EPILOG
Tonya zwang sich, sich im Sessel zurückzulehnen. Sie nahm intensiv die warme grüne Wandfarbe wahr, den Geruch nach Putzmittel und die Stille, einzig unterbrochen von Delias unregelmäßigem Atem.
Es war schwer für Tonya, hier zu sein und sich dem Gespräch mit Delia zu stellen. Noch schwerer war es allerdings für ihre ehemalige Nachbarin, das hatte Tonya bald nach ihrem Eintreffen bemerkt. Für die Frau, die ihre Schwägerin hätte werden können, wäre damals nicht das Unfassbare geschehen, das fortan ihrer beider Leben beeinflusst hatte.
Delia hatte sie mit einem unglaublich verletzlichen Lächeln begrüßt und ihr für ihr Kommen gedankt. Allein jene wenigen stockend hervorgebrachten Sätze, immer wieder auf der Suche nach den richtigen Worten, hatten Delia restlos erschöpft. Ihr waren die Augen zugefallen.
Das war noch mehrere Male passiert. Jedes einzelne Wort kostete Delia unsagbar viel Mühe und Konzentration, raubte ihr die Kraft zum Atmen, zum Leben. Deshalb hatte Tonya ihr versichert, dass sie dieses Gespräch nicht führen mussten . Da hatte Delia ihr jedoch vehement widersprochen.
So saß Tonya nun seit mehr als zwei Stunden hier. Sie hörte sich an, was Delia ihr sagen wollte und bemühte sich oftmals verzweifelt darum, überhaupt den Sinn hinter dem Gesagten zu verstehen. Zwischendurch beobachtete sie Delia bei ihren erschöpften, aber wenig erholsamen Rückzügen in sich selbst.
Delia hatte von ihrer Verzweiflung nach Dennis’ Tod erzählt. Von ihrer Flucht in den Alkohol, von zwei Entzugskliniken, durch die sie den nicht hilfreichen Tröster, dem schon ihre Mutter verfallen war, endlich besiegt hatte. Sie berichtete von Angstzuständen und Depressionen, vom Scheitern und Wiederaufstehen, nur um erneut zu fallen. Und von ihren Vorwürfen Tonya gegenüber. Weil sie damals Dennis einfach allein gelassen hatte. Weil sie nicht auch gegen diesen Mann gekämpft hatte. Weil Dennis Tonya mehr geliebt haben musste als Delia – denn sonst hätte er sich doch nicht so vehement für sie eingesetzt, um dabei sogar sein Leben zu lassen. Dadurch hatte Delia ihn verloren. Den einzigen Menschen, den sie noch gehabt hatte, schließlich war ihre Mutter zu dem Zeitpunkt schon ein Wrack gewesen.
Tonya schloss die Augen. Völlig neue Schuldgefühle umschlichen ihr Herz. Tonya musste sich der Frage stellen, warum sie sich über all die Jahre nur auf ihren eigenen Schmerz und Verlust konzentriert hatte. Ohne je danach zu fragen, wie es Dennis’ Schwester damit erging.
Sie hatten sich schnell aus den Augen verloren. Weil Tonya aufgrund ihres Studiums ohnehin nicht mehr zu Hause gewohnt und Delia andere Wege eingeschlagen hatte.
Tonya vergrub ihr Gesicht in den Händen. Waren es ihre Schuldgefühle, die sie daran gehindert hatten, sich auch nur einmal zu erkundigen, wie es Delia erging? Wo sie war, was sie tat und wie sie mit dem Verlust zurechtkam? Bis jetzt hatte Tonya immer angenommen – und das sogar beinahe aggressiv verteidigt –, dass Dennis’ Tod ihr Verlust gewesen sei. Heute wusste sie: Sie war einem schlimmen Irrtum aufgesessen.
Bedauernd blickte Tonya in das eingefallene Gesicht ihrer ehemaligen Nachbarin. Von den weichen, kindlichen Zügen von einst war nichts geblieben. Wie auch von dem weichen, kindlich-vertrauensvollen Herzen?
Tonya hatte nicht an Dennis erinnert werden wollen, Delia hatte nicht an Tonya erinnert werden wollen. Doch sie, Tonya, war die Stärkere von ihnen beiden. Diejenige, die zwar ebenfalls einen geliebten Menschen verloren hatte, der jedoch nicht ihr Anker gewesen war, wohl aber der seiner jüngeren Schwester.
