19. KAPITEL

Schnee lässt die Welt kleiner erscheinen. Als ich noch bei meinen Eltern in ihrem Dorf wohnte, waren wir aufgrund des Schnees tagelang im Haus geblieben. Die Straßen waren spiegelglatt gewesen, niemand hatte gestreut, unser Auto stand ungenutzt in der Auffahrt. Es kam ständig zu Unfällen, jeden Winter.

Auf der Insel war es ähnlich, nur dass ich jetzt nicht in einem Haus mit drei Schlafzimmern, WiFi, Fernsehen, Schränken voller Vorräte und Zentralheizung ausharrte, sondern in einem kleinen Tipi mit Feuerstelle, ohne Toilette und mit nur einem einzigen Roman. Es war das erste Mal, dass ich neidisch war auf Tiere, die Winterschlaf hielten.

In der verräucherten Dunkelheit des Tipis hatte ich mich in meinen Schlafsack gemummelt. Man konnte im schwachen Licht sogar lesen, und ich war froh, dass ich den Medicus mitgebracht hatte. Begeistert las ich die Beschreibungen der sengenden Wüsten und heißen, staubigen Städte und stellte mir vor, wie die Sonne auf mein Gesicht herunterbrannte.

Es gab nur zwei Gründe, mein Tipi zu verlassen: Ich musste zur Toilette oder Holz holen, das ich in der inzwischen stillgelegten Räucherhütte lagerte. Wann immer ich mich nach draußen wagte, war ich überrascht, wie heftig der Wind vom Meer her blies. Es lag nicht allein an der Windstärke, sondern auch an den harten, sandigen Graupeln, die mir die Böen entgegenschleuderten. Nur wenige Augenblicke im Freien reichten, und mir war kalt bis auf die Knochen.

Da ich Bedenken hatte, dass mir das Feuerholz ausgehen könnte, zog ich alle paar Tage widerstrebend los, um im Schnee nach Ästen und Zweigen zu suchen, die ich in der Räucherhütte lagerte. Während ich im verharschten Schnee grub, stieß ich auf die Kamera. Das Blatt des Spatens prallte gegen das Hartplastik, ich bückte mich und zog das Gerät aus dem Schnee. Es handelte sich um eine der Game-Kameras, die man uns bei unserer Ankunft gezeigt hatte. Ich schaute hinauf in die Bäume und entdeckte einen gebrochenen Ast, der vermutlich unter dem Gewicht der Schneelast nachgegeben hatte. Die Kamera war also offenbar aus dem Baum gefallen.

Ich drehte sie in der Hand und überlegte, was ich nun tun sollte. Klar war, dass die beiden Techniker die Kamera noch nicht gefunden hatten. Vermutlich lag sie schon eine Weile hier vergraben unter der Schneedecke. Ich ging davon aus, dass die beiden keine Lust hatten, in der beißenden Kälte über die Insel zu stapfen und nach den Kameras zu schauen. Schließlich hängte ich das lädierte Gerät an einen niedrigen Ast, damit die Techniker sie leichter fanden, wenn das Wetter besser würde.

Jeden Tag strich ich in meinem Taschenkalender ein weiteres Kästchen durch. Das war das Einzige, auf das ich mich freute, abgesehen von heißen Mahlzeiten. Wenn ich nicht las, schlief oder mich zur Latrine traute, gab ich mich Tagträumen hin und überlegte, was ich alles tun würde, wenn ich wieder auf dem Festland wäre, zurück im richtigen Leben. Das war ein Spiel, das ich über Stunden spielen konnte, und auch wenn es mir nicht langweilig wurde, rief es oft ein Gefühl von Traurigkeit hervor und machte mir manchmal sogar Angst.

Unbestritten war, dass das Schlimmste an meinem früheren Leben ich selbst gewesen war. Es gefiel mir überhaupt nicht, wie ich mich dort verhalten hatte, mit meinen damaligen Depressionen und den Wutausbrüchen. Zum ersten Mal seitdem ich bei meinen Eltern ausgezogen war, fühlte ich mich jetzt ganz. Ich hatte das Gefühl, dass mein Leben ohne meine Eltern einen Sinn bekommen hatte. Und obwohl es nicht einfach gewesen war und ich meine Zweifel gehabt hatte, so hatte ich auf der Insel doch eine bestimmte Richtung eingeschlagen. Aber der Gedanke, bald wieder in der richtigen Welt zu sein, fernab der Insel, schürte in mir Zweifel, ob ich dann überhaupt noch wusste, wer ich war.

