Der Morgen unserer Abreise war hell und klar wie Glas. Der Himmel ein reines, weites Blau, das jegliche Wärme aufsog, die man ausatmete. Der Neuschnee blendete. Und jeder Atemzug fühlte sich an, als würde man in einer gefrorenen See versinken. Ich merkte mir all diese Eindrücke, ahnte ich doch, dass ich so etwas vermutlich nicht noch einmal erleben würde.
Am letzten Abend hatte ich geweint. Ich war allein, dachte an die lange Fahrt zurück in das normale Leben und ließ meinen Tränen freien Lauf. Die Hände legte ich flach auf den festgestampften Boden meines Tipis, als wollte ich der Insel mitteilen, dass ich sie vermissen würde. Am Vortag hatte ich einen Stein mit einem Loch am Strand gefunden, einen Hühnergott, so glatt wie ein Ei. Ich trug ihn um den Hals, an einem Faden grauer Wolle, den ich aus meinem Pullover gezogen hatte. Ein Andenken an Buidseach. Er sollte mich daran erinnern, wer ich hier gewesen war.
Wir sollten gegen Mittag abgeholt werden, und zwar an genau der Stelle, an der ich und die Frauen ursprünglich abgesetzt worden waren. Es war seltsam, als ich mich erinnerte, wie wir hier als »Jungs« und »Mädels« angekommen waren. Es gab ja immer noch zwei Gruppen: nur, dass ich allein die zweite Gruppe bildete, wenn man das so sagen kann.
Ohne auf die Uhrzeit zu achten, räumte ich das Lager auf und packte meine Sachen zusammen, wobei ich die Sonne im Auge behielt, die höher in den Himmel stieg. Zuerst hatte ich überlegt, mein Tipi auseinanderzubauen, aber das hatte sich irgendwie nicht richtig angefühlt. Stattdessen fegte ich das Loch der Feuerstelle aus und schichtete neue Scheite und Zunderholz auf. Einmal hatte ich über Trapper in Alaska gelesen, die, wenn sie ihre kleinen Unterkünfte verließen, alles für den Nächsten bereitlegten, der eventuell auf der Suche nach Wärme oder Proviant vorbeikam. Zwar war es unwahrscheinlich, dass hier jemand auf mein Tipi stoßen würde, aber es fühlte sich richtig an, es so stehen zu lassen.
Ich brachte mein Gepäck hinunter zum Strandabschnitt, wo wir vor all den Monaten angekommen waren. Dort machte ich ein kleines Feuer, um mich warm zu halten, setzte mich auf meine aufgerollte Schlafmatte und wartete auf das Boot. Ich trug wieder meine Body-Cam. Bei dem Gedanken an die Abreise hatte ich gemischte Gefühle: Auf der einen Seite fühlte es sich an, als würde Rettung nahen, auf der anderen Seite beschlich mich das Gefühl, auf ein Gefängnisschiff zu warten. Es war Zeit zu gehen.
Die anderen trafen ein, als ich das Feuer am Strand angezündet hatte. Seit Weihnachten hatte ich die Leute weder gesehen noch gesprochen, eine Woche war seitdem vergangen. Weihnachten war es in der Hütte nicht hell genug gewesen, um die anderen Gefährten genauer in Augenschein nehmen zu können. Doch an diesem klaren, hellen Morgen sahen sie wie ein zerlumpter Haufen aus. Ich konnte nur vermuten, dass ich in ihren Augen ähnlich verlottert wirkte. Die Männer trugen Bärte, beim einen waren sie dichter, beim anderen spärlicher, das strähnige, ungewaschene Haar fiel ihnen bis auf die Schultern. Einige hatten es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, andere unter ihrem Hut oder ihrer Mütze verborgen. Wir alle hatten elf Monate lang unsere drei oder vier Kleider-Kombinationen getragen und mit der Hand gewaschen. Fast alle Kleidungsstücke wiesen Löcher auf, waren an den Säumen ausgefranst und verblichen. Wir waren alle dünner als damals, hatten nun Schwielen oder Blasen an den Händen. Aber die anderen wirkten zufriedener als bei unserer Ankunft damals. Sie waren froh, wieder nach Hause zu fahren.