Tonya stöhnte leise in ihre Handflächen. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, sich um Delia zu sorgen, sich um sie zu kümmern. Aber sie hatte die Verantwortung von sich geschoben. Weil es einfacher und schmerzloser für sie gewesen war.
Gedanklich wanderte Tonya zum Vortag zurück. Zu dem Morgen nach dem Telefonat mit Luisa, als sie ihren Eltern von Delias Diagnose erzählt hatte. Und davon, dass Delia hinter all dem gesteckt hatte, was ihr zugestoßen war.
Daraufhin war Christina in Tränen ausgebrochen. Markus hatte lange mit gebeugten Schultern dagesessen, das Gesicht in den Händen vergraben und die Ellenbogen auf den Tisch gestützt. Betend. Weinend. Schließlich hatten die beiden ausgesprochen, was jetzt auch an Tonya zerrte wie ein wütender Hund an der Leine.
Bei ihren Versuchen, mit dem Unfassbaren klarzukommen, hatten sie einen Menschen aus den Augen verloren, der so viel dringender ihre Aufmerksamkeit und Fürsorge benötigt hätte als ihr Bemühen darum, die Erinnerungen an Dennis lebendig zu halten oder seinen Mörder zu überführen. Denn Dennis war tot. Delia aber war am Leben geblieben und daran zerbrochen.
Ihr zu helfen, hätte womöglich auch unseren Schmerz schneller heilen lassen. Jetzt haben wir einfach nur eine tiefe Schuld auf uns geladen. Diese Worte ihrer Mutter, unter Tränen und Schluchzen ausgesprochen, hallten wie das stete Bellen eines Wachhundes in Tonyas Gedanken wider. Und dabei verbissen sie sich in die Tatsache, dass Delia ihr nachgestellt, ihr wehgetan, ihre Hunde getötet und sie und andere in Gefahr gebracht hatte. Die Welt stand kopf.
Wie definierte sich Schuld? Was war wessen Schuld? Was war richtig, was falsch? Was war gerecht? Und bedeutete Gerechtigkeit immer zugleich auch, dass sie richtig war? Wie sollte sie das eine vom anderen unterscheiden? Wie sollte dieses Gespräch weitergehen und enden, damit sie beide heil werden konnten?
Tonya zog die Hände fort und betrachtete Delias abgemagerten Körper, ihre fleckige Haut, die erschreckend flache Atmung. Delias Leib hatte keine Chance mehr zu heilen. Vielleicht jedoch ihr Herz und ihre Seele?
»Es tut mir so leid, Delia«, flüsterte Tonya. Delia hob die Hand. Offenbar war sie gerade wieder kräftig genug, um auf sie zu reagieren.
»Die Diagnose kam Anfang letzten Jahres. Ab da wusste ich, wie sich das … anfühlt.«
Tonya runzelte die Stirn. Es war anstrengend, Delia zu verstehen, obwohl sie sich viel Mühe gab, sich verständlich auszudrücken. Die Metastasen in ihrem Gehirn zeigten ihre hässliche Fratze. Deshalb hatte sie auch ihr Lügenkonstrukt über ihren Chef und ihre Reisen nicht mehr aufrechterhalten können. Zudem litt sie unter erheblichen Wortfindungsstörungen, manchmal ergab das, was sie sagte, einfach keinen Sinn.
»Wie sich so eine schlimme Diagnose anfühlt?«, hakte Tonya nach. Delia verzog unwillig das Gesicht und blitzte sie böse an. Auch diese wechselnden Stimmungen schienen ein Teil ihrer fortgeschrittenen Erkrankung zu sein. Gerade jetzt war Delia wütend auf Tonya, weil sie sie nicht richtig verstand.
»Kannst du mir das bitte näher erklären? Ich möchte es so gern verstehen.«
Jetzt lächelte Delia. Warm und herzlich. »Ich weiß jetzt, was es in einem auslöst, wenn man erkennt, dass man …«
»… sterben muss?«, wagte es Tonya, den Satz zu vervollständigen. Delia nickte und wirkte plötzlich teilnahmslos. Als gehe sie das alles nichts mehr an. Eigentlich hätte Tonya ihr genau diesen Zustand gewünscht. Dass sie einfach vergessen durfte. Frieden fand.
