Krieg in Büsum
Menschen können winzige Uhren reparieren, um die Wette auf einem Pfahl sitzen (der Weltrekord liegt bei 196 Tagen) und einhändig Eier aufschlagen, aber sie schaffen es nicht, ihr Leben in Frieden und Harmonie zu gestalten. Nicht einmal im kleinen Kreis der Zweierbeziehung. Und manchmal tun sich geheimnisvolle Abgründe auf, wie bei dieser Sache in Norddeutschland. Ich grübelte lange darüber nach, was da wohl los war, aber vermutlich werde ich es nie erfahren.
Verantwortlich für die Ungewissheit ist ein Herr, der mir im Regionalzug zwischen Heide und Hamburg gegenübersaß. Er stieg in Itzehoe ein und erhielt bald darauf einen Anruf von seiner Frau. Erst sagte er eine Weile nichts anderes als »ja« und »nein« und »hmm«. Aber dann brach es aus ihm heraus und er sagte in zähem norddeutschen Slang: »Das hätte sie wissen müssen. Man fährt nicht nach Büsum, wenn man das nicht will. Wenn man
nach Büsum fährt, dann ist einem das klar. Sonst hätte sie zu Hause bleiben müssen.«
Irritierenderweise blickte der Mann beim Sprechen nicht aus dem Fenster oder ins Irgendwo, sondern er guckte mir direkt ins Gesicht, als sei ich gemeint. Er sprach mich direkt an. Dann sagte er: »Sie hat ja bisher immer Pech gehabt. Wir haben ihr es hundertundein Mal gesagt. Und dann fährt sie trotzdem nach Büsum. Himmelherrgott. Wie kann man nur so dumm sein.« Wir fuhren in ein Funkloch, und die Verbindung brach ab. Der Mann legte das Handy auf seinen Schoß. Dabei schaute er mich weiterhin an, und ich dachte, dass ich irgendwas sagen sollte. Also sagte ich: »Was gibt es denn in Büsum?« Der Mann antwortete: »Krabben.« Dann klingelte sein Handy wieder und er sprach weiter mit seiner Frau und sah mich weiter an. Ich versuchte zu lesen, aber zwischendurch musste ich einfach nachsehen, ob er immer noch guckte. Er starrte mich an und sagte: »Ich kann gerade nicht so gut sprechen, da guckt mich die ganze Zeit einer an.«
Das fand ich etwas seltsam, besonders als er damit begann, mich zu beschreiben. »Brille, Bart, Pullover, Schal. Ich weiß auch nicht, was der will.«
Dann sagte er: »Ich kann ihn ja mal fragen.« Er deckte das Mikrofon seines Telefons mit der Hand ab und fragte: »Meine Frau will wissen, was Sie von mir wollen.« Ich sagte: »Eigentlich will ich nur in Ruhe lesen.« Er sagte ins Telefon: »Der will lesen. Ich bin kurz vor Elmshorn. Vielleicht rufst du sie mal an und fragst sie. Wenn sie ans Telefon geht. Jedenfalls finde ich, man fährt nicht nach Büsum, wenn man das genau weiß. Außerdem hat sie das jetzt fast zwanzig Jahre mitgemacht. Da kann man schon erwarten, dass sie irgendwann etwas daraus lernt. Fährt die nach Büsum!«
Ich fand, der Mann hat recht. Nach zwanzig Jahren und der Sache in Büsum könnte man schlauer sein. Ich nickte unwillkürlich, und der Mann sagte: »Findet der Mann hier auch.« Dann brach das Gespräch abermals ab. Nach einer Weile des Schweigens sagte der Herr: »Meine Frau und ich machen das jetzt schon ewig mit. Klara hat einfach immer Pech, und wir müssen uns diesen Kladderadatsch dann anhören.« »Wer ist denn Klara?«, fragte ich. Bevor der Mann antworten konnte, klingelte sein Telefon wieder, und er sagte: »Heidemarie, damit muss Schluss sein. Findet der Mann hier im Zug auch.« Er hörte wieder einen Augenblick lang zu,
dann sagte er: »Meine Frau will Sie sprechen.« Er reichte mir sein Telefon und ich nahm es. »Hallo?«, sagte ich, und Heidemarie erklärte mir, dass es sehr unhöflich sei, sich in Gespräche anderer Leute einzumischen. Dennoch sei sie interessiert an einer neutralen Meinung. Und dann wollte sie wissen, was ich davon hielte, wenn Leute immer wieder denselben, also den andauernd selben Fehler machten. Ich antwortete, dass es in der Natur der Menschen läge, sonst gäbe es schon lange keine Kriege mehr. Sie rief, dass Krieg dafür tatsächlich das richtige Wort sei. Krieg sei das. Ob sie ihren Gatten zurückhaben könne. Ich gab ihm das Handy und er sagte: »Ja, ich hab’s gehört. Krieg. Finde ich auch. Und dann fährt die nach Büsum.« Und wieder brach das Gespräch ab.
