Irgendwann im Hochsommer, als die Tage lang und heiß geworden waren, zog ich mit meinem Lager zum Strand.
Es sollte nur vorübergehend sein. Ich brauchte Salz, um Proviant einzulegen. Um an Salz zu kommen, brauchte ich Meerwasser, und zwar jede Menge. Die Eimer hinauf zum Camp zu schleppen wäre vergeudete Zeit und Mühe. Das Vorhaben brauchte einfach viel Zeit, ließ sich aber relativ leicht durchführen. Ich goss Eimer voll Salzwasser durch Lumpen, damit der Sand hängenblieb. Danach musste ich das Wasser nur noch kochen, bis es verdunstete.
Nach ungefähr einer Woche hatte ich eine respektable Menge leicht verfärbter Salzkristalle in einem Glas. Ich brauchte noch viel mehr, aber es war ein guter Anfang. Nebenbei hatte ich eine große Sammlung zerbrochener Pflanztöpfe, Plastikflaschen, Einmal-Besteck und Seile angehäuft. Nun hoffte ich, mehr Eimer und Behälter zu finden, um Wasser aufzubewahren.
Auf meiner Suche gelangte ich zur Nordspitze der Insel. Diese Gegend hatte ich gemieden, weil dort der Portakabin stand. Aber dort ragten auch die meisten schroffen Felsen aus dem Wasser, in denen sich erfahrungsgemäß jede Menge Treibgut sammelte. Ganz bis ans Meer zu gelangen erwies sich als mühsam, weil der Boden an den meisten Stellen unter dem Ansturm der Naturgewalten weggebrochen war. Auf diese Weise hatte sich das Steilufer gebildet. Ich ließ mir Zeit und nutzte ein Seil mit Knoten, das ich um einen Baum band und daran nach unten beziehungsweise wieder nach oben kletterte.
Mit der Zeit hatte ich gelernt, an den niedrigsten Stellen des Steilufers bis zum Strand zu gelangen. Später beschloss ich, es auch mit den höchsten an der Nordspitze der Insel zu versuchen. Als ich dort oben stand und hinabblickte, hatte ich meine Zweifel. Bis nach unten waren es mindestens zwanzig Meter, vielleicht mehr. Bei einem Sturz aus dieser Höhe würde ich mich schwer verletzen, wahrscheinlicher sogar den Tod finden. Fast hätte ich mich wieder vom Steilufer abgewandt, wenn ich nicht im letzten Moment etwas Interessantes entdeckt hätte, das dort unten zum Spielball der Wellen geworden war. Es sah aus wie ein Eimer, ein Behälter; recht groß und aus Kunststoff. Eine Art Abfalleimer mit Klappdeckel, wie ich ihn auch in der Küche meiner kleinen Wohnung gehabt hatte. Etwas von dieser Größe würde eine Menge Wasser fassen.
Ich verzurrte mein Kletterseil. Dieser Behälter war ein nützliches Ding, und es wäre dumm, wenn ich zuließ, dass er zwischen den Felsen zertrümmert wurde. Ich würde einfach gut aufpassen müssen. Immerhin hatte ich inzwischen Übung im Klettern, und es war hier nicht ganz so tief. Mit einem zweiten Seil, mit dem ich den Behälter hochziehen wollte, begann ich mit dem Abstieg.
Auf halbem Weg nach unten merkte ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Es ging doch tiefer hinab, als es von oben den Anschein gehabt hatte. Außerdem war der Steilhang nicht so fest wie die anderen Stellen, an denen ich nach unten geklettert war: viel abbröckelnde Erde, kaum Felsgestein oder harter Kreidefelsen. Überall gab es kleine Löcher, vielleicht von irgendeiner Vogelart. Der Wind frischte auf und brachte das Seil zum Pendeln. Stücke des Erdreichs brachen ab, als ich mit einem Fuß Halt suchte. Mehr als einmal verlor ich den Halt und merkte, wie das Seil zwischendurch hin und her schwang.
Als meine Füße endlich festen Boden berührten, zitterten mir die Beine. Ich brauchte einen Moment, bis sich mein Atem wieder etwas beruhigt hatte, und schaute mich dann nach dem Kunststoffbehälter um. Ich kam zu dem Schluss, dass dies eine einmalige Tour sein sollte. Hoffentlich hatte sich die Mühe gelohnt.
Glücklicherweise war das Ding noch intakt. Der Kunststoff war ein bisschen verblichen, an den Kanten entdeckte ich Schrammen, aber es würde als Wasserbehälter taugen. Nach einigen Versuchen gelang es mir, meinen Gürtel um den Behälter zu schnallen, ehe ich das zweite Seil daran befestigte. Nicht sonderlich stabil, aber ich glaubte, dass es halten würde, bis ich wieder oben wäre. Als ich mir klarmachte, dass ich nicht noch einmal an dieser Stelle hinabklettern würde, blickte ich mich um, falls es noch etwas gab, das ich gebrauchen könnte.