»Am siebten Todestag … Es war doch der siebte, nicht?«
Tonya bejahte.
»In meinem Kopf ist alles durcheinander. Und diese Dings, diese Mittel sind auch nicht … hilflos.«
»Ja, das ist wohl leider so. Und die Schmerzmittel sind sicher nicht hilfreich. Aber ich versuche dennoch alles zu verstehen, was du mir sagen willst.«
»Das ist gut.« Delia schwieg daraufhin mit gerunzelter Stirn. Ihre Hände strichen fahrig über die leichte Bettdecke.
»Du wolltest mir sagen, was an Dennis’ siebtem Todestag geschehen ist.« Bei dem Thema nachhaken zu müssen, trieb Tonya die Tränen in die Augen. Sie wollte Delia doch nicht noch mehr quälen.
»Ja. Ich war völlig …«
»… fertig? Niedergeschlagen?«
Delia nickte. »Und dann wütend. Auf dich. Weil ich jetzt weiß, wie viel Angst man hat. Und Dennis hat gewusst, dass er wegmuss – sterben muss, meine ich. Er wusste es. Er hat doch das Messer gesehen. Und der … andere hat gesagt, dass du dann vielleicht leben darfst. Ich kenne jetzt Dennis’ Panik. Und ich wollte, dass du sie auch kennenlernst.«
Tonya atmete tief ein. Delia hatte also gewollt, dass sie Todesängste ausstand. Damit auch sie am eigenen Leib erfuhr, wie Dennis sich gefühlt haben musste. Deshalb all die Übergriffe und Angriffe auf sie. Dass diese in so unterschiedlicher Intensität ausgefallen waren, hatte vermutlich an Delias Krebserkrankung gelegen. An ihrer schwindenden körperlichen Kraft, verbunden mit guten und schlechten Tagen, an den Metastasen, die Teile ihres Gehirns befallen hatten, an einer beginnenden Wesensveränderung …
Dennoch sprach Tonya weiterhin offen aus, was ihr durch den Kopf ging: »Ich hatte damals auch Todesangst.«
»Aber du hast ihm nicht ins Auge ge …irgendwas.«
»Doch, Delia. Auch ich habe das Messer gesehen. Auch ich habe die Brutalität des Mannes gespürt, der da vor uns stand.«
»Du hast Dennis verkauft.«
»Das habe ich lange gedacht, ja. Jahrelang habe ich mir deshalb Vorwürfe gemacht. Die Überlegung, was geschehen wäre, wenn ich anders reagiert hätte, wenn ich nicht auf Dennis gehört und nicht weggelaufen wäre … all das hat mich all die Jahre über nicht zur Ruhe kommen lassen.«
»Dich auch nicht?«
»Nein, Delia. Es hat mich gequält.«
»So?«
»Ich habe vor Kurzem erfahren, dass Dennis und ich nicht das einzige junge Paar waren, das dieser Kerl angegriffen hat. Insgesamt waren es acht Paare. Es gab nur zwei Überlebende. Eine Frau in Italien und mich. Er hätte Dennis und mich auf jeden Fall getötet, ganz egal, wie wir reagiert hätten.«
»Wusste ich nicht.«
»Ich weiß. Niemand hier wusste davon.«
»Du solltest es spüren!« Delia klang plötzlich wieder zornig. Sie richtete sich ein Stück weit in ihrem Bett auf, fiel aber mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück. Daraufhin schien sie erneut eingeschlafen zu sein. Tonya empfand dies als gnädig für Delia.
Delia hatte also damit begonnen, ihr kleine Streiche zu spielen. Allein deshalb, weil sie wollte, dass sie sich bedroht fühlte, Angst durchlebte. Zu irgendeinem Zeitpunkt hatte Delia das dann wohl nicht mehr genügt, vielleicht weil ihr Opfer nicht panisch genug reagiert hatte. Infolgedessen war sie bei ihr eingebrochen. Was in Delia vorgegangen sein musste, als sie Little Joe erstochen hatte, blieb für Tonya allerdings ein Rätsel.
»Warum die Hunde? Warum blieb die Hortensienbrosche im Regal?«, überlegte sie halblaut.