Bald saßen wir rund um das Feuer. Die anderen ignorierten mich komplett, abgesehen von Zoe, die mir ein kurzes Lächeln zuwarf. Maxine saß etwas abseits vom Rest der Gruppe. Zoe und Shaun schienen nicht besonders gut aufeinander zu sprechen zu sein; Shaun saß nämlich neben Andrew, Zoe hatte sich ein Stück weit von ihm entfernt direkt neben Gill gesetzt. Vielleicht lähmte sie der Gedanke, dass sie bald in völlig unterschiedlichen Ecken des Landes wohnen würden. Ich bezweifelte, dass Zoe ihm von ihrer vermuteten Schwangerschaft erzählt hatte.
Letzten Endes war es egal, wer wo saß, denn niemand unterhielt sich ernsthaft. Alle Blicke waren auf den Horizont gerichtet, alle warteten auf das Boot. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass jetzt alle Gedanken um Essen, Heizung, Elektrizität und weiche Betten kreisten. Auch ich sehnte mich nach diesen Dingen. Allerdings sehnte ich mir die Welt, die zu all diesen Dingen gehörte, nicht herbei – ich hatte keinerlei Verlangen nach der Person, die ich in dieser Welt gewesen war. Nicht alles, was ich vermisste, würde ich finden, wenn ich wieder auf dem Festland war.
Ich glaube, wir alle ahnten, dass etwas nicht stimmte, als eine Stunde verstrichen war. Zoe meldete sich als Erste zu Wort und fragte, ob wir uns vielleicht im Tag geirrt hatten. Daraufhin holte Maxine einen kleinen Taschenkalender hervor und überprüfte das. Darin stand dasselbe wie in meinem. Wenn wir uns nicht beide verrechnet hatten, war das der vereinbarte Tag, unser letzter Tag auf der Insel. Wo also blieb das Boot?
Wir warteten weiter. Aber da lag eine Spannung in der Luft, eine erwartungsvolle, besorgte Wendung, die so noch nicht zu spüren gewesen war. Das kleine Feuer, das ich gemacht hatte, erstarb, doch ich holte kein neues Holz. Wäre ich losgegangen, um das Feuer zu schüren, hätte ich zugegeben, dass wir dieses Feuer noch brauchen würden. Dass wir eine weitere oder zwei Stunden an diesem Strand ausharren mussten. Obwohl ich die Insel mit zwiespältigen Gefühlen verließ, wollte ich nicht darüber nachdenken, was es bedeutete, noch länger auf Buidseach festzusitzen.
Andrew schaute wiederholt auf die Uhr, unser einziges Zeitmessinstrument. Auch deren winzige Digitalanzeige bestätigte, dass dies der Tag unserer Abreise war. Niemand fragte ihn, wie lange wir schon warteten. Zu lange, lautete die Antwort, und ich denke, dass keiner von uns bereit war, das tatsächliche Gewicht der Zeit in Stunden und Minuten zu wissen.
Schließlich ging die Sonne, dieses brennende weiße Loch im blauen Himmel, allmählich unter. Die Schatten wurden länger, unsere Silhouetten griffen über den Strand bis zu den Bäumen aus. Die Kälte war allen schon lange unter die Kleidung gekrochen. Ich fühlte mich wie eine starre Gliederpuppe.
Es war Zoe, die irgendwann unsere stille Wacht unterbrach. Ihre Frage war kaum lauter als ein leises Wispern.
»Was sollen wir jetzt machen?«
Niemand antwortete. Nicht sofort jedenfalls. Wir hockten einfach nur da und blickten hinaus auf die ruhige, leere See. Dann stand Duncan auf.
