Ich tat mein Bestes. Jeden Tag stand ich noch vor der Dämmerung auf, sammelte Pilze, Wildkräuter und Tang, bis die Sonne aufgegangen war. Später hackte ich Holz mit den anderen und fing an den Nachmittagen Kaninchen. Ich arbeitete, bis die Sonne unterging.
Ich hatte geglaubt, einen Sieg davongetragen zu haben, als ich den heimlichen Grillpartys Einhalt gebot. Doch nur eine Woche später fiel mir auf, dass Proviant aus der abgeschlossenen Kiste fehlte. Es hätte mich nicht überraschen sollen. Denn die Schlüssel hatten ja Andrew und Gill. Bis dahin war ich davon überzeugt gewesen, dass unser Proviant – also der Vorrat, der allen gehörte – tabu wäre. Wie dumm von mir.
Wieder überlegte ich, es den anderen zu erzählen. Das Problem war nur, dass ich keinen handfesten Beweis hatte. Andrew, Gill und Duncan, vermutlich auch Shaun, würden Stein auf Bein schwören, dass sie nicht mal in der Nähe der Vorratskiste gewesen waren. Wahrscheinlich hatten sie ihre Body-Cams ausgeschaltet, also wäre ich in den Augen all derer, die die Show im Fernsehen sahen, paranoid. Ich war einfach unterlegen.
Einige Wochen nach der neuen Vereinbarung kehrte ich von einem meiner Erkundungsgänge zum Feuer zurück und stellte fest, dass niemand sonst da war. Als ich zum Bauplatz hinüberschaute, sah ich, dass die anderen längst bei der Arbeit waren. Duncan schaute in meine Richtung, das Sonnenlicht blitzte auf seinen dunklen Brillengläsern.
Ich stellte meine Tasche ab und warf einen Blick in den Topf. Er war leer. Die anderen hatten die Reste des Mittagessens vom Vortag gegessen. Zuerst überlegte ich, zu den anderen zu gehen und bei der Arbeit am Blockhaus zu helfen, aber von dem langen Weg auf leerem Magen war mir leicht schwindelig. Also machte ich mir etwas Sud aus Fichtennadeln und steckte kleingeschnittene Pilze auf einen dünnen Ast, um die Pilzscheiben über der Glut zu braten. Die Proviantbox war verschlossen, daher begnügte ich mich mit dem, was ich hatte. Ich ließ mir Zeit mit meiner kleinen Mahlzeit, aber innerlich kochte ich.
Als ich gegessen hatte, ging ich zu den anderen und packte mit an. Doch das Gefühl blieb, dass ein Riss aufklaffte. Die anderen waren gemeinsam aufgestanden, hatten gefrühstückt und dann mit der Arbeit begonnen. Ich war später gekommen, hatte allein essen müssen. Ich spürte ihre Missbilligung, redete mir aber ein, dass alles nur Einbildung sei.
Mir fiel auf, dass Gill nicht wie sonst irgendwo rumstand, plauderte und gelegentlich eine Säge anreichte. Offensichtlich war es inzwischen unter ihrer Würde, selbst kleinere Handlangerarbeiten zu verrichten. Vermutlich hatte sie wieder »Rückenschmerzen«. Diese Schmerzen schienen wie aus dem Nichts zu kommen. Dabei arbeitete sie so wenig, dass ihr der Rücken überhaupt nicht wehtun konnte. Aber es war eine gute Ausrede. Und die anderen schluckten sie einfach.
Passend zum Mittagessen tauchte Gill auf, das Haar noch feucht vom Schwimmen. War sie stundenlang im Meer gewesen, während wir am Blockhaus arbeiteten? Eigentlich bekam man gar nicht ausreichend Kalorien, um sich noch beim Schwimmen zu verausgaben. Sie merkte, dass ich sie musterte, und mied meinen Blick; fast schuldbewusst, als wüsste sie, dass ihr Verhalten unfair war. Vielleicht hatte sie doch so etwas wie ein Gewissen.
An jenem Nachmittag machte ich mich rar. Das Schweigen um mich herum fühlte sich angespannt an, als hätte ich etwas Falsches getan. Aber ich konnte mir nicht erklären, weswegen ich mich schuldig fühlen sollte. Doch ich fühlte mich schuldig, und zwar schon, weil die anderen mir die kalte Schulter zeigten. Ich ging zu unserem Gemüsegarten und setzte mich zwischen das hohe Farnkraut und die Vogelmiere. Dort, außer Sichtweite, konnte ich mich etwas entspannen. Abgesehen von den kurzen Mahlzeiten, war es das erste Mal seit Stunden, dass ich mich hinsetzte.