»Der Hund hat mich beinahe gebissen. Da bin ich wütend geworden.« Delia keuchte, als wehrte sie sich erneut gegen Little Joe. »Und die Brosche … Die lag immer zusammen mit einer zweiten in Christinas Vitrine. Mir haben sie immer gut gefallen. Christina hat einmal gesagt, dass sie mir später eine davon schenken würde.«
Tonya beugte sich vor. Delia klang plötzlich erstaunlich klar. Sie hielt die Augen geschlossen, ihre Hände waren zur Ruhe gekommen.
»Ich wollte dir nie etwas antun, Kleine. Dich nur ein bisschen aufschrecken. Damit du weißt, wie sich Todesangst anfühlt. Ich wollte Dennis rächen. Was für ein blöder Gedanke. Das weiß ich jetzt.«
»Du hast mich an der Tür von hinten angegriffen.«
»Du hast mich überrascht. Ich wollte verhindern, dass du mich erkennst.«
»Was ist mit dem Feuer in meiner Wohnung.«
»Ich wusste nichts von dem offenen Fenster hinter der Pflanze. Glaub mir bitte. Ich wollte nur, dass diese Pflanze brennt.«
»Und in Potsdam.«
»Da hast du auf mich geschossen. Warum hast du eigentlich eine Waffe?«
»Ich arbeite wie Thomas bei der Polizei.«
»Lüge!« Delia klang aufgebracht.
»Ich gebe meinen Beruf nicht öffentlich bekannt, weil das gefährlich sein könnte.«
»Keine normale Polizei?« Die abgehackte Frage kam leise, war kaum mehr zu verstehen. Tonya beantwortete sie nicht, würde Delia es doch ohnehin nicht hören. Ihre tieferen, wenngleich mühsamen Atemzüge verrieten, dass sie wieder weggedämmert war.
Tonya hoffte, dass sie das Gespräch an einer anderen Stelle fortsetzen konnten, obwohl es im Grunde gleichgültig war, ob Delia von ihrer Anstellung beim BKA erfuhr. Sie würde dieses Wissen nicht mehr weitererzählen können.
Traurig schüttelte Tonya den Kopf. Wie anders hätte Delias Leben verlaufen können – und vielleicht auch ihr eigenes –, wenn sie, statt voreinander zu fliehen, miteinander geredet hätten. Wenn sie das Leid gemeinsam getragen hätten. Tonya jedenfalls wusste, was sie dringend tun musste.
Also blieb sie, obwohl Delia sich lange Zeit nicht mehr rührte und zweimal eine Palliativpflegerin hereinkam, um die Infusionen zu wechseln. Allmählich wurden die Schatten im Raum verzerrter, das Tageslicht, das durch die beiden Fenster hereinfiel, schwächer.
Ein lautes Aufseufzen schreckte Tonya hoch. Sie rutschte bis vorn an die Kante der Sitzfläche und griff nach Delias Hand. Diese fühlte sich kalt und knochig an, ein wenig wie die einer alten Frau.
»Du bist noch da?«
»Ich bin noch da. Denn ich muss dir noch etwas Wichtiges sagen.«
»Ich bin … unkonzentriert.«
»Das weiß ich. Aber ich denke, das bekommen wir trotzdem hin.«
»Hm?«
»Delia, ich möchte mich bei dir entschuldigen. Dafür, dass ich damals zugelassen habe, dass du einfach abtauchen konntest. Wir waren deine Ersatzfamilie, und du hättest dringend unseren Beistand gebrauchen können. Die Wielands haben sich alle nur um mich, ihr kleines Küken, gekümmert und dich dabei aus dem Blick verloren. Und dabei nehme ich mich nicht aus. Ich wollte dich nicht sehen. Du hättest mich zu sehr an Dennis erinnert. Aber das hätte nicht passieren dürfen. Ich hätte zumindest die anderen darauf hinweisen müssen, sich auch um dich zu kümmern, wenn ich selbst es schon nicht konnte.«
»Sie haben Dennis auch verloren. Und sie waren so sehr in Sorge um dich.«
Tonya schluckte hörbar. Der Kontrast zwischen dem, was Delia sagte und offenbar nachvollziehen konnte, und dem, was in den vergangenen Monaten ebenfalls in ihr vorgegangen sein musste, war einfach nur verwirrend.