»Okay, dann werde ich mal zu diesem Wohncontainer gehen und die beiden Typen fragen, was hier los ist, zum Teufel.«
An die beiden Kameratechniker hatte ich überhaupt nicht gedacht. Natürlich würden sie gemeinsam mit uns abgeholt werden. Immerhin waren sie ja auch mit dem Boot gekommen, auf dem ich gewesen war. Wo steckten die bloß? Ich wollte es gerade sagen, als Andrew mir zuvorkam.
»Kommen die nicht mit uns?«
Duncan überlegte, schien aber nicht zu wissen, was er sagen sollte.
Ich nahm die Chance wahr, das Wort zu ergreifen. »Vielleicht bleiben sie noch, um die Ausrüstung abzubauen oder so was in der Art. Aber wir sollten da jetzt nachhaken – vielleicht gab es eine Verzögerung beim Ablegen des Boots. Das Wetter kann um diese Jahreszeit tückisch sein.«
Niemand erwiderte, dass wir schon lange nicht mehr so einen klaren, hellen Tag erlebt hatten. Es brauchte auch keiner etwas zu sagen. Denn ich wusste genauso gut wie die anderen, dass an einem solchen Tag kein Boot irgendwelche Schwierigkeiten haben würde. Trotzdem, von was sollten wir denn sonst ausgehen?
»Geh zurück zum Camp und mach ein Feuer«, sagte Duncan zu Gill. »Falls wir hier heute Nacht festsitzen, müssen wir was essen. Ich komme zurück, sobald ich weiß, was los ist.«
Ich schnappte mir mein leichtes Gepäck, das ich auf meinen Erkundungsgängen mitnahm, und hängte es mir über die Schultern. »Ich komme mit.«
Duncan sagte nichts, wandte sich zum Gehen und hielt auf den Kieferngürtel zu. Ich folgte ihm, der Schnee knirschte unter den Sohlen meiner Stiefel. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich Duncan sein Schweigen als Starrköpfigkeit ausgelegt oder als Beweis dafür, dass er mich nicht ausstehen konnte. Aber jetzt fühlte es sich eher nach einem ängstlichen Schweigen an, und auch ich verspürte Angst.
Wir erklommen die Anhöhe, bahnten uns einen Weg entlang der ziemlich steil verlaufenden Schlucht und stiegen über umgestürzte Bäume. Absolute Stille im Wald, nur das Knirschen unserer Stiefel. Unser Atem bildete weiße Wolken in der zunehmenden Dämmerung. Als wir die Kuppe der Anhöhe erreichten, von der aus wir den Wohncontainer sehen konnten, war es schon fast ganz dunkel. Ich war auf dem langen Marsch ein Stück weit vor Duncan und wartete am höchsten Punkt, damit er zu mir aufschließen konnte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich diese Situation nicht allein durchstehen wollte. Gemeinsam schauten wir hinunter auf den schneebedeckten Portakabin.
Nirgends brannte Licht.
Ich war froh, dass Duncan nicht irgendwelche Ausreden parat hatte – dass die beiden schon schliefen oder Ähnliches. Da stimmte etwas nicht. Hätten wir das jetzt geleugnet, hätte sich mein ungutes Gefühl nur noch verstärkt. Ohne ein weiteres Wort stiegen wir den Abhang zu der großen Wildwiese runter und stapften weiter durch den Schnee in Richtung Portakabin.
Ich erreichte die Behausung kurz vor Duncan und leuchtete mit meiner Taschenlampe herum. Nichts störte die Stille dort. Nirgends Spuren im Schnee. Auch keine Kuhlen älterer Fußspuren, die vom Neuschnee aufgefüllt worden waren. Der Generator unweit des Containers lief nicht. Ich richtete den Strahl meiner Taschenlampe auf die Tür, und mir stockte der Atem.
