Nach Zoes Bestattung fing ich an, häufiger mit der Hexe zu reden. Ich erzählte ihr von den Pflanzen, die ich fand, von dem Unkraut, das ich jätete. Ich kommentierte den Himmel, das Wetter und die Schemen im Rauch meines Feuers, als wären es Vorzeichen, die man deuten konnte. Die Hexe war die einzige Freundin, die ich hatte, die einzige Person, mit der ich reden konnte.
Dabei war mir klar, dass sie nicht real war. Doch manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich nach ihr in den Schatten des Waldes Ausschau hielt, als würde sie jeden Augenblick aus dem Dickicht treten und mir helfen, eine Ladung Holzscheite zu schleppen. Ich spürte, dass sie mich beobachtete, und fand das tröstlich. Wirklich oder nicht, eine andere Person in meiner Nähe zu wissen sorgte dafür, dass ich mich nicht mehr so allein fühlte, und genau das musste der Grund gewesen sein, warum mein Hirn die Hexe so oft heraufbeschwor. Vielleicht verlor ich allmählich den Verstand, aber solange ich mich warm halten und mit dem Nötigsten versorgen konnte, kam ich schon irgendwie damit klar, eine imaginäre Freundin zu haben.
Auch wenn sie manchmal antwortete.
Was das Überleben betraf, so sah es recht gut für mich aus. Die Hütte gewann im Innern wieder Konturen. Ich hatte neue Regale angebracht, gefertigt aus Stücken von Holzklötzen und Planken, die an der Küste angespült wurden. Diese Regale waren zwar etwas schief, boten aber Platz für meine Vorräte. Ich hatte jetzt Gläser mit Salz, getrocknete Pilze und etliche Bündel getrockneten Tangs. Der Gemüsegarten hatte sich gut entwickelt, und ich freute mich schon wahnsinnig darauf, reife Tomaten einzumachen; ich wollte sie kleinhacken und in Salz einlegen und dann zu jeder Mahlzeit essen. Die Kürbisse wären gegen Ende des Sommers reif, und ich konnte mich auf mehr Abwechslung freuen.
Ich hatte eine neue Räucherhütte gebaut und fing an, mit einer kleinen Menge Kaninchenfleisch zu experimentieren. Es hatte eine Weile gedauert, aber ich war davon überzeugt, eine Methode gefunden zu haben, mit der ich Fleisch für mehrere Monate haltbar machen konnte. Ich hatte auch ein paar Kaninchenfelle haltbar gemacht und arbeitete an einer Art Türvorhang, um die kalte Luft fernzuhalten, wenn der erste Schnee kam. Die Felle waren rau auf der Innenseite und rochen unangenehm, aber das Bedürfnis nach Wärme war es wert. Außerdem hatte ich selbst schon übler gestunken.
Ich kam gerade von einem Erkundungsgang bei den Gezeitentümpeln zurück, als ich das Boot sah. Es lag auf dem Strand und hob sich leuchtend weiß vom dunkleren, grobkörnigen Sand ab. Es war sehr viel kleiner als das Boot, das uns einst zur Insel gebracht hatte, und sah seltsam aus – so künstlich und fremdartig. Einen Moment lang konnte ich nicht glauben, dass es real war.
Abgesehen von dem Boot war alles andere wie immer. Es war still, niemand war zu sehen. Das Boot hätte genauso gut vom klaren, blauen Himmel gefallen sein können – zum damaligen Zeitpunkt hätte das für mich absolut Sinn ergeben. Erst als ich mich näher ans Boot heranwagte, sah ich die Fußspuren im Sand. Von zwei Personen.
Ich streckte die Hand aus und berührte die glatte weiße Bootswand. Vorsichtig, als wäre es ein wildes Tier. Die Bordwände waren trocken. Das Boot lag demnach schon eine Weile hier.
Dieses Boot ist wie ein Felsen in einem Fluss. Um diesen Felsen teilt sich meine Story und bildet kleine Verwirbelungen. Sie fließt in die eine Richtung, die Realität in die andere. Es gibt die Wahrheit, und dann gibt es da die Version, die ich später erzähle. In der Version, die ich erzähle, klettere ich ins Boot, wie verrückt angetrieben von dem Verlangen zu entkommen. Ich segle fort, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Erst später geht mir auf, dass das Boot jemandem gehört haben musste. Erst später frage ich mich, wem.