In der warmen Düsternis des Tipis gab es jede Menge Zeit zum Nachdenken. Ich stellte fest, dass ich mehr und mehr über die Erinnerungen aus meinem echten Leben nachdachte. Wann immer ich über Dinge nachsann, die mir tatsächlich einmal passiert waren, hatte ich das Gefühl, dass ich mich an einen Film oder etwas in der Art erinnerte. Mein früheres Ich fühlte sich wie jemand anders an.

Endlich war Weihnachten. Meine Zeit auf der Insel neigte sich dem Ende zu. Ich hatte vor, dieses Ereignis mit einem Abendessen aus Muscheln und dem Rest meiner Butter zu feiern. Auf dem Festland war Weihnachten eine ganze Weile lang kein Grund zum Feiern gewesen. Als ich allein in meinem Apartment wohnte, bedeuteten die Weihnachtstage für mich ständige Wiederholungen irgendwelcher Krimisendungen und manche Flasche Irish-Cream-Likör. Jetzt, da meine Eltern tot waren, würde es sogar noch schlimmer werden. Ich konnte sie nicht einmal mehr anrufen, um mich zu vergewissern, dass ich nicht vollkommen allein war. Aber auf Buidseach war Weihnachten ein wichtiges Ereignis, etwas, das man feierlich beging, selbst wenn ich allein feiern musste.

Ich stopfte gerade meine Wandersocken mit Hilfe eines kleinen Näh-Etuis, als ich ein Klopfen an den Stützen meines Tipis hörte. Zuerst dachte ich, es wäre der Wind gewesen, dann klopfte es wieder. Tatsächlich, ein Klopfen. Ich schob meine Stiefel zur Seite, die den Plastikvorhang am Eingang beschwerten, und öffnete die »Tür«. Zoe, eingepackt in Strickkleidung und mit Schnee auf dem Anorak, steckte den Kopf herein.

»Gemütlich bei dir, was?«, meinte sie. Ihre Nase war gerötet und lief. »Frohe Weihnachten!«

»Frohe Weihnachten«, erwiderte ich.

»Ich dachte, du würdest vielleicht gern zu uns ins Camp kommen. Wir machen eine kleine Weihnachtsfeier – wäre doch passend, dass wir zusammen feiern, denn das ist die einzige Gelegenheit, ehe wir nach Hause gehen.«

Zoe strahlte richtig vor Freude bei der Aussicht, nach Hause zu fahren. Ich stellte mir vor, dass sie sich bereits Terabytes an Instagram-Posts ausdachte, die sie losschickte, ehe die Show im Fernsehen lief. Zum ersten Mal kam mir in den Sinn, dass ich mich erneut auf Interviews einlassen und Fragen beantworten müsste, auf die ich keine Antworten parat hatte: warum man mich rausgeworfen hatte. Warum ich mich nicht mehr angestrengt hatte. Warum ich nicht bereit gewesen war, mich auf Kompromisse einzulassen. Bislang hatte es sich eher wie eine Therapie angefühlt, etwas Privates. Aber bald würde ich mich vor Hunderttausenden Zuschauern rechtfertigen müssen. Man würde meine Charaktereigenschaften analysieren, mich als Person sezieren.

»Ich weiß gar nicht, was ich mitbringen soll«, meinte ich.

»Bring dich selbst mit! Komm schon, Maddy, es ist Weihnachten! Gute Laune. Vergebung!« Als sie meine Miene sah, seufzte sie. »Schau, wir verlassen ja bald die Insel und … Dies ist unsere letzte Chance, uns wieder zu vertragen. Nach allem, was war, haben wir das doch alle gemeinsam durchgestanden. Am Ende sollten wir daher auch wieder alle zusammen sein. Bitte komm, damit wir eine schöne Zeit haben, ja?«

Ich gab nach. »Also gut. Warte, ich muss nur noch meine Stiefel anziehen.« Ich steckte meine Füße in die gestopften Socken und schlüpfte in die Stiefel. Meine Body-Cam hatte die ganze Zeit an einer Querlatte gehangen und mich gefilmt, daher hatte ich jemanden gehabt, zu dem ich sprechen konnte. Jetzt nahm ich sie und befestigte sie wieder an meiner Jacke. Einer Eingebung folgend, nahm ich das halbvolle Paket mit der Mischung für eine Schokoladencremetorte mit – so ein »nur heißes Wasser hinzugeben und warten«-Zeug. Besser als nichts. Dann stapften wir durch den hohen, verharschten Schnee.

»Wie geht es dir denn so?«, fragte ich, als wir langsam hügelaufwärts gingen.

