Die große Arbeit
Was ich nicht vermissen werde, sind die regelmäßigen Besuche in der Schule. Ich habe mich nie darum gerissen. Elternsprechtage empfand ich immer besonders peinigend. Jahrelang saß ich dabei einem Mathelehrer gegenüber, der den Genpool meiner Familie diskreditierte, indem er sich über Carlas Desinteresse für die Welt der Zahlen beklagte. Ja. So sind wir. Na und? Dafür kann Carla schön malen. Und ich bin ein passabler Koch. Herr Schümann kann Mathe, aber er zeichnet wahrscheinlich wie ein Dreijähriger und lässt sogar Wasser anbrennen.
Auf jeden Fall freue ich mich schon darauf, wenn das letzte Zeugnis überreicht ist und ich gemeinsam mit unserem Sohn die Schule für immer verlasse. Ältern haben das Privileg, zwar noch Eltern zu sein, aber nicht mehr Herr Schümanns schreckliches Aftershave riechen zu müssen. Wahrscheinlich Bleu de Gans. Oder Old Stink. Oder Schümanns Own. Und das ist gar kein Aftershave. Arme Frau Schümann.
Es gab nur einen Termin, der mir in der Schule gefiel. Dabei werden die Jahresarbeiten der achten Klasse präsentiert. Das haben wir bereits zwei Mal mit großer Begeisterung absolviert. Carla zeigte damals in der voll besetzten Aula einen Schuh, den sie nicht nur selber entworfen, sondern auch eigenhändig hergestellt hatte. Es war ein zauberhafter Schuh aus gelbem Leder, dennoch endete ihre Vorstellung konfliktreich, weil ein Lehrer auf die unsensible Idee kam zu fragen, was denn mit dem zweiten Schuh sei. Carla hatte nur einen angefertigt, weil die Zeit nur für ein halbes Paar gereicht hatte. Außerdem war sie der Meinung, dass es nur eines Schuhs bedurfte, um ihren Entwurf zu verstehen. Dann hüpfte sie ärgerlich auf einem Bein in ihrem Schuh von der Bühne.
Nick machte es sich vier Jahre später leichter. Das Thema seiner Jahresarbeit lautete: »Leberkäs im Wandel der Zeiten.« Der Vortrag über die Kulturgeschichte der auch Fleischkäse genannten Köstlichkeit dauerte ungefähr eine Minute. Danach ging Nick zum praktischen Teil über und schnitt einen ganzen, von ihm selbst mit meinem Geld gekauften Leberkäs in Scheiben, die er mit süßem Senf in Semmelhälften garniert an das begeisterte Publikum verteilte.
Ich dachte, die Zeiten der Jahresarbeit seien für immer vorbei, aber da habe ich nicht mit Ulrich Dattelmann gerechnet. Er ist der Chef des Schulvereins, und alle Eltern müssen Arbeitsstunden absolvieren, die Dattelmann einträgt und kontrolliert. Und wenn man damit in Rückstand gerät, ruft er an und verpflichtet einen zu Frondiensten.
Sara täuschte einen Milzriss vor, und so musste ich neulich einen ganzen Abend lang bei der Präsentation der Jahresarbeiten extrem trockenen Kuchen aus eigener Produktion verkaufen. Der Nachteil daran war, dass ich verklagt werde, falls jemand von meinem staubigen Gebäck Asbestose bekommt. Der Vorteil war, dass ich alle 37 Vorträge genießen durfte.
Hier sind meine drei Lieblingsvorstellungen dieses Jahres. Auf Platz drei: Rupert und seine Möhrenstempel. Vollkommen unbeweglich und ohne jede Betonung führte Rupert zunächst in die Welt der Stempel ein. Nachdem er ausführlich dargelegt hatte, dass im Allgemeinen sowohl runde als auch eckige Stempel aus Holz, Kunststoff oder Metall Verwendung fänden, führte er aus, dass er ein neues Material zur Stempelherstellung entdeckt habe. Dann sagte er den großen Satz: »Sicher haben auch Sie eine Möhre zu Hause.« Er zeigte dann anhand von Fotos, wie er aus zwei handelsüblichen Möhren zwei Stempel mit seinen Initialen geschnitzt hatte. Und er schloss mit der zutreffenden und etwas melancholischen Feststellung, dass er noch an der Haltbarkeit seiner Stempel arbeiten müsse, da diese leider innerhalb kurzer Zeit zunächst geschrumpelt und dann verfault seien. Er werde bis zu einer Lösung dieses Problems zunächst mit Holzstempeln weiterstempeln.
Auf Platz zwei: Ricarda und der French Cancan. Die als französische Nachtklubtänzerin verkleidete Ricarda hielt sich nur kurz mit dem theoretischen Kern ihrer Jahresarbeit auf, bat dann um Musik und donnerte zu Jacques Offenbach über die Bühne, dass sämtlichen Eltern der Atem stockte. Mit dem vorletzten Takt nahm sie Anlauf und sprang ihrer Lehrerin Frau Diehm in die Arme, die damit nicht gerechnet hatte und mitsamt der feurigen Ricarda taumelnd nach rechts abging.
Auf Platz eins: Jonathan. Er trug Lyrik vor. Zunächst aber beschwerte er sich über alle Lehrer und seine Mitschüler, weil sie sein Genie nicht verstünden. Dann klagte er Deutschland an, weswegen weiß ich nicht, weil er so nuschelte. Und schließlich begann er mit seinem Gedicht, welches darin bestand, dass er Prosa merkwürdig abgehackt vorlas. Er murmelte sich bald in Rage, ohne dass ihn sein Publikum verstehen konnte. Und als schließlich jemand »lauter« rief, warf er seine Blätter auf den Boden und ging übergangslos zur Beschimpfung des Störenfrieds über. Er nannte uns Nichtsnutze und arrivierte bürgerliche Arschgeigen und wurde schließlich vom Direktor von der Bühne begleitet. Die Empörung war riesig. Später hörte ich dann, es sei alles, inklusive des Gemurmels und des Zwischenrufs, ein kleines sorgsam einstudiertes Theaterstück gewesen. Und so etwas mit vierzehn Jahren. Respekt! Schade, dass wir bald raus sind.