Der Ausbruch von La Carla
Überall ist zu lesen, dass extreme Naturereignisse zunehmen. Dazu zählt die Wissenschaft heftige Sommergewitter, den verlangsamten Golfstrom sowie die Wutausbrüche unserer Tochter. Letztere verändern das Klima erheblich, besonders in unserem Wohnzimmer. Dabei sind die Eruptionen, die das Haus erschüttern, völlig unberechenbar und folgen keiner seismischen Logik. Quasi anlasslos tobt Carla dann über ihren armen alten Vater hinweg und knallt am Ende eine Tür zu. Wenn man Glück hat, ist es die Haustür. Dann ist sie für ein Weilchen weg, der Schwefeldampf verzieht sich, und bei ihrer Rückkehr ist alles wieder gut.
Tatsächlich bin fast immer nur ich von diesen Extremen betroffen, ihre Mutter nie. Sara und Carla pflegen ein beunruhigend symbiotisches Miteinander, besonders was ihre Einstellung mir gegenüber betrifft. Für beide bin ich eine Mischung aus Hui Buh und Idi Amin. Man schätzt mich prinzipiell für meinen Unterhaltungswert, aber man nimmt mir das autoritäre Auftreten übel. Wobei ich mich überhaupt nicht streng finde. Was ist verkehrt daran, wenn ich unseren kleinen Vulkan darüber informiere, wie ungerne ich verklebte Müslischälchen spüle?
Man mag dies für eine spießige Petitesse halten, aber: Durch verzuckerte Milch an Keramik geklebte Weizenflocken sind scheiße. Ich weiß nicht, warum man diese Schälchen tagelang rumstehen lassen muss. Ich weiß nicht, warum man sie nicht einfach in die Spülmaschine stellt. Und ich verstehe nicht, dass man in die Luft fliegen muss, wenn dieses Müslithema aufgebracht wird. Man sagt Müsli, Schale, Milch und Sauerei – und schon brodelt und qualmt es aus diesem 159 Zentimeter großen Vulkan.
Das erste, noch recht zarte Rumpeln besteht in Carlas Bemerkung, sie habe keine Zeit für derartigen Quatsch. Darauf wird sie lauter und erklärt, dieses Thema sei so dämlich, dass sie es eigentlich nicht fassen könne. Dann fliegen erste glühende Felsbrocken, denn das Müsli habe in ihrem Zimmer gestanden, und dort habe man keinen Zutritt. Und überhaupt stelle sich die Frage, was man eigentlich in ihrem Zimmer getrieben habe, und es sei ja wohl unfassbar, dass der eigene Vater hinter ihr her spioniere und sich Zugang zu ihrer Intimsphäre verschafft habe und ob er dort womöglich heimlich irgendwas gesucht habe und worum es sich dabei handele.
Ich antworte wahrheitsgemäß, dass ich eigentlich bloß habe lüften wollen, weil es in ihrem Zimmer gerochen habe wie in der Garderobe des Bolschoi-Balletts nach der Uraufführung von »Spartacus« unter der Leitung von Juri Grigorowitsch. Und bei der Gelegenheit habe ich eben diverse Gegenstände eingesammelt, um sie dem Regelkreis der gemeinsamen Benutzung wieder zuzuführen. Und in diesem Zusammenhang habe ich darauf hinweisen wollen, dass diese eingetrockneten Müslidinger Arbeit machten, und das sei es eigentlich schon gewesen, und ich wolle nichts gesagt haben, und es tue mir leid.
Aber das Spät-Pubertier betätigt nun den Lava-Auswurf und schimpft, dass es mir ja wohl egal sein könne, wie es in ihrem Zimmer röche, schließlich werde niemand gezwungen, dieses Zimmer zu betreten. Darauf leiste ich mir den frivolen Hinweis, dass es sehr wohl jemanden gebe, der dazu gezwungen werde, nämlich der arme Paul. Er tut mir ein bisschen leid, denn er kann unmöglich länger als eineinhalb Minuten die Luft anhalten, verbringt jedoch oft mehrere Stunden bei Carla und wird ab und an Sauerstoff benötigen. Aber vielleicht hat er ja eine Taucherflasche im Rucksack, wenn er uns besucht.
Nun dreht Carla ein weiteres Mal auf. Sie schießt mit glühendem Gestein, spuckt Feuer und erklärt mir, das sei alles so lame und crank und sie könne es nicht abwarten, bis sie endlich auszöge, und es sei überhaupt kein Wunder, dass ich kaum Freunde hätte, so wie ich mich benehmen würde, und ich solle mich nicht in ihre Beziehung einmischen. Ich sage ihr, sie solle mit Paul eine WG gründen. Mal sehen, wie das klappt. So ganz ohne Sauerstoff und sauberes Geschirr. Bumms. Tür zu.
Die Sache mit der Wohngemeinschaft kommt dann viel schneller wieder zur Sprache, als mir lieb ist. Und ganz anders, als ich vermutet hätte. Schon öfter war die Rede davon, dass es für Carla Zeit sei. Und dass man dann in die Stadt ziehen könne. Ich bin der Letzte, der das Landleben noch favorisiert .
Und dann sitzen wir am Esstisch und Carla erklärt mir, dass sie nun definitiv nach München zöge. Sara sekundiert, dass es dort eine wundervolle Wohnung gebe, man habe sie bereits besichtigt und es handele sich um ein Juwel, wenn auch ein wenig zu groß für eine Tochter herkömmlicher Bauart mit normalen Wohnbedürfnissen. Ich bin ein wenig überfordert und schlage vor, dass sie sich eine Mitbewohnerin suchen könne. Oder Paul solle dort mit seiner Taucherausrüstung einziehen. Ich finde ihn eine gute Wahl. Es wird immer Essen im Haus sein.
Meine beiden Frauen machen einen anderen Vorschlag: Sara zieht mit ein. Wir spalten unsere Familie in zwei Wohngemeinschaften auf. Eine Jungs-WG und einen Mädchen-Haushalt. Bevor ich überhaupt etwas dazu sagen kann, wird mir klar, dass die beiden das längst beschlossen haben. Es sei mal was anderes. Es werde uns guttun. Sowohl in der Beziehung als auch der Familie. Nick und ich könnten ja in der Nähe wohnen. Man werde sich dann gegenseitig besuchen.
Und Nick, der gerade von draußen reinkommt, ruft sofort: »Auf geht’s in die Stadt!« Ich werde das Gefühl nicht los, dass er den Plan auch schon länger kennt. Es handelt sich um ein Komplott, dem ich nichts entgegenzusetzen habe. Also fange ich ein paar Tage später an, für Nick und mich eine Wohnung zu suchen.