»Du meinst …« Sie deutete auf ihren Bauch. »Bin mir nicht sicher. Ich hab mich mit Gill unterhalten, und sie meinte, ihre Periode sei auch zu spät gekommen – deshalb ist es vielleicht nur, weil wir eben zu wenig zu essen haben.«

»Wie sieht’s denn provianttechnisch bei euch aus?«, wollte ich wissen.

Zoe schniefte, ließ sich aber Zeit mit der Antwort. Daher schätzte ich, dass es ziemlich schlecht um ihren Proviant stand. Ich war ja in dieser Hinsicht selbst am Limit und bereitete mir Tütennahrung zu, die ich in der Not in vier Portionen aufteilte.

»Wir kommen schon klar. Ein paar Sachen sind verdorben – nicht, dass Maxine dafür die Verantwortung übernehmen würde. Denn sie macht ja nie was falsch.«

Mir dämmerte, dass Zoe mich vielleicht nur eingeladen hatte, um jemanden zu haben, bei dem sie sich über Maxine beschweren könnte. Offenbar war nach meinem Rauswurf doch nicht nur alles eitel Sonnenschein und Gemeinschaftsgefühl gewesen. Maxine machte es sich und den anderen offensichtlich immer noch nicht leicht. Ich fragte mich, ob nun sie das Ziel des allgemeinen Frusts war.

»Alle anderen halten sich an die Kaninchen, ehe wir die Insel verlassen. Und das bedeutet jede Menge Seetang für mich«, sagte Zoe, schnitt aber eine Grimasse. »Allmählich wird es widerlich oben auf der Lichtung – bin heilfroh, dass wir bald abgeholt werden. Einige der Jungs nerven wirklich, weil sie kein bisschen hinter sich aufräumen. Heute haben wir uns aber alle mal ein bisschen angestrengt.« Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander, dann machte Zoe ein schnalzendes Geräusch.

»Ich wollte noch sagen, ehe wir im Camp ankommen … es tut mir leid, ich hätte dich nicht um diese Sache bitten sollen. Und es tut mir leid, was ich über dich gesagt habe, hinter deinem Rücken. Das war echt scheiße von mir, und ich möchte nicht, dass du nach Hause kommst und denkst, dass ich gemein oder hinterhältig war … Es tut mir leid.«

»Danke, Zoe«, sagte ich und versuchte, großherzig zu sein, wobei ich mich zur selben Zeit fragte, welche Absicht dahintersteckte. Sagte Zoe das tatsächlich mir zuliebe oder nur weil die Body-Cam lief? »Mir tut es auch leid, wenn ich an jenem Tag zu direkt war … Es war nur so, dass mich das getroffen hat. Es erinnerte mich an etwas. Aber ich habe wohl überreagiert.«

Zoe runzelte die Stirn. »An was hat es dich erinnert?«

»Mum hat mir oft diese Geschichte erzählt … wahrscheinlich hat sie sich das ausgedacht, um mir Angst zu machen. Damit ich nicht vom rechten Weg abkomme, weißt du? Es ging um dieses Mädchen auf der weiterführenden Schule. Mum meinte, es sei schwanger geworden und wollte nicht, dass seine Eltern davon erfuhren. Daher besorgte sie sich diese zweifelhaften Pillen oder … irgendein Gebräu, das sie online bestellt hatte. Aber es lief alles andere als gut. Sie starb. Das war Mums Lieblings-Schauergeschichte, die sie mir selbst dann noch erzählte, als ich die Schule längst verlassen hatte. All das brachte mich sogar dazu, meine Abschlussarbeit über Pflanzen zu schreiben, die man einsetzen kann, um abzutreiben. Ich fand es auf eine absurde Weise faszinierend, was Pflanzen alles bewirken können.«

Zoe nickte, aber ich ahnte, dass sie mit den Gedanken woanders war: Vielleicht überlegte sie, wann es endlich aufs Festland ging, zu einem Arzt. Ich klopfte ihr ein bisschen linkisch auf die Schulter.

»Das wird schon, keine Sorge.«

»Danke, Maddy.«

Wir erreichten das Camp, und es sah so anders aus als beim letzten Mal, dass ich einen Moment verblüfft war. Der Schnee verdeckte den aufgeworfenen Dreck. Jemand hatte einen groben Kranz aus Kiefernzweigen gewunden und über die Eingangstür gehängt. In der Mitte der Lichtung stand, etwas schief wie ein Betrunkener, ein Schneemann mit einem Eimer als Hut auf dem Kopf. Rauch stieg aus der Öffnung des Dachs, der Duft von Gebratenem hing in der Luft. Aus der Hütte drangen Lachen und Trinklieder.