Als ich den Wohncontainer das letzte Mal gesehen hatte, war es Sommer gewesen. Ich wusste noch genau, wie ich auf die Behausung in der wild wuchernden Wildnis hinabgeblickt und die Tür gesehen hatte, die ein wenig geöffnet war, um frische Luft hereinzulassen. Jetzt, bei den frostigen Temperaturen und bei neu einsetzendem, leichtem Schneefall, stand die Tür immer noch offen. Ich hörte Duncans Schritte hinter mir – er blieb stehen.
Ich stieß die Tür ein Stück weit mit dem Stiefel auf.
Zum ersten Mal war ich froh, dass es kalt war. Ohne die eisigen Temperaturen wäre der Gestank vermutlich unerträglich gewesen.
Im Innern des Portakabins war es dunkel. Das Licht meiner Taschenlampe wurde von Monitoren und Metallstreben der Inneneinrichtung reflektiert. An der rückwärtigen Wand standen Doppelstockbetten, wie man sie aus Gefängnisfilmen kennt: schlichte und rein zweckdienliche Pritschen. Linker Hand entdeckte ich eine Tür, die vermutlich in ein Badezimmer führte. Neben dieser Tür befand sich eine kleine Küchenzeile. Rechter Hand im Container standen Schreibtische entlang der Wand und jede Menge Monitore. Alle waren abgeschaltet, nicht einmal eine Leuchtdiode war zu sehen. Ein paar Sachen waren zu Boden gefallen: eine Schreibtischlampe, ein paar Bücher, eine Tasse.
Der Fußboden war unter Schneeverwehungen verschwunden, am stärksten bei der Tür. Der Wind hatte Laub hineingeweht. Ziemlich weit vom Eingang entfernt, bei den Pritschen, wo sich die Bettdecke über eine undefinierbare Form wölbte, entdeckte ich eine große bräunliche Lache auf dem Boden.
Entgegen jedem natürlichen Instinkt näherte ich mich diesem Fleck. Meine Stiefelsohlen knirschten in der Dunkelheit. Ich folgte dem Lichtkegel der Taschenlampe und sah tote Fliegen zwischen dem Laub.
Das Bettzeug war besudelt und dann in der Kälte starr geworden. Offenbar war es dieselbe bräunliche Flüssigkeit, die den Boden verunstaltete, doch die Bettdecke verbarg das Gesicht des Mannes in der unteren Pritsche nicht: einer der beiden Techniker, dessen Namen ich zwar gehört, aber vor Monaten schon wieder vergessen hatte. Ich wusste nicht einmal mehr, welcher der beiden Männer, weil sein Gesicht entstellt war: Leere Augenhöhlen starrten zur Decke, der Mund stand unnatürlich weit offen, überall Löcher, wo sich Insekten in die Wangen gebohrt hatten. Ich würgte, wandte mich rasch von dem sich zersetzenden Körper ab, schaffte es zur Tür und kotzte bittere Galle in den reinen Schnee. Wieder und wieder würgte ich, aber es kam nichts mehr. Dann nahm ich eine Handvoll Schnee und hielt ihn gegen mein schweißnasses Gesicht.
Duncan war unmittelbar hinter mir ins Freie gestürzt. Ich sah den Speichel in seinem Bart und wusste, dass auch ihm schlecht geworden war.
»Wie lange …« Er brachte die Frage nicht zu Ende, aber ich schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Monate, vielleicht … Ich denke …« Ich unterdrückte einen weiteren Anflug von Übelkeit – »Ich denke, ich habe das schon mal gerochen … ihn gerochen. Als ich einmal oben auf der Anhöhe war.« Ich deutete vage in die Richtung, aus der wir gekommen waren. »Diese Tür steht schon seit dem Sommer offen.«
»Verflucht«, murmelte Duncan und schaute zum Container. »Was … ich meine, wie …?«
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe nicht nachgeschaut.«
Wir schwiegen, ich spülte erneut meinen Mund mit frischem Schnee aus.
»Wo ist denn der andere?«, fragte Duncan schließlich leise.
Mir drehte sich der Magen. »Im Bad?«
Duncan stapfte zurück zum Wohncontainer. Ich hörte, wie die dünne Badezimmertür innen gegen die Wand schlug, als sie geöffnet wurde. Dann fluchte Duncan.