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein, und ich musste aussteigen. Der Herr nickte knapp zum Abschied, ich nahm mein Gepäck und ging. Und seitdem frage ich mich: Was ist da bloß los? Und vor allem: Büsum. Das muss das Tor zur Hölle sein. Da darf man auf keinen Fall hinfahren.
Voll in Gedanken verließ ich den Dammtorbahnhof, um meinerseits eine Beziehung einzugehen, und zwar zu einer Taxifahrerin. Ich sehe das
so. Man ist für eine Viertelstunde oder manchmal länger auf dem engen Raum eines Taxis aufeinander angewiesen, eine Schicksalsgemeinschaft sozusagen. Manchmal finde ich das auch sehr angenehm, aber diesmal nicht.
Ich stieg also ins erste Taxi am Stand, grüßte freundlich und sagte, dass ich zum Flughafen wolle. Die Fahrerin, eine ältere Hamburger Dame mit weißem Haar, nickte, wendete und fuhr dann mit mir langsam an der langen Schlange der wartenden Taxikollegen entlang. Dabei reckte sie den rechten Arm zum Hitlergruß. Ich war fassungslos. Entsetzt. Und wütend, vor allem auf mich. Denn ich schaffte es einfach nicht, ihr sofort zu sagen, dass ich unverzüglich aussteigen wolle. Ich lasse mich doch nicht von einer ollen Nazi-Tante kutschieren.
Aber ich hatte es eilig. Noch zwanzig Minuten bis zum Einsteigen ins Flugzeug. Wenn ich die Fahrt abbrach, riskierte ich, meinen Flug zu verpassen. Also blieb ich sitzen und kochte innerlich angesichts meiner Willfährigkeit. Ich setzte ihr nichts entgegen, ließ mich kampflos darauf ein, mich von einer Rechtsextremen fahren zu lassen. Am Ende würde ich sie auch noch dafür bezahlen müssen. Wenn wir in dieser Gesellschaft so
weitermachen, dann haben die eines Tages gewonnen. Verdammt.
Als wir schließlich am Flughafen ankamen, musste es dann doch raus. Ich konnte dieses Verhalten nicht unwidersprochen lassen, man muss den Faschisten ihre Grenzen zeigen. Ich sagte in scharfem Ton, dass ich nur mit ihr gefahren sei, weil ich musste. Und dass ich es widerlich fände, dass sie ihren Kollegen den Hitlergruß gezeigt hat. Einfach nur krank und widerlich. Darauf drehte sie sich zu mir um, sah mich an und begann zu lachen. Dann sagte sie in diesem wundervollen, immer unschuldig klingenden Hamburger Slang: »In der Taxischlange, da stand mein Mann. Und als ich an ihm vorbeifuhr, habe ihm mit dieser Geste signalisiert, dass ich jetzt zum Flughafen fahre.« Und dann wiederholte sie die Bewegung. Startendes Flugzeug.
Beschämt stieg ich aus. Was für eine gute brave Frau.
Zu Hause angekommen, erzähle ich Nick von meinem Fauxpas. Findet er lustig. Dann berichtet er, dass der Vermieter der Wohnung, die wir uns angesehen haben, angerufen hat. Wir bekommen die Bude. Nick erwähnt das eher beiläufig
zwischen zwei Gabeln. Erstaunlich, wie schnell sich diese Generation mit neuen Sachlagen anfreunden kann.
Und dann ziehen wir in die Stadt.