»Komm, gehen wir ins Warme«, meinte Zoe.

Sie schob den Plastikvorhang zur Seite und schälte sich aus dem schneebedeckten Anorak. Ich folgte ihr ins Innere, zog auch die Jacke aus und schämte mich ein wenig, weil ich seit ein paar Tagen in denselben Klamotten schlief.

»Schaut, wen ich gefunden habe!«, verkündete Zoe, nahm die Strickmütze ab und setzte sich eine Art Krone aus Kiefernwedeln auf den Kopf. Ich spürte, dass alle Augen auf mich gerichtet waren, und errötete. Alle trugen ähnliche Kronen aus Kiefernzweigen oder Efeu, Gill hatte roten Lippenstift aufgetragen, und Zoes Body Glitter hatte erkennbar die Runde gemacht. Alle hatten glitzernde Wangen, Duncan hatte sich etwas von dem Glitter in den Bart gerieben. Ein kräftiger Kiefernast ragte aus einem mit Erde gefüllten Eimer – als Ersatz für den Weihnachtsbaum. Jemand hatte versucht, ihn zu schmücken, mit Kiefernzapfen, in Folie gewickelten Muschelschalen und geflochtener Schnur.

»Frohe Weihnachten«, sagte ich.

»Frohe Weihnachten«, wiederholten die meisten begeistert. Aber nur Shaun lächelte. Ich war mir nicht sicher, ob er lächelte, weil ich wohlauf war oder weil er Zoes Idee gut fand, mich zu Weihnachten aus der Kälte in die Gemeinschaftshütte zu bringen. Ich spürte, dass meine aufkeimende gute Laune zu schwinden drohte. Offensichtlich wurde diese Geste des guten Willens nicht von der ganzen Gemeinschaft getragen. Ich wurde hier nur geduldet. Ich beschloss, eine Weile zu bleiben – jetzt, da Zoe sich schon anlässlich des Fests so sehr um mich bemüht hatte –, wollte mich dann aber entschuldigen und wieder zurück in mein Tipi gehen.

Ich nahm am Feuer Platz und zuckte kurz zusammen, als ich die Knochen in der Glut sah. Kleine Kaninchenknochen lagen dort verstreut, Flammen schossen aus den Augenhöhlen mehrerer verkohlter Tierschädel. Über dem Feuer brieten auch einige Kaninchen, zwei auf rudimentären Spießen. Fett zischte in den Flammen und tropfte auf die Knochen, die bereits abgenagt waren.

Die anderen saßen eng beieinander und beobachteten, wie Shaun die Kaninchenbraten ab und zu über dem Feuer drehte. Tassen standen bereit, und ich sah, wie Andrew eine klebrige Plastikflasche mit Sanddornwein an Frank weitergab, der schon rote Wangen hatte. Mir fiel auf, dass jetzt auf den Regalbrettern an der Wand, wo einst Bücher gestanden hatten, mehrere Flaschen mit Flüssigkeiten unterschiedlicher Farbe aufgereiht waren – von Dunkelrot bis Hellbraun. Vermutlich weitere Experimente des Brauens oder Schnapsbrennens.

Ich kramte das Paket aus meiner Tasche hervor. »Ich habe … eine Art Kuchen mitgebracht.«

Andrew nahm das Paket und betrachtete es kritisch. »Das hab ich dir aber nicht gegeben.«

»Sie hat’s mitgehen lassen«, sagte Duncan. »Hab euch doch gesagt, dass sie Sachen aus der Box genommen hat.«

Mir stieg die Röte ins Gesicht. »Wenn ich es nicht getan hätte, hättet ihr den Kuchen längst aufgegessen, also … nennen wir es ein Weihnachtswunder.«

Shaun nahm Andrew die Packung aus der Hand. »Danke, Maddy«, sagte er und gab Andrew mit einem Blick zu verstehen: »Lass es gut sein!«

»Wer hat Lust auf Scharaden?«, fragte Zoe gut gelaunt. Zu gut gelaunt für meinen Geschmack.

Wir spielten Scharade. Danach wurden Spielkarten hervorgeholt, und wir spielten Elfer raus und Poker. Gesetzt wurden Aufreißlaschen, Knöpfe und Flaschenverschlüsse. Shaun servierte die beiden gebratenen Kaninchen und steckte zwei weitere aus einem Eimer auf den Spieß. Blut tropfte auf die vertrockneten Kiefernzweige, die den Boden bedeckten. Eine Flasche machte die Runde.

