Meine Bedenken wegen Zoe verflüchtigten sich nicht so leicht wie die Asche im Wind. Tatsächlich wurden sie schlimmer, während die Tage verstrichen. Irgendwann, als ich es nicht länger aushalten konnte, beschloss ich, nach ihr zu schauen, aus der Ferne.
Ich machte meinen morgendlichen Erkundungsgang und ließ die Pilze, die ich gefunden hatte, in meinem Tipi. Ein paar interessante Exemplare, die ich später sorgsam zubereiten würde. Dann nahm ich ein paar Winter-Pfifferlinge und Judasohren mit, um eine Ausrede parat zu haben. Wenn die anderen mich erwischten, würde ich so tun, als wollte ich die Pilze gegen Proviant eintauschen. Ich nahm einen Umweg über die nördlichen Anhöhen, suchte mir einen geeigneten Platz und beobachtete von dort aus das Camp.
Im Grunde schien sich nichts groß verändert zu haben, ich hatte es auch nicht anders erwartet. Die einzige Veränderung war eine Räucherhütte, die meiner ähnelte und die jetzt neben der noch nicht fertigen Blockhütte stand.
Frank, Shaun und Andrew saßen am Feuer und tranken etwas aus Tassen. Ich dachte zuerst, es wäre der Sud aus Fichtennadeln, ehe ich die Plastikflasche am Boden sah, halb voll mit einer bräunlichen Flüssigkeit. Selbstgebrautes.
Nach einer Weile trat Zoe ins Freie und ging zur behelfsmäßigen Duschkabine, ein Feldgeschirr mit heißem Wasser in einer Hand. Sie sah gut aus und winkte Shaun zu, als sie am Feuer vorbeiging. Zufrieden zog ich mich in den Wald zurück und machte mich auf die Suche nach weiteren Pilzen.
Es war später Nachmittag, als ich in mein Tipi zurückkam. Die Sonne ging allmählich unter, das Zwielicht unmittelbar vor Einbruch der Dunkelheit setzte ein. Ich machte mich daran, einen Bovist zu säubern, den ich gefunden hatte. Als das Feuer ordentlich brannte, wollte ich die Sachen holen, die ich fürs Abendessen eingeplant hatte. Aber all das, was ich am Morgen gesammelt hatte, war fort.
Der Diebstahl war so dreist, dass ich zunächst einen Moment wie benommen dastand. Es war schon schlimm genug, immer ein bisschen zu entwenden, in der Hoffnung, ich würde es nicht merken, aber mir alles wegzunehmen, hieß eindeutig: »Fick dich!« Zorn benebelte meine Sinne, doch dann machte sich Panik breit.
Denn bei den Pilzen handelte es sich um Amanita muscaria – auf Deutsch Fliegenpilz. Ich hatte diese Exemplare liegenlassen, weil ich dachte, dass niemand leuchtend rote Pilze mit weißen Tupfen nehmen würde, da sie den Giftpilzen in den Märchenbüchern so ähnlich sahen. Fliegenpilze sehen ungenießbar aus, und in vielen Büchern werden sie als giftig beschrieben. Wenn man sie nicht abkocht, um die Ibotensäure zu neutralisieren, können Fliegenpilze Erbrechen hervorrufen und Halluzinationen auslösen, auch Krämpfe oder andere furchtbare Nebeneffekte. Bis hin zum Tod.
Mein Herz raste. Wenn die anderen diese Pilze hatten mitgehen lassen, dann wussten sie vermutlich nicht, wie man sie richtig zubereitete. Ich griff nach meiner Taschenlampe und rannte, ohne groß zu überlegen, zum Camp.
Während ich lief, versuchte ich nachzudenken. Wie viele Exemplare hatte ich gesammelt? Todesfälle bei Amanita muscaria waren selten, aber die Nebenwirkungen konnten unangenehm sein, und Zoe war wahrscheinlich schwanger. Ich wusste nicht mehr genau, wie lange es dauern würde, bis die Toxine des Fliegenpilzes ihre volle Wirkung entfalten – vielleicht eine Stunde. Wenn die anderen sie schon zum Mittagessen verspeist hatten, stünden sie jetzt unter dem Einfluss der Giftstoffe und waren vermutlich nicht in der Lage, Hilfe über das Notruf-Telefon zu rufen. Ich wusste, dass die Symptome bis zu acht Stunden andauern konnten, und wer bereits betrunken war, geschwächt von Hunger und kein sauberes Wasser zur Hand hatte …
Ich platzte ins Camp und hatte gleich den Geruch in der Nase: Scheiße und Erbrochenes. Die typischen Geräusche von Leuten, die sich übergaben, kamen nicht nur aus Richtung der Latrine, sondern auch von der gezimmerten Duschkabine. Ganz in der Nähe hörte ich, wie etwas halb Flüssiges in einen Eimer klatschte.