Zu meiner Enttäuschung sah ich nicht viel. Der Abfalleimer war das einzige größere Objekt. Die üblichen Flaschenverschlüsse und Eisstiele dümpelten im Wasser, aber sonst entdeckte ich nichts Brauchbares. Ich war im Begriff, wieder nach oben zu klettern, als ich etwas Farbiges aufblitzen sah, fast verdeckt von Tang. Nachdem ich einige Büschel Blasentang entfernt hatte, fiel mein Blick auf ein Stück Stoff, rosa und dunkelrot, das unter einem runden Stein lag. Neugierig hob ich den Stein hoch. Er war leichter, als seine Größe hatte vermuten lassen. Einen Moment war ich verdutzt, betrachtete meinen Fund und ließ ihn dann fallen, als hätte mich etwas gebissen.
Der Schädel schlug auf den Kieselsteinen auf und rollte ein Stück weit, bis die leeren Augenhöhlen mich anstarrten. Eine kleine Krabbe bewegte sich im Innern. Ich schaute mich um und entdeckte andere Dinge, die ich bisher für Treibholz gehalten hatte, deren wahre Natur ich aber erst jetzt erkannte: gebleichte Knochen, verstreut in den nassen Kieselsteinen. Ich bückte mich und hob das Stück Stoff auf. Es war aus Seide; von einem Tuch, das man sich um den Kopf band. Unter dem Seidentuch, halb vergraben in dem feinen, grauen Sand, lag eine zerbrochene Brille. Zoes Brille.
Mein Blick ging zurück zu dem Schädel und der seitwärts fliehenden Krabbe. Das war Zoes Schädel, von der Sonne gebleicht, umhergestoßen von Ebbe und Flut. Ich stand inmitten ihrer Knochen. Als ich wieder hinauf zum Steilufer sah, ließ ich die Strecke von der Kante bis zum Strand auf mich wirken. Ich dachte an den kleinen Grabstein, der, wie ich mir überlegt hatte, zum Grab der »kleinen Bea« gehörte. Mir fiel wieder ein, wie vernachlässigt die Stelle ausgesehen hatte, wie merkwürdig es war, dass Shauns Grab überwuchert war. Waren die beiden Grabstellen nur deshalb so vernachlässigt worden, weil Zoe nicht mehr da gewesen war, um sich drum zu kümmern?
War sie von dort oben gesprungen? Oder, schlimmer noch, hatten die anderen sie hier hingeworfen, nachdem sie die Geburt ihres Kindes nicht überlebt hatte? Wenn die anderen bereits zu erschöpft und hungrig gewesen waren, um Holz zu hacken, hatten sie dann darauf verzichtet, ein Grab auszuheben, und Zoe stattdessen von der Klippe ins Meer gerollt? Die Knochen erschienen mir zu klein, sie konnten unmöglich zu der Person gehören, die ich gekannt hatte. Zoe war doch so viel mehr gewesen als diese wenigen Überbleibsel. Ich starrte auf die Knochen, und die Gewissheit, dass auch Zoe tot war, erfasste mich mit voller Wucht. Sie lebte nicht mehr, und dies hier war alles, was von ihr geblieben war.
Ich konnte sie nicht einfach dort lassen.
Unter meinem T-Shirt trug ich ein Tank-Top. Es war verschlissen, aber brauchbar. Ich breitete das T-Shirt auf dem Boden aus und fing an, die Knochen einzusammeln. Wie es schien, waren viele bereits weggespült worden. Die meisten Überreste waren lange Einzelknochen. Fast wirkten sie auf mich wie Attrappen. Ich musste mich überwinden, den Schädel an mich zu nehmen und auch das, was von einer Hand übriggeblieben zu sein schien. Denn beides, Schädel und Handknochen, machte es so bewusst, dass ich es mit menschlichen Überresten zu tun hatte. Letzten Endes schnürte ich das Shirt wie ein Bündel zusammen und legte es vorsichtig in meinen Rucksack.
An dem Seil hinaufzuklettern war schwieriger, als nach unten zu klettern. Ich brauchte Halt für meine Füße, aber die Stellen, die ich fand, zerbröselten, sowie ich einen Fuß darauf setzte. Meine Arme begannen zu brennen, weil ich mein Gewicht halten musste, und ich fürchtete, mich nicht mehr halten zu können, bevor ich oben ankam. Als ich endlich meine Hände in die Grasnarbe krallte und mich nach oben zog, lag ich eine ganze Weile ausgestreckt auf dem Rücken und spürte, wie mein hämmernder Herzschlag nur allmählich langsamer wurde.