Ich probierte den Wein, lehnte dann aber ab, als man mir erneut davon anbot. Das Gebräu roch nach Komposthaufen und hinterließ auf der Zunge einen eigenartig pelzigen Geschmack. Doch die anderen kippten das Zeug in sich hinein. Eine Flasche nach der anderen verließ das Regal an der Wand, immer wieder wurde irgendeine Flüssigkeit in die Blechtassen gegossen. Einige dieser Tränke waren trübe und rochen seltsam vertraut, aber bestimmt nicht nach Wein. Zoe und Gill kicherten immer mehr, Duncan redete lauter und lauter, je mehr er trank. Wir aßen Kaninchen mit den Fingern von Blechtellern. Mehr Tierknochen wurden ins Feuer geworfen, knackten und zischten in der Hitze. Rund ums Feuer dunkle, glasige Augen und vom Bratenfett verschmierte Kinnpartien. Allmählich war mir unbehaglich zumute, ich wusste allerdings nicht genau, warum.

»Lasst uns ein Trinkspiel spielen«, meinte Shaun, als das Fleisch verzehrt war.

»Ich glaube, ich gehe jetzt besser«, flüsterte ich Zoe zu. »Ist schon ganz schön spät.«

»Du kannst die Nacht über hierbleiben«, erwiderte sie. Ihre Wangen waren gerötet vom Feuer, die Krone aus Kiefernzweigen auf ihrem Kopf war verrutscht. »Du kannst jetzt nicht einfach gehen, Maddy. Wir haben doch jede Menge Spaß.«

»Was ist euer Problem?«, fragte Andrew unvermutet scharf.

»Nichts, ich will nur los, bevor es zu dunkel wird.«

»Aber sie kann doch hier übernachten, oder nicht?«, fragte Zoe.

In der nachfolgenden Stille knackte und prasselte das Feuer. Niemand ging auf Zoes Frage ein, niemand sah mich an. Es war klar, dass ich nicht willkommen war, die Hütte mit den anderen zu teilen, an der ich mitgebaut hatte. Nicht einmal für eine Nacht wollten sie mich hier haben.

»In diesem Sinne verabschiede ich mich«, sagte ich und erhob mich. Dann nahm ich die erstbeste Flasche in meiner Nähe und prostete den anderen damit zu. »Danke für ein Jahr gutes Einvernehmen, Leute.«

Ich wandte mich zum Gehen, schnappte mir meine Jacke und schlüpfte hinaus in die Kälte, ehe ich richtig in der Jacke drin war. Ich hörte, wie Zoe meinen Namen rief, aber niemand folgte mir.

Ich bahnte mir meinen Weg durch den Kiefernwald und fluchte, weil ich vergessen hatte, eine Taschenlampe mitzunehmen, nicht einmal an meine Tasche hatte ich gedacht. Wie konnte man nur so blöd sein? Die Kälte der Nacht war wie ein Schock, trotz der Jacke. Das matte Mondlicht, das durch die Wolken brach, wurde vom Schnee aufgefangen und wies mir den Weg.

Mehrmals brach ich mit meinen Stiefeln durch die verharschte Schneedecke und strauchelte. Unter dem Schnee wurden die Furchen und Löcher des Waldpfades sichtbar. Ich befürchtete schon, mir den Knöchel zu verstauchen oder, noch schlimmer, ein Bein zu brechen. Also ging ich langsamer, denn es war ja klar, dass im Ernstfall niemand nach mir schauen würde. Wenn ich stürzte und mich verletzte, würde man mich erst finden, wenn die anderen zum Strand gingen, um auf das Boot zu warten.

Ein paarmal wäre mir fast die Flasche aus der Hand gefallen, die ich mitgenommen hatte, aber ich wollte sie unbedingt mitnehmen. Immerhin war Weihnachten; man konnte kaum etwas anderes tun, als sich zu betrinken. Als das Tipi in Sichtweite war, schraubte ich den Verschluss ab und nahm einen kräftigen Schluck. Kaum hatte ich die Flüssigkeit auf der Zunge, spuckte ich alles in den Schnee, hustete und rang nach Luft. Das war gar kein Wein, sondern Wasser. Aber Wasser, versetzt mit Fliegenpilz. Die Dosis war so bemessen, dass einem nicht übel davon wurde. Es reichte aber, um high zu werden. Gott allein wusste, wie viele Fliegenpilze sie gesammelt, getrocknet und gehortet hatten, für den Fall, dass ihnen der Wein ausging.

Ich wusch meinen Mund mit einer Handvoll Schnee aus und legte mich schlafen. Obwohl ich ein mulmiges Gefühl hatte, wenn ich an meine Rückkehr aufs Festland dachte, würde ich zumindest endlich die anderen los sein.