Rund ums Feuer entdeckte ich am Boden kauernde Gestalten. Ich eilte sofort zu ihnen. Es waren Frank und Shaun. Frank schien zu schlafen, aber Shaun stierte bleich und reglos in die ersterbende Glut.
»Seid ihr okay?«, fragte ich, aber keiner von beiden antwortete. Shaun blinzelte langsam. Da war mir klar, dass er high war. Fliegenpilze haben den Ruf, »magische Pilze« zu sein. Selbst Rentiere können davon einen Rausch bekommen. Ich war im Begriff, Franks Puls zu fühlen, als mich jemand von hinten wegstieß. Ich stolperte, konnte gerade noch der Feuerstelle ausweichen, erlangte mein Gleichgewicht wieder und drehte mich um.
Zoe stand vor mir, schnaufte vor Wut und sah mich aus weit aufgerissenen Augen an. In ihrem Gesicht entdeckte ich Spuren von Tränen und ihrer Glitter-Schminke.
»Du!«, rief sie und schubste mich erneut. »Was hast du getan? Was stimmt bloß nicht mit dir, verdammt?«
»Zoe, ich habe nichts …«
»Das warst du! Du wusstest, dass Duncan diese Pilze mitnehmen würde, du wusstest es genau!« Sie fing an zu schluchzen. »Was hast du ihnen nur angetan?«
Ich packte Zoe beim Arm, doch sie setzte sich zur Wehr und fing an, heftiger zu weinen.
»Zoe, du musst mir jetzt zuhören. Diese Pilze kann man essen. Ich habe sie für mich gepflückt. Es ist mir egal, ob du mir glaubst oder nicht, dafür ist jetzt sowieso keine Zeit. Ich bin gekommen, um zu helfen, aber du musst mir sagen, wer was gegessen hat und wie lange das her ist. Kannst du mir das sagen?«
Zoe schniefte laut, nickte dann aber. »Okay … okay … die Pilze. Duncan kam damit an, und ich sagte noch, dass die nicht gut aussehen – das hab ich ihm ausdrücklich gesagt. Aber er meinte, dass sie essbar sein müssen, weil du sie ja gesammelt hast. Also kochte er sie, und ich sagte ihm, er solle nicht leichtsinnig sein. Doch dann aß er sie, und ich ging weg, weil er sich wie ein Arschloch benahm. Shaun lief mir nach, und als wir etwas später zurückkamen, schien es allen noch gut zu gehen. Duncan bot Shaun etwas von dem Eintopf an, in den er auch die Pilze getan hatte. Ich hatte Kaninchenfleisch in meiner Portion und aß nichts von Duncan, aber Shaun hat ein bisschen was davon genommen. Dann, eine Stunde später, war plötzlich allen schlecht, nur nicht Shaun. Er benimmt … sich nur so komisch. Wird es ihm bald wieder besser gehen?«
»Ich denke schon«, sagte ich. »Er sieht aus, als wäre er auf einem Trip, deshalb vermute ich, dass er nur eine kleine Dosis von den Pilzen gegessen hat. Aber du hast gesagt, dass Duncan schon vorher davon gegessen hatte. Zusammen mit Andrew und Gill?«
Sie nickte. »Ich weiß nicht, wer am meisten davon gegessen hat, aber Gill war die Erste, die kotzen musste. Sie verschwand dort drüben, wir hörten es. Duncan dachte zuerst, sie wäre blau.«
»Was ist mit Frank und Maxine?«
Zoe schnaubte. »Frank pennt doch die ganze Zeit. Hat ’ne Menge von Maxines Wein getrunken und war gar nicht wach, als es den Eintopf gab. Aber sie hatte was davon gegessen, mit Gill und den anderen.«
»Gut … ich muss nachschauen, wie es ihnen geht. Könntest du mir Gills Erste-Hilfe-Set holen und ein paar von den Tütchen mit dem Pulver für Trinklösungen zubereiten? Wenn die anderen richtig schlimm dran sind, dann brauchen sie diese Lösungen. Und du bleibst dann bei Shaun und sorgst dafür, dass er sich nicht selbst irgendwie wehtut.«
Zoe nickte. Ich ließ sie gehen und machte mich auf die Suche nach den vier Inselgefährten, die im Augenblick nirgendwo zu sehen waren. Die Erste, die ich fand, war Maxine; sie hatte sich in der Latrine verkrochen. Ich musste ihr eine Weile gut zureden, dann öffnete sie die Tür einen Spalt breit, und ich sah ihr blasses Gesicht und die schweißfeuchten Haare, die ihr in der Stirn klebten. Der Geruch von Erbrochenem trieb mir Tränen in die Augen. Ich erzählte ihr, dass es an den Pilzen lag, und versprach, mit etwas zu trinken zurückzukommen. Sie nickte nur matt und zog die Tür wieder zu.