Die Wahrheit ist eine trügerische Sache, eine bittere Angelegenheit, die während des Erzählens versüßt werden kann. Eine bittere Pille, überzogen von Honig, damit sie besser zu schlucken ist. Ich habe die Mixtur perfektioniert, und das funktioniert bei jedem: bei der Polizei, den Geschworenen und jetzt bei Rosie.
Dies aber ist die Erinnerung, zu der ich zurückkehre, wenn die Albträume mich im Dunkeln wecken. Die wahre Geschichte. Die einzige Sache, die mich daran erinnert, dass ich in Sicherheit bin. Und mich daran erinnert, dass die einzige Gerechtigkeit, die ich erwarten kann, bereits zugemessen wurde.
»Wohin sind sie gegangen?«, wisperte ich lauter als beabsichtigt und ertappte mich dann dabei, auf eine Antwort zu warten, als könnten mir der Wind oder die Bäume erzählen, was sie sahen. Was sie über jene Fremden wussten.
»Wenn es überhaupt Fremde sind.«
Unbehagen breitete sich in meinem Bauch aus. Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, fühlte sich das seltsam an. Hatte ich gesprochen oder die Hexe? Ich presste die Lippen aufeinander. Es war schwer zu beurteilen, wann ich etwas laut sagte oder wann sie etwas sagte. Wie dem auch sei, ich musste in Erfahrung bringen, wer zur Insel gekommen war.
Ich ging den Spuren nach, brauchte ihnen aber nur bis zu einem bestimmten Punkt zu folgen. Es war offensichtlich, dass die beiden Leute aus dem Boot zur Lichtung gegangen waren, und zwar auf dem Pfad, den wir alle beim ersten Mal genommen hatten, als wir die Insel erkundeten. Dies waren keine Fremden. Sie kannten den Weg.
Als ich bei der Hütte ankam, hörte ich Stimmen im Innern. Sie diskutierten. Ich stand da, atmete langsam ein und aus. Zwei der anderen Inselbewohner waren zurückgekehrt. Sie waren in meinem Haus. Ich konnte ihnen nicht entkommen. Ich war wie erstarrt.
»Hilf mir«, flüsterte ich. »Bitte, hilf mir, das durchzustehen.«
Ich schluckte meine Angst herunter und machte einen Schritt auf die Hütte zu. Der zweite Schritt fiel mir schon leichter, über den dritten dachte ich kaum noch nach. Ich hörte ihre Schritte. Ich war nicht allein.
Ich schob den Vorhang beiseite und trat ein.
Es war seltsam, sie wieder aus der Nähe zu sehen. Vielleicht erging es ihnen auch so. Wir starrten einander an, gefühlt eine ganze Minute. Dann lachte Duncan. Es war ein scharfes, bellendes Lachen, das mich zusammenzucken ließ, weil es so unerwartet kam.
»Hab ich’s dir doch gesagt«, sagte er zu Andrew. »Es konnte doch nur sie sein. Schaben und das Miststück. Nicht totzukriegen.«
Andrew saß auf meinem Stuhl, Duncan hatte es sich in der Mitte meines Schlaflagers bequem gemacht. Beide waren erst kürzlich beim Friseur gewesen und trugen kurze, gepflegte Bärte. Sie besaßen neue Kleidung, von guter Qualität; dicke Jacken und robuste Wanderschuhe. Sie hatten sich den Tisch so zurechtgerückt, dass sie beide daran sitzen konnten. Die beiden Becher verrieten mir, dass sie sich den Christmas Brandy hatten schmecken lassen. Duncan folgte meinem Blick und prostete mir mit der fast leeren Flasche zu.
»Willkommen daheim – und cheers .«
»Cheers!«, wiederholte Andrew und hob spöttisch zum Gruß ein Jagdgewehr. Mir drehte sich der Magen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie bewaffnet sein könnten.
»Diesmal haben wir Vorkehrungen getroffen«, sagte Duncan, als er sah, wohin mein Blick ging. Andrew gab ein Schnauben von sich. »Natürlich wussten wir nicht, dass wir hier nicht allein sein würden. Aber wenn ich eins gelernt habe, dann, dass man mit allem rechnen muss.«
»Ihr dachtet, ich wäre tot«, sagte ich. Meine Stimme klang angestrengt. Ich wünschte mir, dass sie kräftiger wäre.
