuchte sie aber auch, zu ergründen, ob er mehr als eine kameradschaftliche Freundschaft anstrebte und ob sie das zulassen wollte; ob sie noch einmal das Wagnis eingehen konnte, sich zu verlieben?
Trau dich , wollte er sie gern anfeuern, doch er schwieg.
»Urlaub also?« Sie sprang in den feuchten Sand, ergriff ihre Schuhe und deutete mit einem davon auf seine Füße. »Zuerst wirst du diese Geigenkästen ausziehen, die du da an den Füßen hast. Sommer am Sandstrand und Schuhe tragen geht ja mal gar nicht, Herr Kollege.«
Jake kam ihrer Aufforderung nach, presste dabei aber die Lippen zusammen. Sie war zwar bereitwillig auf seinen Vorschlag eingegangen, jedoch mit dem deutlichen Hinweis darauf, was er für sie war. Ein Kollege. Offenbar hatte er ein gewaltiges Stück Arbeit vor sich. Da war es nur gut, dass er Herausforderungen liebte und sie einige Tage an der Nordsee vor sich hatten. Er hoffte, dass das Meer, die Sommersonne und der Sandstrand das ihre dazu beitrugen, dass sich Tonya endlich einmal entspannte. Sie waren fernab von jeglicher Gefahr und würden viel Zeit miteinander verbringen. Vielleicht löste sich hier jene verschorfte Kruste auf ihrer Seele allmählich, ohne dass sie wieder zu bluten begann. Und wenn sie ihm dabei ihr Herz öffnete, hätte er sicher nichts dagegen einzuwenden. Denn in seines hatte sie sich längst hineingeschlichen.
fleuron
Rudi stellte die Musik auf seinem Kopfhörer aus, nahm das monströse Teil vom Kopf und legte es achtlos zwischen zwei leere Tassen, ein angebissenes Brötchen und diversen Kram wie Bleistifte, einen Tischtennisball, einen zerbröselten Radiergummi, einige Münzen und seinen Schlüssel für das Fahrradschloss. Er erhob sich und betrachtete den Arbeitsplatz links von seinem. Tonyas verwaister Stuhl war ordentlich an den Tisch geschoben, die Arbeitsplatte aufgeräumt. Auf der Papierunterlage prangten lediglich ein paar grob hingeworfene Striche – vermutlich hatte Tonya einen Kugelschreiber wiederbeleben wollen – und unansehnliche Kaffeeflecken. Ihre Stifte lagen akkurat aufgereiht in einem länglichen Holzteller, die Hortensien, die er ihr hingestellt hatte, ließen traurig und seltsam farblos die Köpfe hängen. Offenbar fehlte Tonya ihnen genauso wie ihm.
Rudi fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Sie war untergetaucht. Einfach von der Bildfläche verschwunden.
Tonyas Querverbindung, die sie ihm weitergereicht hatte, hatte seinen Recherchen einen maßgeblichen Schub verliehen. In diesem Augenblick lief eine Verhaftungswelle in Karlsruhe, Mainz und Eltville an. Aber auch in Bologna und Turin, an deren strategischer Planung er ebenfalls beteiligt gewesen war. Wenn alles glatt lief, würden sie einen deutsch-italienischen Drogenschmugglerring zerschlagen, der bislang äußerst geschickt unter dem Radar hinweg hatte agieren können, und dabei gleich noch letzte Überreste des Fliegenden Holländers aufwischen. Die Netzwerke der Rivalen hatten so lange funktioniert, bis eine zarte junge Frau mit dunklen Locken und außergewöhnlichen grauen Augen einen winzigen Fussel von ihnen zu sehen bekommen hatte, diesem gefolgt und auf einen roten Faden gestoßen war, den sie Rudi in die Hand gedrückt hatte. Er hatte schließlich entdeckt, nach was er so lange vergeblich gesucht hatte. Zuvor hatte Stefan erfolglos in der Sache gefahndet, bis man ihm den Fall abgenommen und ihm, Rudi, zugeschoben hatte.
Gotthilf fand derlei sinnvoll, ging doch jeder seiner ITler mit einer eigenen Vorgehensweise an eine Aufgabe heran. Ihre Rechercheansätze unterschieden sich. Manchmal, so begründete Gotthilf jene Zuständigkeitswechsel, genügte einfach nur ein neuer Ansatz aus einem anderen Blickwinkel, um wieder Fahrt in die Sache zu bringen. In diesem Fall hatte er recht behalten, wenngleich der entscheidende Hinweis letztlich von Tonya gekommen war, die eigentlich über einem ganz anderen Problem gebrütet hatte.
Rudi wandte sich um und suchte über die Trennwände hinweg den blonden Haarschopf von Feldbruck. Er war nicht da, was um diese Uhrzeit äußerst seltsam war. Ob er Urlaub hatte? Immerhin hatten er und seine Frau Kinder, sodass sie wohl die Schulferien für gemeinsame Reisen nutzen mussten.
Rudi zuckte mit den Schultern und verließ seine Box, um sich eine weitere Milch zu holen. Er würde bleiben, bis die ersten Erfolgsmeldungen von den gerade angelaufenen Einsätzen eintrafen, in die auch Thomas, Tonyas Bruder, und dessen Kollege Karl involviert waren. Schließlich war Rudi begierig darauf, zu erfahren, ob alles glatt lief, ob sie Erfolg hatten – und damit auch er.
Zurück an seinem Arbeitsplatz löffelte er vorsichtig die aufgeschäumte Milch herunter, wobei er mehrmals die übermüdeten Augen zusammenkniff. Vielleicht wäre es doch sinnvoll, wenigstens einmal wieder mehr als nur vier oder fünf Stunden am Stück zu schlafen. Eigentlich hatte er es sich verdient, nachdem er dieses Puzzle gelöst und den Ermittlern da draußen geholfen hatte, ihren Zugriff minutiös zu planen. Jedes Teilchen würde genau zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle eingefügt werden, bis es ein fertiges Bild ergab.
Plötzlich machte sein Notebook links von ihm durch einen leisen Ton auf sich aufmerksam. Er schob die Straßenkarten von Eltville und Karlsruhe auf den benachbarten Bildschirm, ebenso die Bilder einer Überwachungskamera und die Suchanfrage nach einem Motorrad, und landete schließlich auf einer weiteren Landkarte. Ein kleiner roter Punkt blinkte am linken oberen Rand, außerhalb Deutschlands. Er zoomte hin und fand sich in einer dänischen Ortschaft wieder. Mit leicht geneigtem Kopf fragte er sich, wie man den Städtenamen mit dem lustigen Kringel über dem A wohl richtig aussprach. Er versuchte es mehrfach, immer mit einer anderen Betonung: »Blåvand. Blåvand. Blåvand.«