Gill kauerte in der halbfertigen Blockhütte, einen der Eimer in Reichweite. Sie lehnte mit dem Oberkörper an der Wand, die Augen geschlossen. Neben ihr stand eine Flasche mit Wasser. Auch Gill hatte es heftig erwischt, aber sie hatte wenigstens versucht, den Wasserverlust auszugleichen, und sah nicht so übel aus wie Maxine. Da Gill vor allen anderen schlecht geworden war, vermutete ich, dass sie den Großteil der Giftstoffe ausgebrochen hatte, ehe die Toxine ihre volle Wirkung entfalten konnten. Zum Glück.
Andrew fand ich hinter der Blockhütte, wo er sich in seinen Schlafsack gelegt hatte und unmittelbar neben einem Eimer voller Scheiße döste. Ich hatte nicht den Eindruck, dass Andrew ernsthaft in Gefahr war, außerdem überzeugte ich mich davon, dass sein Puls stabil schlug. Ich beschloss, ihn schlafen zu lassen, es sei denn, es wäre unerlässlich, ihn in eine andere Position zu bringen.
Inzwischen hatte Zoe die Tütchen aufgerissen und einige Wasserflaschen mit dem Pulver für die Trinklösungen vorbereitet – mit Orangengeschmack. Ich schnappte mir eine dieser Flaschen, während Zoe nach Shaun schaute, und begab mich weiter auf die Suche nach Duncan.
An der Duschkabine klopfte ich an die Tür, die aus Flechtwerk und Lehm bestand; als Angeln dienten kurze Stricke. Aus dem Innern vernahm ich ein Stöhnen. Der Gestank von Erbrochenem und anderen Ausscheidungen war äußerst intensiv. Wenn er der Erste gewesen war, der die Pilze gegessen hatte, dazu noch eine gehörige Portion, dann hatte es ihn besonders heftig erwischt. Ich verspürte eine seltsame Woge der Befriedigung, dass es Duncan war, der am übelsten dran war.
»Duncan?«, sagte ich leise. »Ich bin’s, Maddy. Bist du wach? Kannst du die Tür aufmachen?«
»Verpiss dich«, kam es mit rauer Stimme.
Angesichts seiner Situation eine nachvollziehbare Reaktion, wie ich mir sagte. Zumindest war er bei Bewusstsein. »Ist Blut dabei, wenn du brechen musst oder … zur Toilette?«, fragte ich vorsichtig.
Schweigen, dann ein leises, mürrisch hervorgestoßenes »Nein«.
»Okay, gut. Ich habe hier etwas Wasser. Darin ist eine Lösung, damit du den Wasserverlust ausgleichen kannst. Dann wird dein Kreislauf bald auch wieder stabiler. Könntest du die Tür ein klein wenig aufmachen?«
Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, ein stechender Geruch trieb mir Tränen in die Augen. Ich hielt Duncan die Flasche hin, die er mit einer Hand entgegennahm. Ich sah bewusst nicht genau auf seine verschmierten Finger.