Um nicht untätig zu sein, fing ich an, Unkraut zu zupfen, und teilte es in nutzlose und essbare Pflanzen ein. Eine ganze Weile hatte niemand mehr Unkraut entfernt, so viel stand fest. Das Gemüse war halb verborgen unter Gras, Farn und anderem Grünzeug.
Bald sah ich, dass in den Reihen des noch jungen Gemüses Lücken klafften. An einigen Stellen entdeckte ich Kaninchenkot. Offensichtlich war der Zaun doch nicht effektiv, sodass die Biester in den Garten gelangten. Wir aßen die Kaninchen, im Gegenzug knabberten sie unser Gemüse weg.
Ich überlegte kurz, meine Entdeckung bei unserem nächsten Meeting zur Sprache zu bringen. Wir mussten einen neuen Zaun bauen und uns besser um den Gemüsegarten kümmern. Maxine würde mir in diesem Punkt sicher zustimmen, auch wenn sie nicht gut auf mich zu sprechen war und mit Gill zusammengluckte. Aber während ich Unkraut jätete, geriet mein Entschluss ins Wanken. Dass unser Garten mehr Pflege nötig hatte, hätte eigentlich jedem auffallen müssen, der Augen im Kopf hatte. Doch keiner verlor darüber ein Wort, niemand befand es für nötig, tätig zu werden. Selbst mir war der Zustand des Gartens ja erst aufgefallen, als ich einen Platz suchte, um eine Weile für mich zu sein. Ich hatte meine Pflichten genauso vernachlässigt wie die anderen. Hätte ich das zur Sprache gebracht, wäre es nur wieder zum Streit gekommen. Und ehrlich gesagt, die Vorkommnisse an diesem Morgen hatten mich schon genug erschüttert.
Ich blieb fast den ganzen Nachmittag im Garten. Die Sonne wärmte meinen Nacken und meine schmerzenden Schultern, während ich dort saß und Unkraut jätete. Ab und zu hielt ich inne, reckte mich und lauschte auf den Gesang der Vögel und das Schwirren der Insekten in der Luft. Zwischendurch streckte ich mich auf einer freien Fläche aus und genoss ein Sonnenbad. Ich spürte, wie die Strahlen bis auf meine Knochen durchdrangen, wie flüssiges Feuer. Ich glaube, dass ich sogar ein wenig eindöste.
Für die nächsten Tage behielt ich diese Routine bei. Ich wachte auf, begab mich auf Nahrungssuche, arbeitete mit am Blockhaus, ehe ich mich in den Nutzgarten zurückzog, um in aller Ruhe Unkraut zu entfernen. Ich legte nicht all meinen Eifer in diese Arbeit; dafür fehlte mir die Energie. Aber ich dachte, dass ein paar tägliche Handgriffe wie diese besser waren als nichts. Außerdem konnte ich mich auf diese Weise von den anderen fernhalten.
Schnell merkte ich, dass ich nicht die Einzige war, die sich einen neuen Tagesablauf angewöhnt hatte. Im Verlauf der folgenden vier Tage kam ich nur ein einziges Mal zum Feuer und traf dort die anderen, die sich zum Frühstück versammelt hatten. Das war der Tag, als ich für das Frühstück verantwortlich war. An den anderen drei Tagen hatten die Leute bereits gefrühstückt, wenn ich zurückkehrte. Das ging mir bald wirklich auf die Nerven. Es musste Zoe und Maxine doch bewusst sein, was hier abging, aber sie ließen alles einfach laufen.
Als sich die Situation auch am fünften Tag in Folge nicht anders darstellte, fragte ich nach den Schlüsseln. Ich kam mir schon wie eine Bittstellerin vor, ganz so, als müsste ich über meinen eigenen Schatten springen. Aber ich redete mir ein, dass das nur mein eigener Stolz war. Ich ging zu Andrew und Duncan, die gerade einen Stamm bearbeiteten. Gill saß in der Nähe, lehnte mit dem Rücken an der Außenwand der Blockhütte – die anderen konnten sie dort nicht sehen.
»Könnte ich bitte die Schlüssel für die Proviantkiste haben?«, fragte ich.
Andrews Blick ging zu Duncan. »Klar … Gill, gehst du mit Maddy?«
»Sie braucht nicht mitzukommen, ich will nur die Schlüssel haben.«
Wieder tauschten die beiden Männer Blicke.