Nachdem ich auch den Abfalleimer hochgezogen und meine Seile eingesammelt hatte, eilte ich zur Lichtung. Ich wusste, dass ich erst dann Ruhe fand, wenn Zoe ordentlich neben ihrem Baby und Shaun lag. Es war gerade genügend Platz neben seinem Grab, um Zoe zu bestatten, mit Bea zu den Füßen der beiden. Aber als ich im Begriff war, Zoes Knochen zur letzten Ruhe zu betten, fühlte es sich irgendwie falsch an, sie in die Erde zu legen. Ich betrachtete die sterblichen Überreste und stellte mir zum ersten Mal vor, wie die Krabben und Möwen das Fleisch von den Knochen gepickt haben mussten. Bei diesem Gedanken zuckte ich zusammen. Das wollte ich nicht sehen. Ich wollte etwas Schönes in Erinnerung behalten. Sie hatte es verdient.
Ich ging in die Hütte und durchsuchte den ganzen Kram, den ich so weit wie möglich von meinem Schlaflager entfernt zusammengetragen hatte. Für dieses Zeug hatte ich keinerlei Verwendung; es handelte sich um persönliche Sachen, die die anderen zurückgelassen hatten. Das meiste war nutzlos: Andrews Uhr, die nicht mehr lief, ein Kartenspiel, ausgetrocknete Kugelschreiber, zerbrochene Sonnenbrillen und natürlich die kaputten Body-Cams. Ich durchsuchte den Kram, bis ich Zoes Sachen fand.
Es war nicht viel; Haarbänder, eine kleine Dose mit getrocknetem Glitter, eine schwarz angelaufene Halskette, ein Klappspiegel und einige der Gefäße, die sie getöpfert hatte. Die meisten Schalen waren zerbrochen, aber zwei waren noch ganz. Ich fand auch eine kleine Tonfigur, konnte mich aber nicht erinnern, dass Zoe sie gefertigt hatte. Es war eine kleine Frau mit rundem Bauch, vollen Brüsten und einem neutralen Gesichtsausdruck; die Figur saß im Schneidersitz. Der Ton war schwarz versengt von Feuer. Ein Schauer durchrieselte mich.
Draußen verteilte ich Blüten von Dornbüschen rund um das Loch und stellte die Gegenstände an den Rand. In der Mitte arrangierte ich die Knochen und legte den Schädel an die Spitze. So kam es mir irgendwie passender vor: Ich wollte es für Zoe so schön wie möglich machen.
»Du hast Besseres verdient als das hier …« Ich merkte, dass ich ins Stocken geriet. »Es tut mir leid, es tut mir so leid.« Meine Stimme verlor sich in einem Wimmern, und ich fing an zu schluchzen. Als ich beide Arme um meinen Leib schlang, hörte ich einen leisen beruhigenden Laut, als wollte der Wind mir Trost spenden. Ich schaute auf. Es war windstill, die Zweige der Bäume bewegten sich nicht.
»Sie hat Besseres verdient«, sagte ich, zu den Kiefern und den Schatten im Wald. »Dieser Ort hier … warum musste er nur so grausam sein?«
Die stummen Bäume regten sich fast unmerklich in der leichten Brise. Ich spürte etwas, ganz in meiner Nähe, hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich wusste, dass meine Worte nicht der Wahrheit entsprachen. Die Insel war nicht grausam. Die Insel war einfach nur eine Insel.
»Was wird aus mir, wenn ich sterbe? Wo niemand da ist, um mich zu bestatten? Oder verschwinde ich, wird mich die Hexe holen? Wird es je ein Mensch erfahren?«
Ein Lied drang aus den Schatten des Waldes. Es war, als käme es von den Bäumen selbst. Vielleicht war dem auch so. Wer vermochte schon zu sagen, zu was für Dingen die Hexe fähig war? Singende Bäume, Gesichter im Feuer, Wispern im Dunkeln. Aber nichts davon fühlte sich grausam an. Wie die Insel war die Hexe einfach nur da. In ihr war nichts, was nicht auch von diesem Ort stammte. Und ich gehörte ebenfalls dazu. Ich war inzwischen Teil der Insel. Vielleicht war das der Grund, warum ich sie hören konnte.
Ich bedeckte die Knochen mit loser Erde. Die Blüten würden sich bräunlich verfärben und verwelken, aber ich würde sie als weich und vollkommen in Erinnerung behalten. Schön, genau wie Zoe. Ich verließ die Lichtung und machte mich auf den Weg, um nach meiner Feuerstelle zu sehen.
Am nächsten Tag lag die Frau aus Ton auf dem Grab. Ich konnte mich nicht daran erinnern, sie dorthin gelegt zu haben.