40. KAPITEL

Es war insgesamt ruhiger geworden, das konnte ich spüren. Sasha hatte ihren Eiskaffee getrunken, und hinter ihr, in den Schatten des grellen Lichts, wurde bereits Equipment abgebaut und weggepackt. Die Tür zur Außenwelt öffnete und schloss sich und ließ die Geräuschkulisse von Straßenverkehr und Vogelgezwitscher herein.

»Was werden Sie tun, wenn Sie nach Hause kommen?«, hatte Sasha gefragt. »Haben Sie schon Pläne, wie es weitergehen soll, nach der Show?«

Ich hatte nicht einmal Pläne für die Zeit nach den Interviews. Für mich gab es nichts zu tun, ich konnte nur nach Hause gehen und warten. Was würde ich tun, wenn alles vorüber war, wenn es nichts mehr gab, auf das ich warten konnte?

»Ich weiß es nicht, ist wohl die ehrliche Antwort«, hatte ich gesagt, weil ich bereits zu müde und gestresst war, um mir noch eine Lüge auszudenken. »Ich hoffe, dass ich … irgendwie anders bin, wenn alles hinter mir liegt. Vielleicht werde ich etwas über mich erfahren. Vielleicht habe ich dann ein paar neue Freunde. Ich denke, am meisten wünsche ich mir, dass ich lerne, freundlicher zu sein – damit ich nicht länger so hart mit mir selbst ins Gericht gehe und nicht immer vom Schlimmsten ausgehe. Ja, ich möchte mich selbst entdecken.«

Ich hatte von der Kamera weggeschaut und sah, dass Sasha gar nicht mehr richtig zugehört hatte, weil sie etwas auf ihrem Handy nachschaute.

Es war vorüber.

An dem Tag, an dem die Trümmer des Flugzeugs und das Verbandmaterial am Strand angespült wurden, war mir klargeworden, dass die anderen womöglich zur Insel zurückkehren würden. Wenn die Welt dort draußen so zerstört war, dass Trümmerteile und blutige Gaze im Meer dümpelten, würden die anderen die Insel vielleicht vermissen: ihre letzte Zuflucht. Nachdem sich dieser Gedanke einmal bei mir festgesetzt hatte, hatte ich überlegt, was das bedeuten mochte. Die Gefahr, die für mich dann bestand.

Ich konnte sie nicht bekämpfen, das hatte ich schon erfahren müssen. Sie waren zu viele, und sie waren stärker als ich. Nein. Ich musste Tante Ruths Ratschlag beherzigen: »Du musst es ihnen heimzahlen. Und zwar besser und klüger, als sie es bei dir getan haben.« Ich musste clever vorgehen. Das war die einzige Möglichkeit, um mich selbst zu retten. Ich musste sie aufhalten, bevor sie mir etwas antun konnten.

Ich weiß nicht, wer von uns die Idee hatte. Ich saß am Tisch und aß mein Abendessen. Der Schein des Feuers brachte die Flasche Brandy zum Glühen. Noch hatte ich nichts mit ihr anzufangen gewusst. Die Idee, Tinkturen herzustellen, war allmählich in meinen Gedanken verblasst. Aber als ich jetzt die Flasche betrachtete, glaubte ich, ein Wispern zu vernehmen, ein Seufzen aus den Schatten.

»Aha«, sagte ich und merkte erst dann, dass ich die Flasche bereits in der Hand hielt. »Ich wusste, dass sie noch nützlich sein würde.«

Immerhin hatte ich ja die anderen aus Versehen vergiftet. Ich könnte es wieder tun. Diesmal mit Absicht.

Am nächsten Tag ging ich in den Wald, um nach den Pflanzen zu suchen, die ich gewohnheitsmäßig links liegenließ. Die giftigen Cousinen und Schwestern jener Gewächse, die ich jeden Tag aß. Jede einzelne Pflanze zerdrückte ich mit einem Stein und gab sie in einen Topf mit Brandy; ein echtes Hexengebräu: Gefleckter Aronstab, Knollenblätterpilz , schwarze Tollkirsche, gefleckter Schierling.

Nach ein paar Tagen nahm ich die verwelkten Pflanzen wieder heraus und füllte die Flüssigkeit zurück in die Flasche. Danach ließ ich sie einfach auf dem Tisch stehen. Niemand, der die Hütte betrat, konnte sie übersehen. Ich baute auf die Unersättlichkeit der anderen, verließ mich aufs Glück und darauf, dass die Hexe den Rest erledigen würde.

Ich hob das Gewehr vom Boden auf und setzte mich auf Andrews Platz, die Waffe quer über dem Schoß. Die ganze Zeit spürte ich Duncans Blicke. Als ich aufschaute, sah ich, dass er schwitzte. Seine Augen traten aus den Höhlen. Es sah danach aus, dass er versuchte, sich zu bewegen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Er atmete unter großer Anstrengung und voller Angst.