»Dennoch. Ich habe dich vernachlässigt, deine Trauer und Verzweiflung ausgeklammert, dich übersehen. Und das tut mir so unendlich leid.«
Delia zog ihre Hand unter Tonyas hervor und legte sie darüber. Der Druck ihrer Finger war kaum spürbar, bedeutete aber alles für Tonya. Sie drückte ihre Stirn in die Matratze und weinte. Die kalte Hand verschwand von ihrer und legte sich völlig unerwartet auf Tonyas Hinterkopf. Sie transportierte Trost und Vergebung. Die letzten Fesseln fielen ab, die noch einschnürend um Tonyas Herz gewunden gewesen waren. Sie zerfielen zu Staub, als seien sie nicht sieben, sondern siebentausend Jahre alt.
»Bitte, T, behalte mich so in Erinnerung. Nicht als dieses schrecklich zornige Wesen, das ich auch gewesen bin und das dir und Tom wehgetan hat. Es hat in mir geschlummert und ist immer wieder ausgebrochen. So möchte ich nicht mehr sein.«
»Das bist du nicht, Delia.«
»Verzeihst du mir?«
»Du hast mir gerade vergeben und ich verzeihe dir. Von ganzem Herzen.«
»Ich wünschte … dass früher.« Delias Hand rutschte herunter auf die Bettdecke. Tonya nahm sie in ihre.
»Ja, ich wünschte auch, dass wir das Gespräch viel früher geführt hätten. Dass wir achtsamer miteinander umgegangen wären. Das hätte uns beiden viel Leid erspart.«
»Und Tom.«
»Ja, und auch Tom.«
»Ich mag ihn sehr gerne.«
»Ich richte es ihm aus.«
»Danke.« Ihr Flüstern war kaum mehr als der sanfte Flügelschlag eines Schmetterlings.
Erneut vergingen beinahe zwei Stunden. Eine Pflegerin hatte unterdessen eine Stehlampe hinter Delias Bett angeknipst, die einen goldenen Lichtschein verbreitete. Endlich schlug die junge Frau die Augen wieder auf. Sie sah noch hinfälliger aus als zuvor. Das Leben floss schneller aus ihr heraus, als Tonya ohnehin befürchtet hatte. Und als sie es wollte. Sie hätte ihre neu gewonnene Freundin so gern festgehalten. Behalten. So irrational das für Außenstehende auch sein mochte.
»Dieser Mann …«
»Du meinst der, der Dennis und all die anderen ermordet hat?«
»Ja. Der. Er hat uns viel mehr weggenommen als nur Dennis.«
»Das hat er. Allerdings nur, weil wir es zugelassen und nichts dagegen unternommen haben. Dadurch haben wir uns selbst verloren und uns gegenseitig im Stich gelassen.«
»Nimm … mit.«
Tonya beugte sich vor. Delia war kaum mehr zu verstehen.
»Was soll ich mitnehmen?«
»Dein Papa sagte das immer.«
»Ich weiß nicht …«
»Lerne! Besser machen!«, stieß Delia fast verzweifelt hervor.
»Ja, Delia. Ich werde dieses Wissen mitnehmen. Ich will aus meinem Fehler lernen und es in Zukunft besser machen.« Tonya zögerte, fügte aber schnell hinzu: »Damit all das, was zuletzt so schrecklich war, doch noch etwas Gutes hatte.« Und dazu gehörte auch ihre Begegnung mit Jake, den sie ohne all das, was Delia getan hatte, wohl nie so nahe an sich herangelassen hätte.
»Gut«, meinte Delia nur, ehe sie wieder in ihrer eigenen Welt verschwand, in die Tonya ihr nicht folgen konnte. Tonya tippte eine Nachricht an Jake, der sie abholen wollte, und erhob sich kurz darauf.
Ein letztes Mal strich sie Delia über die knochigen Finger. Tonya wusste, dass dies ein Abschied für immer war. Zumindest für eine lange Zeit.
Leise verließ sie den Raum. Stille, gelegentlich unterbrochen durch ein Stöhnen oder Rascheln aus einem der anderen Zimmer, deren Türen fast alle offen standen, begleitete sie auf ihrem Weg zum Stationszimmer. Als sie dort innehielt, stand ein Pfleger auf und kam ihr entgegen.