»Da waren wir uns ziemlich sicher. Als diese Arschlöcher endlich aufhörten, sich nur um sich selbst zu drehen, und ein Boot schickten, dachte ich, du würdest schon kapieren, dass wir fort waren, und dich freigraben. Aber da war nichts auf der Insel für dich, deshalb … Ja, wir dachten, du wärst tot.«
»Und die anderen?«, fragte ich. »Wo sind sie?«
»Wieder zu Hause«, antwortete Duncan. »Allerdings nicht Shaun, denn den hast du ja umgebracht.«
Ich war kurz davor, zu widersprechen, doch dann hörte ich sie. Ein leises seufzendes Atmen an meinem Ohr. Wie ein »Pst!«, das mich weiterhin schweigen ließ. Sie hatte recht, es war zwecklos, sich mit ihnen anzulegen. Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange und schwieg, abwartend.
Duncan verdrehte die Augen, als langweilte ich ihn. »Frank ist auch tot – aber das weißt du ja. Das Grab drüben im Garten wirst du gesehen haben. Als wir wieder nach Schottland kamen, kehrte Maxine zu ihrem Mann zurück. Gill ist zu ihrer Schwester gefahren. Gut, dass wir die los sind!«
»Wie sieht es dort draußen aus?« Ich ärgerte mich sofort wegen dieser Frage.
Duncan zog die Augenbrauen hoch, ehe er lachte. »Gott, du hast keinen Schimmer, oder? Hast du wirklich gedacht, die Zombies wären gekommen, um alle zu töten? Oder dass es Bomben gehagelt hat? Nun, du hattest wohl genügend Zeit, um deiner Fantasie freien Lauf zu lassen, wie?«
Ich biss die Zähne zusammen, wollte mir nichts anmerken lassen. Innerlich fühlte ich mich klein und sehr, sehr dumm. Hatten sie gesagt, »sie« hätten endlich ein Boot geschickt? Hatte ich mich denn die ganze Zeit geirrt?
Duncan schnaubte verächtlich. »Es war ein verdammter Trick. Sie hatten von Anfang an geplant, uns bis Februar auf der Insel zu lassen. Für die Einschaltquoten, für den ganzen Trubel. Sie ließen unsere Familienangehörigen wissen, die Drehtage seien verlängert worden. Ein Monat zusätzlich, was ist daran schon auszusetzen? Als könnten sie tatsächlich nachvollziehen, wie es hier war.«
»Aber sie sind nicht gekommen«, sagte ich. »Im Februar kam kein Boot.«
»Ja, nun«, erwiderte Duncan. »Dieses Flugzeug stürzte Mitte Februar vor der Küste ab. Adrian und Sasha …«, aus seinem Mund klangen die Namen wie Flüche. »Die beiden versuchten, den Kameratypen über Funk mitzuteilen, sie sollten dafür sorgen, dass keine Rettungsboote hier auftauchten. Denn das hätte ja die Show gestört. Und als sie dann aufhörten, den eigenen Arsch zu retten und in Panik zu geraten wegen des Flugzeugabsturzes und warum diese Typen sich nicht meldeten und endlich ein Boot losschickten, war es zu spät. Zuerst hast du Shaun getötet, dann hatte Frank so was wie einen Schlaganfall. Und jetzt sind die uns was schuldig, aber so richtig! Und sie zahlen ordentlich, versuchen, alles zu vertuschen. Shauns Eltern kriegen eine Entschädigung für den ›Unfall‹. Uns bieten sie Geld, damit wir den Mund halten. Ich überlege, ob ich dauerhaft auf Mallorca wohnen werde.«
»Und was war mit Zoe?«
»Oh ja, die.« Er seufzte. »Tja, sie hat den Verstand verloren, verdammt. Nach der Sache mit Shaun kam man nur noch schwer an sie ran. Aber dann kam das Kind, und das war ein Albtraum – hat sich stundenlang hingezogen. Geschrei und all das. Dann ist alles … schiefgelaufen. Man konnte nicht mehr mit ihr reden. Sie hockte einfach nur da, sagte kein Wort, hat dich nicht mal mehr angesehen. Das kann man nicht gerade gebrauchen, wenn alle anderen ihren Job machen. Dann hat sie sich irgendwann in die Tiefe gestürzt.«
Meine Augen brannten, ich blinzelte die Tränen fort, die sich zu sammeln begannen. Ich musste einen klaren Kopf behalten.