Ich war mir nicht sicher gewesen, was ich dabei empfinden würde. Vielleicht hatte ich geglaubt, dass ich ein Gefühl von … Macht verspüren würde, sobald ich sah, dass er Angst vor mir hatte. Aber ich war einfach nur müde, jetzt, da die Gefahr etwas abgenommen hatte. Müde und auf eigenartige Weise auch traurig. Ich atmete bewusst langsam aus, um mich zu beruhigen.

»Wir müssten noch etwas Zeit haben, um zu reden«, sagte ich. »Hängt davon ab, wie viel du hattest.«

»Was hast du getan?«

»Nicht viel. Ich hab nur eine Flasche Brandy vergiftet. Und gewartet.«

»Vergiftet? Mit was?«, wollte er wissen und sprach mit einem Mal fast eine Oktave höher.

»Mit ein paar Dingen.« Als ich sah, dass sich seine Augen weiteten, lenkte ich ein. »Hauptsächlich Schierling. Der führt zu aufsteigender Lähmung, unter anderem. Im Augenblick kannst du deine Beine nicht mehr bewegen, bald auch deine Arme nicht mehr. Und dann versagt dein Atmungssystem den Dienst, und du wirst ersticken … genau wie Andrew. Es sind noch ein paar andere Sachen drin, daher sollte es recht schnell über die Bühne gehen.«

»Du kannst es nicht mehr aufhalten?«

»Nein … Selbst wenn ich es wollte, kann ich hier nichts mehr für dich tun.«

»Warum tust du das?«

»Warum ich das tue?« Ich war aufgesprungen, ohne recht zu wissen, weshalb, und umklammerte das Gewehr so fest, dass meine Hände schmerzten. »Warum? Ernsthaft? Weil ihr versucht habt, mich umzubringen. Weil ihr mich lebendig begraben habt. Nach allem, was ihr mir angetan habt, dachtest du, du könntest mich dazu verleiten, alles zu vertuschen. Und was wäre dann gekommen? Du hättest mir in den Hinterkopf geschossen und mich auch verscharrt. Warum? «, spottete ich. »Gott, kannst du dir das wirklich nicht denken?«

»Du hast Shaun getötet, deshalb haben wir dich weggesperrt, du irres Miststück.«

»Denkst du wirklich, dass ich ihn getötet habe? Dass er nicht einfach gestürzt ist?« Mir war bislang gar nicht in den Sinn gekommen, dass Duncan ernsthaft glauben könnte, dass ich es absichtlich getan hatte. »Jetzt sind nur noch wir beide hier, und du bist in ein paar Minuten tot, also … es hat keinen Zweck zu lügen. Nicht jetzt«, sprach ich so sanft wie möglich.

Sein Gesicht wurde knittrig, und ich sah, wie sich Tränen der Angst in seinen Augen sammelten. Er sagte nichts, sondern schüttelte nur den Kopf. Nein, offenbar glaubte er doch nicht, dass ich Shaun ermordet hatte.

»Warum nur? Warum hast du ihnen erzählt, ich hätte es getan? Warum hast du das gemacht? Das alles, warum?«

Er schüttelte heftiger den Kopf, sagte aber nichts. Ob er noch sprechen konnte, wusste ich nicht. Gurgelndes Schluchzen entwich seinen Lippen, Speichelfetzen liefen ihm aus den Mundwinkeln.

»Wir haben uns eigentlich nie groß unterhalten, jedenfalls nicht als Freunde, als Gleichgesinnte. Die Sache ist die: Ich bin auf diese Insel gekommen, weil ich mein Leben satthatte. Ich konnte mich selbst nicht mehr leiden, konnte mir selbst nicht vergeben. Ich wollte ein besserer Mensch werden, wollte freundlicher sein … glücklich.«

Duncan prustete, stammelte wirres Zeug und sackte vornüber, sodass er nur noch halb auf dem Schlaflager lag. Sein Kopf rollte schlaff auf den Boden.