»Ich suche dir gleich Kleidung heraus und bringe dir was, damit du dich saubermachen kannst«, sagte ich. »Ruf einfach, wenn du Schmerzen hast oder die Symptome schlimmer werden.«
Es kam keine Antwort, aber ich wusste, dass er mich gehört hatte. Ich machte mich auf die Suche nach heißem Wasser, Seife und Tüchern jeglicher Art. Seit unserer Ankunft hatten wir Blätter und Moose als improvisiertes Toilettenpapier benutzt. Das Zeug bewahrten wir normalerweise in einer Tüte auf, die an einem Nagel direkt bei der Latrine hing. Ich sah, dass die Tüte leer war, und ging dann los, um im Dunkeln Moos und große Blätter zu sammeln.
»Zoe, könntest du ein paar Tücher raussuchen, mit denen man sich waschen kann?«, bat ich, als ich mit der prallgefüllten Tüte zum Feuer zurückkehrte und ein bisschen Holz nachlegte.
Ich sorgte dafür, dass das Feuer gut brannte, ehe ich das Feldkochgeschirr nahm, das ich auf die Schnelle finden konnte. Dann brachte ich Wasser zum Kochen und zerbröselte ein Stück Seife aus der Hütte. Zoe brachte ein Handtuch, das wir in Streifen rissen.
Während Zoe vorsichtig Frank weckte und ihn zusammen mit Shaun dazu brachte, sich in der Hütte hinzulegen, kümmerte ich mich um die anderen. Ich fing bei Maxine an und reichte ihr ein Stück von dem warmen, mit Seife getränkten Handtuch, danach ein paar saubere Klamotten. Als sie die Latrine verlassen hatte, drückte ich ihr eine Flasche Wasser in die Hand und schickte sie zum Feuer. Nachdem ich Gill geweckt hatte, schaffte sie es aus eigener Kraft ans Lagerfeuer.
Andrew kam zu sich, als ich ihm auf die Schulter tippte. Sein Blick war verschleiert, er hatte Schwierigkeiten, beim Gehen das Gleichgewicht zu halten. Ich stützte ihn, während er sich einigermaßen saubermachte. Als auch er endlich am Feuer lag, ging ich zu Duncan. Diesmal musste er die Tür für mich ganz aufmachen. Am Pullover und am spärlichen Bart klebte Erbrochenes. Er trug keine Hose mehr, seine Khaki-Shorts und die Unterhose lagen zertrampelt in der undefinierbaren Lache am Boden der Duschkabine, und er zitterte am ganzen Leib. Er mied meinen Blick und sagte kein Wort, als ich ihm ein Stück sauberes Handtuch und eine Jogginghose reichte. Als ich ihm anbot, ihn auf dem Weg zum Lagerfeuer zu stützen, lehnte er entschieden ab.
Endlich lagen alle vier in ihren Schlafsäcken am Feuer, mit ausreichend Flüssigkeit im Bauch. Ich war inzwischen fix und fertig. Den ganzen Tag hatte ich mit der Suche nach Essbarem verbracht, jetzt noch ins Lager rennen zu müssen hatte mich zusätzlich ausgelaugt. Außerdem hatte ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Aber nachdem mir all diese Gerüche der anderen in die Nase gestiegen waren, glaubte ich nicht, noch irgendeinen Bissen herunterzukriegen.
Tief in mir hatte sich ein kleines Schuldgefühl festgesetzt. All das war wegen meiner Pilze passiert. Gut, die anderen hatten sie mir gestohlen, aber hatte ich etwas anderes erwartet? Hatte es da nicht einen Moment gegeben, als ich die Pilze zur Seite legte und dachte: »Wäre es nicht klasse, wenn …?« Mir wurde schlecht, als ich mir das eingestand, aber es stimmte ja: Ich hatte damit gerechnet, dass sie vielleicht auch diese Pilze mitnehmen würden, weil sie davon ausgingen, sie könnten sie wie vorher ohne Bedenken essen. Insgeheim hatte ich geglaubt, ihnen eine Lektion erteilen zu können, sollten sie tatsächlich so dumm sein, diese Pilze zu sich zu nehmen. Allerdings hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, dass sie das auch tun würden. Offenbar hatte ich sie für klüger gehalten, als sie waren. Dennoch, schon die bloße Möglichkeit solcher Ignoranz hätte mich davon abhalten sollen, die Pilze offen herumliegen zu lassen. Das war unverantwortlich gewesen von mir. Jeder von ihnen hätte ernsthaft in Lebensgefahr geraten können.