»Sie waren bei Delia, nicht? Sie sind die Frau, die sie unbedingt noch sehen wollte, damit sie Frieden schließen kann?«
»Das bin ich wohl.«
»Gut, dass sie da waren. Sie hat mir vor einigen Tagen, als sie nicht schlafen konnte, erzählt, was sie Ihnen angetan hat und wie sehr sie es bereut.«
»Wir haben einander verziehen.«
Der Mann atmete mehr irritiert als begeistert tief durch.
»Sie wissen aber, dass das meiste von dem, was Delia angestellt hat, nicht unbedingt auf ihre Erkrankung und somit auf die fortschreitende Zerstörung ihres Gehirns zurückzuführen ist?«
»Ja, das ist mir durchaus bewusst. Sie kann ihre Krebserkrankung nicht als Begründung oder Entschuldigung anführen. Und das hat sie auch nicht versucht. Es waren wohl ihr verletztes einsames Herz und ihre geschundene Seele, die den Hass in ihr hervorgerufen haben. Einen Hass, der sie ein Stück weit selbst zerstört und sie an einem glücklichen Leben gehindert hat. Wesentlich mehr als mich, weil er mich aus der Entfernung ja nicht treffen konnte. Das geschah erst, als sie angefangen hat, ihn bewusst an mir auszulassen. Aber ich vergebe ihr dennoch.«
»Das ist erstaunlich.«
»Es ist das, was mich weiterleben lässt. Weiter hoffen, weiter lieben.«
Die Blicke des Pflegers folgten ihr, bis die automatische Tür hinter ihr zuschwang. Ein kalter Wind zerzauste ihr die Haare und fuhr ihr in die Kleidung. Als sie am frühen Nachmittag angekommen war, hatte das Thermometer angenehme zwanzig Grad angezeigt, jetzt musste es gut zehn Grad weniger haben. Der Herbst raste mit großen Schritten auf sie zu und verdrängte den Sommer. Wie der Tod auf Delia zuraste und das Leben verdrängte.
Tonya hoffte inständig, dass Delia ihren Frieden mit Gott gemacht hatte. Und wenn nicht – erstaunt neigte sie den Kopf und betrachtete die weibliche Gestalt neben Jake –, würde ihre Mutter dies in den nächsten Stunden oder Tagen zu ändern versuchen.
»Ich habe hier kurzfristig ein Angehörigenzimmer gebucht. Delia sollte nicht allein sein und nicht allein sterben. Außerdem möchte ich noch ein paar Gespräche mit ihr führen.« Christina umarmte Jake, der das sichtlich überrascht und etwas steif über sich ergehen ließ, ehe sie Tonya fest in die Arme schloss, die schon wieder gegen ihre Tränen ankämpfen musste.
»Ich werde nie gutmachen können, was ich die letzten sieben Jahre versäumt habe. Aber ich werde mein Bestes geben, um ihr die letzten Tage leichter zu machen. Und doch so intensiv wie möglich.«
Christina ließ sie stehen und drückte wenig später auf die Nachtklingel neben der Eingangstür.
»Deine Mutter ist einfach unglaublich.« Jake trat näher, musterte Tonya, zog sie zu sich und umarmte sie kräftig. Mit geschlossenen Augen ließ sie sich gegen ihn fallen. Sie genoss seine Wärme, die starken beschützenden Arme und den Halt, den er ihr nach den vielen Stunden bei Delia anbot, in denen sie mehr als einmal das Gefühl gehabt hatte, in einen Abgrund zu stürzen.
»Du siehst müde aus. Ich bringe dich mal besser ins Hotel.« Behutsam führte er sie zu seinem Auto. Er öffnete für sie die Beifahrertür, und in diesem Augenblick sprang ein Wollknäuel regelrecht in Tonyas Arme. Etwas Nasses bedeckte ihr Gesicht mit Küssen und kitzelte sie.
»Was …?« Sie packte das schwarz-braun-weiße Knäuel und hob es von sich weg. Obwohl es sich wand und erneut versuchte, sie abzulecken, erkannte sie darin einen jungen Hund. Es handelte sich um einen Australian Labradoodle.
»Jake?« Ihr war durchaus bewusst, dass sie seinen Namen freudig gequiekt hatte, weil der Welpe ein unfassbar knuffiges Wesen war.