»Eine Weile dachte ich, nichts würde helfen. Ich hatte dieses Schuldgefühl wegen eines furchtbaren, schlimmen Unfalls. Aber … die Sache ist die, all die schrecklichen Dinge, die passiert sind, all das, was ihr getan habt, die Dinge, die mir widerfahren sind – heute weiß ich, dass es nicht meine Schuld war. Darauf hatte ich keinen Einfluss. Und ›glücklich‹? Was ist das schon genau? Es gibt Zufriedenheit, Sicherheit, Trost. Aber Glücklichsein? Ich glaube nicht, dass das real ist, jedenfalls nicht wie die anderen Dinge. Oder vielleicht fallen sie nur mehr ins Gewicht. Was Freundlichkeit betrifft … okay. Ich hätte noch eine Menge anderer Sachen in diese Flasche tun können. Sachen, die einer von euch den Kameratechnikern gegeben hat. Dinge, die euch von innen aufgefressen hätten. Aber trotz allem, was ihr getan habt … Ich hab das hier schmerzlos gemacht, so schmerzlos wie möglich.«

Seine Atemstöße kamen rasselnd auf dem festgestampften Boden und fuhren in die Farnwedel. Ich wartete, und schließlich atmete er gar nicht mehr. Dann war alles still und ruhig. Ich schloss die Augen und atmete die Luft aus, die sich in meinen Lungen angestaut hatte. Nachdem ich das Gewehr zur Seite gestellt hatte, stand ich auf und merkte, dass meine Beine zitterten. Es fühlte sich an, als hätte ich auch ein paar Schluck aus der Brandyflasche genommen.

Ich holte meine Wasserflasche, trank etwas und merkte plötzlich, wie trocken mein Mund war. Nur langsam begriff ich, dass ich zwei Menschen getötet hatte. Auch wenn ich mir sagte, dass ich sie ja nicht dazu bewogen hatte, den Brandy zu trinken. Aber das änderte nichts an der Tatsache. Ich hatte Andrew und Duncan vergiftet und zugesehen, wie sie starben. Damit würde ich leben müssen. Ich fragte mich, ob ich es aushalten oder daran zerbrechen würde. Das würde nur mit der Zeit klar werden. Andererseits, vielleicht war ich bereits daran zerbrochen.

»Vielleicht.«

Ich drehte mich sofort um. Das war nicht meine Stimme, aber sie war klar, ganz nah und sehr real.

Hinter mir stand die Hexe, in voller Größe und leibhaftig. Sie trug Schwarz zu diesem Anlass. Mit ihr kam der bittere Friedhofsgeruch von Eibe und Efeu. Mein erstes Gefühl, als ich sie sah, war nicht Furcht, nicht einmal Besorgnis. Es war Erleichterung. Die anderen waren tot, aber ich war nicht allein. Sie war bei mir.

»Und so endet es«, sagte sie mit ihrer krähenartigen Stimme.

»Ich sollte sie beerdigen.«

»Nicht bei den anderen.«

»Nein … irgendwo anders … versteckt«, sagte ich und wusste schon genau, wo.

Sie nickte zustimmend, kannte sie doch meine Absicht. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass sie eine Kette um den Hals trug: einen Stein mit einem Loch in der Mitte, der an einem grauen Wollfaden hing. Es war der Anhänger, den ich mir angefertigt hatte, um die Insel nicht zu vergessen, vor Monaten. Wo er nun war, wusste ich nicht. Vielleicht hatte ich ihn verloren, als ich vom Strand floh, oder er verrottete in der Höhle. Wo immer er auch war, ich brauchte ihn nicht. Ich würde die Insel sowieso nie vergessen, nichts von dem, was sich dort ereignet hatte.

Aber ich würde sie verlassen.

Ich schleifte die beiden Toten ins Freie. Sie waren zu schwer, um sie weit wegzuschaffen, aber die Stelle, die ich im Sinn hatte, war machbar. Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Nachdem ich ein kleines Feuer entfacht hatte, um besser sehen zu können, fing ich an, ein Loch zu graben. Eine Grube, genau unter dem Komposthaufen.

Als die Sonne am nächsten Morgen ganz über den Horizont gestiegen war, klopfte ich mit dem Klappspaten die letzten Reste von verrottendem Gemüse und madendurchzogenen Fellen fest. Wer jetzt zufällig die Lichtung betrat, würde die Gräber nicht sehen. Und jeder würde denken, dass der Geruch oder die Fliegen nur von dem großen Abfallhaufen kommen konnten, den die anderen hinterlassen hatten. Wer auch immer nach den beiden suchte, würde sehr lange brauchen. Ähnlich wie der zweite Fischer aus meiner Story hatten Andrew und Duncan mit der Hexe zu Abend gegessen und waren dann spurlos verschwunden.

»Wirst du jetzt gehen?«, fragte sie in meinem Rücken.

»Ich muss. Die Wahrheit muss erzählt werden, und ich bin die Einzige, die sie erzählen kann.«

Ihr Umhang war grün wie die Blätter, die Kapuze hatte sie zurückgeschlagen. Das Gesicht, das zum Vorschein kam, war mir auf beruhigende Weise vertraut, und die Mundwinkel verzogen sich zu einem anerkennenden Lächeln.

Es war mein eigenes Gesicht.