Ich wollte es eigentlich nicht, aber ich folgte ihm. Er stand wie angewurzelt auf der Schwelle zum Bad. Ich spähte an ihm vorbei und sah eine Gestalt auf dem Fußboden. Einen Toten. Über diesen armen Kerl waren die Insekten noch erbarmungsloser hergefallen. Es war so gut wie kein Fleisch mehr vorhanden. Skelettiert lag er neben der Toilette, eine klauenartige Hand klammerte sich noch an die Schüssel.
Ohne ein Wort zu verlieren, verließen wir den Container und standen draußen im Schnee.
»Was ist hier bloß passiert, verdammte Scheiße?«, rief Duncan. »Die … die können doch nicht tot sein.«
Erst als er es aussprach, schien es real zu werden. Dort lagen zwei Tote im Portakabin. Zwei Männer, die wir auf der Fahrt kennengelernt hatten. Wir waren auf der Insel, mit zwei Leichen. Das Boot war nicht gekommen.
»Das Telefon«, sagte Duncan plötzlich. »Das Funkgerät oder was auch immer. Wo ist es?«
Schon ging er wieder zum Container, ich folgte ihm, wenn auch widerstrebend. Gemeinsam suchten wir im Schein unserer Taschenlampen die Schreibtische und Monitore ab. Auf einem der Tische, näher zur Tür, entdeckten wir eine Ladestation und ein Gerät. Ein Satellitentelefon oder so etwas in der Art. Duncan schnappte es sich und drückte einige Tasten. Dann fluchte er.
»Kein Saft«, sagte er.
Kälte breitete sich in meinem Magen aus. »Der Generator läuft ja auch nicht. Wahrscheinlich kein Diesel mehr.«
»Aber da muss doch noch was sein«, meinte Duncan und leuchtete schon weiter mit seiner Taschenlampe.
»Ich schaue mich draußen um.«
Wir suchten nach Benzinkanistern, im Container und draußen. Aber wir fanden keine; da waren nur die Tanks, die direkt mit dem Dieselaggregat verbunden waren. Die Nadeln der Pegelanzeigen standen auf »Leer«. Nachdem die beiden Männer gestorben waren, war der Generator irgendwann ausgegangen, als die Stromfresser im Container den Treibstoff aufgebraucht hatten. Aber das Produktionsteam musste doch eingeplant haben, dass der Generator Treibstoff verbrauchen würde. Warum hatte man nicht für Nachschub gesorgt?
Ein lautes Knallen ließ mich zusammenzucken. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen und sah Duncan, der wütend auf eine frische Delle in der Außenwand des Wohncontainers starrte. Mit der linken Hand rieb er sich über die lädierte rechte Faust.
»Was zum Teufel?«, keuchte er, ehe er schrie: »Was zum TEUFEL?« Dann schlug er wieder unkontrolliert gegen die Wand. Noch eine Delle. Er fuhr herum, sah mich entgeistert an. »Was ist hier bloß los?«
»Ich weiß es doch auch nicht!«, erwiderte ich, woher sollte ich es auch wissen? »Aber wir sollten es den anderen erzählen.«
Duncans Augen weiteten sich, und ich sah förmlich, wie er meine Worte verarbeitete. Die anderen hatten keine Ahnung von der Horrorshow, die wir hier draußen erlebten. Sie waren zurück im Lager und warteten auf Infos. Duncan warf einen hilflosen Blick zur Tür des Wohncontainers.
»Wir können nichts mehr für sie tun«, sagte ich so sanft wie möglich. »Wir sollten es den anderen erzählen.«
Er nickte und wandte sich dann stumm von mir ab. Ich folgte ihm, und so traten wir den mühsamen Rückweg zum Camp an, niedergedrückt von der schlimmen Nachricht und dem Wissen um die beiden Toten auf der Insel. Was mir allerdings viel mehr zusetzte, war die Frage, was wir nicht wussten. Wo blieb unser Boot? Was machten überhaupt die Leute gerade, die uns auf die Insel geschickt hatten? Und wieso waren zwei gesunde junge Männer so plötzlich gestorben?