Meine Buße würde darin bestehen, den Dreck wegzumachen und das Chaos zu beseitigen, das ich mit meiner Nachlässigkeit verursacht hatte. Ich machte mich an die Arbeit, zwang mich wach zu bleiben.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte Zoe und gähnte stark, während sie sprach.
»Leg dich ruhig hin. Ich wecke dich, wenn irgendwas passiert«, sagte ich. Ich bekam ihr erschrockenes, verweintes Gesicht nicht aus dem Sinn. Sie hatte schon genug durchgemacht.
»Na gut … wenn du meinst … und danke, Maddy. Für alles.«
Ich zuckte mit den Schultern, mir war nicht ganz wohl in meiner Haut. Denn all das war ja irgendwie meine Schuld. Auch wenn Duncan ein hinterhältiger Schuft war, hatte ich unverantwortlich gehandelt. Ich hätte es besser wissen müssen.
Nachdem sich auch Zoe hingelegt hatte, spülte ich die zugeschissenen Eimer mit heißer Seifenlauge aus und reinigte die Latrine und den Boden der Duschkabine, so gut es ging. Dann sammelte ich die verstreut herumliegende Kleidung ein, die ich finden konnte, entfernte mich ein wenig vom Camp, machte ein kleines Feuer und kochte die verschmutzte Kleidung in einem Metallbottich. Zuletzt füllte ich den Wasserfilter wieder auf, damit alle genug sauberes Wasser zu trinken hatten, wenn sie wieder aufwachten.
Als ich meine Schuld abgegolten hatte, deutete sich zwischen den Ästen der Bäume eine blasse Dämmerung an. Im frühen Licht des Tages sah man im Lager all die Fußspuren, Eimer und Lachen vergossenen Wassers. Zumindest roch es jetzt sauberer, abgesehen von mir. Ein letztes Mal schaute ich nach den schlafenden Patienten. Sie sahen okay aus, alle hatten wieder etwas mehr Farbe im Gesicht. Nach meinen groben Berechnungen hatten sie das Schlimmste überstanden.
Ich weckte Zoe, um ihr zu sagen, dass ich zum Strand ginge, um mich zu waschen. Sie sollte sofort zu mir kommen, falls sich bei einem der Zustand wieder verschlechterte, oder gleich zum Notruf-Funkgerät laufen, wenn es ernst wäre. Sie packte mich am Arm, als ich fortgehen wollte.
»Kommst du nachher zurück? Bitte! Ich will hier nicht allein sein.«
Erneut flackerte mein schlechtes Gewissen auf. Ich konnte ihr nicht zumuten, das Chaos zu beseitigen, das ich angerichtet hatte. Ich hatte aber nicht vorgehabt zurückzukommen. Denn das Camp war nicht mehr länger mein Zuhause. In gewisser Weise war es demütigend, wie schnell ich klein beigab, sobald ich spürte, dass Zoe mich hier brauchte, dass ich überhaupt gebraucht wurde. Ich war wohl schon zu lange auf mich gestellt, wenn das alles war, was nötig war, um mich umzustimmen …
Ich nickte. »Ich hole schnell ein paar Sachen und komme wieder.«
Dann lief ich hinunter zum Strand, zog mich aus und tauchte einmal kurz im kalten Wasser unter. Tropfnass und zitternd vor Kälte rannte ich zu meinem Tipi, rubbelte mich ab, zog eine saubere Leggings, ein T-Shirt und einen Pullover an, der mir eine Nummer zu groß war. Mit der Mütze auf dem feuchten Haar packte ich etwas Kleidung, das Ladegerät für die Body-Cam und meinen Schlafsack in den Rucksack und machte mich noch einmal hügelaufwärts auf den Weg.
Für kurze Zeit wohnte ich wieder in der Gemeinschaftshütte, aber es war nicht zu übersehen, wie die Dinge lagen. Zunächst waren alle noch geschwächt von ihrer Begegnung mit Amanita muscaria . Die meisten hatten dieselben Symptome wie jemand, der eine Grippe überstanden hatte: Müdigkeit, Gliederschmerzen und allgemeine Mattigkeit. Nur Frank und Shaun waren gleich am nächsten Tag nach dem Vorfall wieder auf den Beinen, mal abgesehen von Franks Kater. Zu viert teilten wir uns die anfallenden Arbeiten, hackten Holz, holten Wasser, ließen es durch das Filtersystem laufen, bereiteten die Mahlzeiten zu, fütterten die Kaninchen und hoben einen neuen Latrinengraben aus. Trotzdem fühlte ich mich wie eine Außenseiterin, und meistens arbeitete ich allein.