»Ich denke, es ist besser, wenn einer mitgeht. Wegen der Verantwortlichkeit.«
»Verantwortlichkeit? Wofür?«
»Für die Vorräte«, sagte Duncan, als läge das auf der Hand. »Wir können niemandem freien Zugang gewähren, wenn wir die Vorräte rationieren. Das verstehst du doch?«
»Du meinst, keinem außer Andrew und Gill?«
»Nun, keiner der beiden kann die Box allein aufschließen, nicht wahr? Deshalb haben wir ja den Zweitschlüssel.«
»Okay, aber sie können sie zusammen öffnen, oder irre ich mich?« Ich sah Duncan in die Augen und hielt seinem Blick stand.
Ich wollte keinen Streit vom Zaun brechen, indem ich alle an ihre Aufgaben erinnerte, aber ich würde mich auch nicht einfach anlügen lassen. Es war offensichtlich, dass sie sich an den Vorräten bedient hatten. Jetzt so zu tun, als könnte ich diejenige sein, die etwas klaute, gehörte wieder zu diesen Machtspielchen. So viel war selbst mir klar. Ich konnte niemanden offen beschuldigen, da sie die Mehrheit bildeten. Ich war allein. Was die anderen sagten und zu glauben vorgaben, war die Wahrheit, auf die sich alle geeinigt hatten.
»Schau, wir haben schon genug Zeit damit vertrödelt. Die anderen hier versuchen zu arbeiten«, sagte Andrew. Er ging zu Gill, bekam ihren Schlüssel und reichte mir dann beide Schlüssel. »Nur zu, leg los. Wir wissen, was in den Kisten ist.«
Ich nahm die Schlüssel entgegen, ignorierte den warnenden Unterton und kehrte zur Hütte zurück. Als ich den Deckel der Box aufklappte, zweigte ich eine Portion Hafer ab (exakt die Ration, die wir pro Person ausgerechnet hatten, um Porridge zu machen). Diese Menge Hafer füllte ich in mein Feldkochgeschirr, tat noch etwas getrocknetes Obst und eine Portion Milchpulver hinzu. Dann gab ich Wasser darauf. Und hielt inne.
Am Boden der Box lagerte der Rest der Tütennahrung. All die Produkte, die jeder Einzelne von uns mitgebracht und freiwillig zum allgemeinen Proviant gelegt hatte. Als ich genauer hinsah, war ich mir sicher, dass es viel weniger waren als beim letzten Mal, als ich nachgesehen hatte. Ich hätte schwören können, dass wir noch mehrere Packungen mit Zuckersirup-Pudding gehabt hatten, aber jetzt lag da nur noch eine. Beim Rest der Produkte war ich mir nicht ganz sicher. Da ich wusste, dass ich so bald wie möglich zurück sein musste, traf ich eine Entscheidung aus dem Bauch heraus.
Ich nahm die Fertigmahlzeiten wieder an mich, die ich ursprünglich dazugelegt hatte. Es war nicht schwer, meine Sachen zu finden, weil auf der Rückseite die Preisschilder von meinem Outdoor-Laden zu Hause klebten. Während ich das freundliche gelbe Logo betrachtete, erlebte ich einen unwirklichen Moment. Ich war zu dem Geschäft gefahren und hatte die Waren in den Regalen begutachtet. Ich konnte mich noch genau erinnern, wie ich die einzelnen Tüten und Packungen genommen hatte, während sich mein Fuß im Takt der Weihnachtsmusik auf und ab bewegt hatte. Ich sah noch die Einkaufstüte neben mir auf dem Beifahrersitz, als ich an einer heißen Tasse Kakao mit Marshmallow nippte und die Scheiben von innen beschlugen.
Blinzelnd fand ich in die Wirklichkeit zurück und hörte das erneute Knurren meines Magens. Ich nahm die abgebrochenen Fingernägel an meinen schwieligen Händen wahr. Jegliche Gedanken an Schuld schob ich von mir. Diese Nahrung gehörte mir, ich hatte sie gekauft, auch wenn mir das in meiner gegenwärtigen Lage fremdartig vorkam. Ich weigerte mich, von meinem eigenen Proviant ferngehalten zu werden, während Andrew, Gill und die anderen heimliche Mahlzeiten ohne mich zu sich nahmen. Das war nicht fair. Also nahm ich die Tüten und Packungen, verstaute alles in meinem Rucksack, unter den gefalteten Taschen meiner Erkundungsgänge, und schloss die Box wieder ab.
Mein Porridge löffelte ich in mich hinein und ging dann wieder zu den anderen, doch die ganze Zeit überlegte ich, wo ich den Proviant verstecken könnte, den ich wieder an mich genommen hatte. In unserer Hütte gab es keine Privatsphäre, ich durfte es auch nicht riskieren, die Sachen in meinem Rucksack zu lassen. Ich musste eine Möglichkeit finden, meinen Proviant irgendwo abseits zu verstecken. An einem sicheren Ort.