»Ist ja nicht deine Schuld«, sagte Duncan. »Unsere auch nicht. Wir konnten sie nicht dauernd im Auge behalten. Es war nicht unser Job, sie davon abzuhalten, sich das Leben zu nehmen. Außerdem, jetzt kriegt ihre Familie eine hübsche Abfindung. Sie brauchen nicht mehr drauf zu warten, dass sie sich endlich von ihrem Traum verabschiedet, eine ›Influencerin‹ zu werden«, sagte er mit Verachtung in der Stimme. »Sie sind also jetzt besser dran.«
»Und jetzt seid ihr hier«, sagte ich, und in meinem Kopf arbeitete es – weil ich nach dem Grund suchte.
»Wegen des Servers«, meinte Duncan und grinste.
»Aber der Generator war doch …«
»Der war für alles im Portakabin. Das Funkgerät war nicht mehr zu gebrauchen, aber der Server hatte ein Solar-Modul. Hat alles gespeichert. Sie haben einen Daten-Download gemacht, als sie kamen, um uns zu holen. Aber diese Server sind immer noch da.«
»Ihr seid gekommen, um die Server zu zerstören«, sagte ich und begriff plötzlich. »Die vertuschen alles, aber ihr wollt sichergehen, dass auch wirklich alles gelöscht wird. Damit nicht nach außen dringt, was ihr getan habt. Was ihr mir angetan habt.«
In all der Zeit, als das Boot nicht kam, hatte ich die Body-Cam laufen lassen. Bis zu der Nacht, als Shaun starb, jener Nacht, als ich lebendig begraben wurde. All das war noch aufgezeichnet worden. Ich hatte geglaubt, das würde mich retten, doch jetzt schien das der einzige Grund zu sein, warum meine Peiniger zurückgekehrt waren. Damit die Welt nicht erfuhr, wie sie mich aushungerten, mich angriffen, mich durch den Wald jagten.
In der folgenden Stille knisterte das Feuer, und Duncan sah mich an. Ich zwang mich, mich nicht zu bewegen und nicht zu blinzeln. Ich stand einfach nur da und wartete.
»Schau, ich weiß, dass viel Frust im Spiel war, auf beiden Seiten«, sagte er. »Aber du musst wissen, was wirklich passiert ist. Ich meine – es war hart, eine Zeit lang. Alle waren verzweifelt und erwarteten, dass ich die Führung übernehme und uns da durchbringe. Aber ich konnte sie nicht aufhalten, wenn sie sich einmal was in den Kopf gesetzt hatten. Und Gill, tja, die sagte dauernd, du würdest Proviant klauen … dass du die Kameratypen getötet hattest … Und dann ist die Sache aus dem Ruder gelaufen.«
Ich nickte, fühlte mich steif und taub wie eine Puppe. Eine ungeahnte Spannung baute sich in mir auf, bis meine Gelenke schmerzten.
»Aber jetzt sind wir alle wieder in der Realität. Wir haben ausgesorgt, und nichts wird die anderen mehr zurückbringen. Die Produzenten verschweigen, was passiert ist. Jetzt gibt’s nur noch eine Sache zu tun. Wir müssen die Server zerstören, falls doch irgendwann ein Journalist anfängt, nach dem ganzen ›verlorengegangenen‹ Filmmaterial zu suchen. Diesem Adrian und dieser Bitch Sasha vertraue ich schon lange nicht mehr. Ich bin erst sicher, dass alles weg ist, wenn es in Einzelteilen auf dem Meeresboden liegt. Du willst doch auch nicht, dass irgendjemand rauskriegt, was passiert ist, oder? Dass die Leute rausfinden, was du mit Shaun gemacht hast? Also, schnapp dir lieber einen Spaten, und vielleicht nehme ich dich mit, wenn wir wieder ablegen.«
Unterbrochen wurde er von einem Scheppern, als das Jagdgewehr auf den festgestampften Boden fiel. Wir blickten beide auf die Waffe, ehe Duncan Andrew böse ansah.
»Was soll das, Mann?«
»Ich kann …« Andrew blinzelte, betrachtete seine Hand. Er wollte aufstehen, fiel aber stattdessen der Länge nach aufs Gesicht. Er bewegte sich nicht mehr, aber sein Atem war wie ein Schnaufen in der plötzlichen Stille. Er rang noch ein paar Mal nach Luft, dann kam nichts mehr.
Duncan suchte meinen Blick.
»Wie es aussieht, sind nur noch du und ich übrig«, sagte ich.