Obwohl Zoe anfangs dankbar gewesen war, dass ich zurückgekommen war, fing sie an, mir aus dem Weg zu gehen, sobald Shaun aufwachte und seine Sinne wieder beisammenhatte. Das wunderte mich nicht, aber es tat trotzdem weh. Zu unbedacht hatte ich mich der Hoffnung hingegeben, dass sie mir verzeihen würde, weil ich ihr an jenem Tag unten am Strand keine Unterstützung zugesagt hatte. Offensichtlich hatte sie mir nicht verziehen. Die Krisensituation hatte sie dazu gezwungen, mir zu vertrauen, aber jetzt, da das Schlimmste vorüber war, standen wir wieder dort, wo wir aufgehört hatten.
Wenn es sich einrichten ließ, vermied ich es, die anderen direkt mit irgendetwas zu versorgen. Ich verspürte kein Verlangen, mehr Zeit mit ihnen zu verbringen, als unbedingt notwendig war. Stattdessen beschäftigte ich mich mit dem Wasser und dem Holz. Zwischendurch suchte ich nach essbaren Pflanzen oder Pilzen, kochte aber immer für mich allein und wollte auch nicht nach Rationen aus dem Vorrat fragen, ahnte ich doch, dass man mir sowieso nichts abgegeben hätte. Und abends, wenn ich mich an meiner alten Stelle schlafen legte, lag diese Anspannung in der Luft. Ich wusste, dass ich unerwünscht war. Immerhin hatten sie alle dafür gestimmt, dass ich rausgeschmissen würde. Sie wollten im Grunde nicht, dass ich wieder bei ihnen wohnte.
Nachdem ich mir das alles zwei Tage lang angeschaut hatte, wusste ich, dass ich gehen musste. Die feindselige Einstellung der anderen half mir dabei, dass ich mich wegen des Vorfalls kaum noch verantwortlich fühlte. Ich hatte für meinen Moment der Nachlässigkeit mehr als genug bezahlt. Also packte ich meine Sachen zusammen und verließ das Camp unmittelbar nach dem Frühstück. Ich hatte vorgehabt, mich wenigstens von Zoe zu verabschieden, aber sie war nirgends zu sehen. Shaun und Frank hatten das Lager offenbar ebenfalls verlassen. Ich redete mir ein, dass sie mich nicht absichtlich mieden und dass es mir egal wäre, wenn sie es doch täten.
Es war fast eine Erleichterung, in mein kleines Tipi zurückkehren zu können. Dort herrschte eine natürliche Ruhe, nicht jene angespannte, von Missbilligung erfüllte Stille wie im Camp. Ich verstaute meine Sachen im Innern und ging los, um bei der Räucherhütte nach dem Rechten zu sehen. Da ich mich nicht um das Feuer hatte kümmern können, war es ausgegangen, und die Pilze, die ich dort eigentlich zum Trocknen aufgehängt hatte, waren weich und dunkel geworden. Mit Bedauern vergrub ich die verdorbene Nahrung im Wald. Drei Tage Nahrungssuche für die Katz, dabei brauchte ich dringend etwas zu essen.
In meinem Gepäck hatte ich einen kleinen Kalender und strich die letzten drei Tage durch. Die verbleibenden Wochen dehnten sich in Form kaltherziger schwarzer Zahlen. Ursprünglich waren wir im Februar angekommen, würden aber am ersten Januar abgeholt werden – uns bliebe also der kälteste Monat des Jahres erspart. Vor Beginn des Projekts hatte es sich nach Schummelei angefühlt, dass wir nur elf Monate auf der Insel verbringen sollten. Denn es hatte ja immer geheißen, es wäre für ein Jahr, oder nicht? Doch jetzt konnte ich es kaum abwarten, dass Weihnachten endlich vorbei war und das Boot kam, um uns abzuholen. Der Wind, der von der See herüberwehte, schnitt bereits durch meine Kleidung. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie es erst in wenigen Wochen sein würde, wenn der erste Schnee einsetzte.