»Er stammt aus einem Wurf, bei dem zuerst alle Hunde vermittelt werden konnten. Doch dieser wilde Bursche hier wurde nach zwei Wochen zurückgegeben, weil die Familie ihn doch zu anstrengend fand. Ich dachte, der passt zu dir. Du kannst ja von Glück sprechen, dass deine Familie dich nicht zurückgegeben hat – obwohl auch sie dich anstrengend findet.«
»Wer hat das gesagt?« Tonya versenkte ihr Gesicht in dem weichen Fell. Der Welpe schien vor Begeisterung förmlich zu seufzen.
»Ach, weißt du«, Jake lachte und schob sie in Richtung Beifahrersitz, »du hast so viele Geschwister, da kann ich mich einfach nicht mehr erinnern.«
Tonya setzte sich, und der Mischling drückte sich wie selbstverständlich an ihren Bauch. »Hat er schon einen Namen?«
»Vermutlich ist er ein Ben. Oder ein Adam.«
»Oder ein Hop Sing?«
Jake schloss die Autotür, doch Tonya konnte sein Lachen hören, als er um das Auto herumging. Kaum dass er eingestiegen war, ergriff Tonya seine Hand.
»Ich finde, eine Kreuzung aus Labrathor und Großpudel sollte Thor heißen. Danke, Jake. Für alles.«
»Sieh nur zu, dass der mich nicht ständig anknurrt.«
»Okay.«
»Ich werde nämlich viel Zeit mit dir verbringen.«
»Das hört sich gut an.« Tonya schnallte sich vorsichtig an. »Thor und ich brauchen ein neues Zuhause.«
Jake drehte sich etwas umständlich zu ihr um. Im Licht der Straßenlampe konnte sie sein Gesicht nicht gut sehen, dennoch glaubte sie, darin eine Art inneren Kampf ablesen zu können. Sie ahnte, dass er behutsam mit dem sein wollte, was er nun sagen würde – durfte er das mit dem Beschützen doch keinesfalls übertreiben. Das hatte er anscheinend gut verinnerlicht.
Tonya unterdrückte ein Lächeln. Seit sie begriffen hatte, dass sie ebenfalls zu den Beschützern gehörte – weil Liebe das manchmal einfach erforderte –, hatte sie sich zu einem großen Teil von ihrer nahezu trotzigen Haltung verabschiedet. Wie von so vielem in den letzten Stunden und Tagen.
Der Wandel vom Sommer zum Herbst brachte ebenso viel Neues zum Wachsen und Blühen, wie er Altes abschüttelte und hinter sich lassen wollte.
»Wir suchen dir und dem Kleinen ab morgen etwas. Etwas kleines Hübsches – für die Übergangszeit. Oder gleich etwas Großes für eine sehr kurze Übergangszeit?«
»Ich … verstehe nichts von dem, was du sagst.«
Jake beugte sich zu ihr und küsste sie unglaublich zart auf den Mund. Durch Tonyas Adern schienen plötzlich Champagnerbläschen zu perlen. Als seine Lippen sich wieder von ihren gelöst hatten, flüsterte er ihr ins Ohr: »Ich werde garantiert nicht viel Zeit verstreichen lassen, ehe ich mit einem Ring vor dir stehe.« Die Champagnerperlen zersprangen. Alles in Tonya geriet in Aufruhr; kribbelte, kitzelte und sandte Hitzewellen aus. Einen Augenblick lang saß sie reglos da, bis ihr bewusst wurde, dass all das, was sie empfand, und das, was ihr Herz und ihr Kopf ihr zuflüsterten, durchaus schön war. Da war weder Abneigung noch Widerstand, keine Vorsicht oder gar Angst. Sie fühlte einfach nur pures Glück.
Die Frage, ob sie das gerade überhaupt empfinden durfte, beantwortete sie nach kurzem Nachdenken mit einem eindeutigen Ja. Ihr war verziehen worden, sie hatte vergeben und – die wohl schwerste Übung – sie hatte auch sich selbst verziehen. Tief in ihr drin wusste sie, dass Delia nichts dagegen haben würde. Letztlich war es auch Delias Wunsch, jenem Fremden, der über Jahre ihrer beider Leben unter der Knute gehalten hatte, nicht noch länger den Sieg zu überlassen.
Ich möchte lernen, es besser zu machen. Und dafür muss ich mein Leben neu ausrichten, Vertrauen wagen und die Liebe zulassen.