Erst nachdem wir unser kärgliches Mittagessen verdrückt hatten – wieder Wildgemüse mit einer Handvoll gequollener Kichererbsen –, fiel mir die Höhle wieder ein. Seit ich sie entdeckt hatte, hatte ich nur selten an sie gedacht. Tatsächlich war ich nur noch ein einziges Mal dort gewesen, um nach Pilzen zu suchen, aber das war irgendwann im März. Da ich dort keine gefunden hatte, war die Höhle für mich uninteressant geworden. Aber jetzt war es genau der richtige Ort für mein Vorhaben.
Nach dem Mittagessen wartete ich eine Weile, schulterte dann wie beiläufig meinen Rucksack und verließ das Camp, meine Tasche für die Nahrungssuche in der Hand. Ich sah, dass Maxine die Teller abwusch, die wir soeben benutzt hatten, doch die anderen nahmen ein Sonnenbad auf unserer Lichtung. Ausnahmsweise war ich froh, dass sie einmal nichts taten. Denn das bedeutete, dass mich niemand überraschen würde, während ich meinen Plan verfolgte.
Es war nicht ganz so einfach, den Weg zur Höhle zu finden. Seit dem Frühjahr war alles derart ins Kraut geschossen, dass ich anfangs die Orientierung verlor. Ehemals markante Dinge wie ein umgestürzter Baum oder eigenartig geformte Felsen waren von allerhand Pflanzen überwuchert. Der schmale Eingang war hinter Farnkraut und hohen Gräsern verschwunden, deshalb musste ich mir erst einen Weg durch diesen Wildwuchs bahnen, um zur Höhle zu gelangen. Die Luft im Innern war kühl und feucht, der Boden bestand aus festem, erdigem Untergrund, bedeckt von Laub. Ein Prickeln rieselte durch mich hindurch, als ich plötzlich an meine eigene Horrorstory dachte – die Hütte der Hexe. Wie leicht man sich vorstellen konnte, dass sie in dieser Höhle hauste und ahnungslosen Menschen auflauerte.
Nachdem ich eine Weile den Boden abgetastet hatte, fand ich einen Stock und grub damit ein kleines Loch. Sobald ich die Pakete mit Proviant hineingelegt hatte, bedeckte ich alles mit lockerer Erde und Blättern. Als ich die Höhle wieder verließ, tarnte ich den Eingang mit Farnkraut und Buschwerk, damit man ihn nicht auf den ersten Blick sehen konnte. Ich rechnete damit, dass Zoe und Shaun die Höhle gerade recht käme, um allein zu sein.
Auf dem Rückweg pflückte ich etwas Vogelmiere und Nesseln, um den Eindruck zu erwecken, ich wäre tatsächlich auf Nahrungssuche gewesen. Aber ich hätte mir ohnehin keinen Kopf zu machen brauchen, weil niemand im Lager war, abgesehen von Frank. Ich ließ ihn in der Sonne dösen und ging in die Richtung, aus der mir kreischendes Lachen und ausgelassene Rufe entgegenschlugen, weiter unten am Bachlauf. Kurz darauf sah ich sie alle, wie sie im Wasser herumtollten, nur Gill sonnte sich auf einem breiten Felsen. Einen Moment lang verspürte ich ein Schuldgefühl, als ich die anderen so glücklich und zufrieden sah. Doch dann verdrängte ich dieses Gefühl. Ich hatte der Gemeinschaft nichts gestohlen. Der Proviant war nicht für mich allein gedacht. Sobald die Vorräte aufgebraucht wären, würde ich alles zurückbringen, damit wir alle etwas davon hatten, nicht nur die wenigen Auserwählten.
Meine erste Reaktion war, mich zu ihnen gesellen zu wollen, aber ich war zu befangen. Wie hätte ich Spaß haben können bei dem Gefühl, dass Duncan, Gill und die anderen mich genau beobachteten, nur um sich später über mich lustig zu machen? Ich wusste nicht, wem ich noch trauen konnte. Stattdessen beschloss ich, etwas Zeit in unserem Gemüsegarten zu verbringen, zwischen all dem schießenden Grün. Ich war zu müde, um noch ernsthaft zu arbeiten, aber es fühlte sich wie ein Ruhetag an. Alle anderen genossen die Sonne, deshalb streckte auch ich mich lang auf dem Boden aus und nahm ein Sonnenbad.