Wir erreichten das Camp, in dem niemand zu sehen war. Alle waren in der Hütte, vor dem Eingang türmte sich das Gepäck auf. Die Hütte sah einsam und verlassen aus, jetzt, da keine Schlafmatten oder Kleidungsstücke zu sehen waren. Sie wirkte eher wie eine Tierhöhle, nicht wie die Unterkunft von acht Personen. Das einzige Anzeichen für Zivilisation war der Kessel über dem Feuer, in dem ein Brei aus Grütze und Tang Blasen warf. Gill starrte in den Kessel, als wäre sie ganz gefesselt von dem blubbernden Schleim.
»Wir … wir müssen euch etwas sagen«, begann Duncan und rieb sich die aufgeschürften Knöchel der rechten Hand. »Die Kameratechniker, sie sind … sie sind tot. Schon länger. Sie … sind beide schon länger tot.«
Eine Woge des Entsetzens lief durch die am Feuer kauernden Personen.
»Was ist denn mit dem Telefon?«, fragte Andrew. »Mit dem Boot?«
»Das Satellitentelefon ist tot«, sagte ich. »Der Generator hat keinen Sprit. Da funktioniert gar nichts mehr.« Ich atmete tief durch und überlegte, wie die folgenden Worte auf die anderen wirken würden. »Wir haben keine Benzinkanister beim Container gefunden. Das bedeutet, dass die beiden es mit dem Sprit gar nicht bis heute geschafft hätten. Irgendetwas muss Strom verbraucht haben, selbst wenn es nicht die beiden waren. Sie hätten schon vor längerer Zeit keinen Sprit mehr gehabt, bei dem Strombedarf … Aber niemand hat neuen Sprit geliefert.«
Schweigen senkte sich herab. Zoe fing an zu weinen.
»Ich denke«, sagte ich mit Bedacht, »dass die beiden ungefähr zur selben Zeit gestorben sind. Sie haben gar nicht erst versucht, uns um Hilfe zu bitten, und offensichtlich haben sie auch keinen Notruf zum Festland absetzen können.«
Ich fügte nicht hinzu, dass sie vielleicht doch um Hilfe gebeten hatten – und nur keine erhielten. Das war eine Option, die ich jetzt nicht zur Diskussion stellen wollte, jedenfalls nicht, solange alle unter Schock standen.
»Aber wie sind die denn …«, setzte Andrew an und brach dann ab.
»Ich weiß es nicht. Wir haben die beiden nicht … untersucht. Aber der eine lag auf dem Bett, der andere neben der Toilette … was bedeuten könnte, dass sie krank waren? Oder etwas hatte sie krank gemacht.«
»Gift.«
Ich merkte, dass Gill mich anstarrte, ihre Miene war schwer zu deuten, bei all den Emotionen, die diese Frau offenbar durchlebte.
»Was sagst du?«
»Vielleicht sind sie vergiftet worden«, sagte Gill.
Ein Schauer lief mir über den Rücken. »Es könnte schon sein, dass sie eine Kohlenmonoxidvergiftung hatten, von dem Generator, aber … das halte ich für unwahrscheinlich, da das Aggregat draußen steht.«
Gill starrte mich weiterhin an. Ich widmete meine Aufmerksamkeit den anderen und redete mir ein, dass Gill noch unter Schock stand und keinen klaren Gedanken fassen konnte. »Wir wissen nicht, was mit den beiden passiert ist. Oder warum das Boot heute nicht gekommen ist. Aber unter Umständen gibt es ja einen Grund, warum das Boot nicht ablegen konnte. Vielleicht ist es also morgen da. Bis dahin müssen wir die Ruhe bewahren.«
Die nachfolgende Stille wurde nur von Zoes Schluchzern unterbrochen.