Humptata im Waschbecken
Klassentreffen sind schön sentimental, ein bisschen wie Campari Orange. Deshalb freute ich mich, dass Carla vor Weihnachten ein Klassentreffen ihrer alten Schulfreunde organisieren wollte. Sie fragte, ob ich einen Ort für die Party wüsste. Ich schlug ihr einige Cafés vor, worauf sie zurückschrieb, dass sie eigentlich an meine Wohnung gedacht habe. Ich fragte, warum sie nicht bei sich und ihrer Mutter feiern wolle, und sie entgegnete, dass es ihr zu viel Arbeit sei, bei sich Party zu machen. Da hätten meine Alarmglocken bimmeln müssen, aber ich freute mich zu sehr darüber, dass sie an mich dachte, und erlaubte ihr, mit ihren ganzen Freunden bei mir und Nick zu feiern. Wir einigten uns darauf, dass ich spät nach Hause kommen und mich dann ins Schlafzimmer verkrümeln würde. So haben es schon meine Ältern gemacht und ich finde es grundsätzlich in Ordnung, denn es gibt nichts Schlimmeres als Väter, die dem Freundeskreis
ihrer Kinder Saufgeschichten von 1984 erzählen. Es braucht eine gewisse Disziplin und Fingerspitzengefühl, das einzusehen.
Carla lud also ihre komplette Stufe zu mir nach Hause ein, und zwar für Samstag um 20 Uhr. Sie selbst traf um fünf vor acht ein, weil sie fand, dass Vorbereitung und Deko etwas für Kleinbürger seien. Ich schloss mein Büro und mein Schlafzimmer ab und verließ die Wohnung. Zu meiner Beruhigung teilte sie mir mit, dass es nichts zu essen gebe, weil sich darum niemand gekümmert habe. Daher werde man auch nichts schmutzig machen. Ich könne chillen.
Ich verabredete mich zum Essen und bestellte dabei gegen meine Gewohnheit einen Aperitif und drei Gänge, die komischerweise blitzartig serviert wurden, sodass ich gegen 21.33 Uhr bereits wieder auf der Straße stand. Ich machte einen langen Spaziergang vorbei an hell erleuchteten Wohnzimmern und Küchen und fühlte mich verstoßen. Um 23.48 wurde mir kalt und ich ging nach Hause. Bereits vor dem Haus hörte ich Musik und dachte: Oha, da lässt es aber jemand krachen. Als ich die Tür aufschloss, wusste ich auch, wo. In meiner Wohnung drängelten sich Menschen, die ich noch
prägymnasial in Erinnerung hatte. Tatsächlich gab es nichts zu essen, dafür hatten die Gäste reichlich Getränke mitgebracht. Ich begrüßte mein Kind, welches mich tadelnd ansah, weil ich nicht in meinem Zimmer war.
Also bahnte ich mir einen Weg durch mein zerbröselndes Heim und ging ins Bett. Gerade lief »Deutschland muss sterben, damit wir leben können« in einer urigen bayerischen Humptata-Version. Musik für Montessori-Kinder eben. Ich befand mich gerade am Rande der Lichtung, von wo es in den tiefen Wald der Träume geht, als ein Schatten an mir vorbeihuschte und in meinem Bad verschwand. Das war Amelie, dachte ich. Dann kam sie zurück, tapste durch mein Schlafzimmer und entwich in den Partylärm, von wo Gerrit in mein Schlafzimmer gespült wurde, der sehr rücksichtsvoll durch den Raum schlich, um ebenfalls in mein Bad zu gelangen. Danach folgten Leon, Maxine, Paul, Mila und Justus. Auf dem Rückweg fragte ich ihn, was er in meinem Schlafzimmer verloren habe, und Justus erklärte mir, dass das Gästeklo nicht mehr funktioniere. Und da er mich seit achtzehn Jahren kenne, habe er angenommen, es sei okay, wenn er stattdessen in mein Bad ginge
.
Ich stand auf, zog mich wieder an und wühlte mich zur Gästetoilette, wo der Maschinenbaustudent Max dabei war, den verstopften Abfluss vom Waschbecken abzumontieren. Emilia hatte reingereihert, oder, wie Carla das nannte, sie hatte den Porzellanbus gerufen. Kein Wunder, immer wieder diese klebrigen lauwarmen Getränke.
Ich verbrachte den Rest der Nacht in anregenden Gesprächen. Tobias erklärte mir, dass der Staat Illusion sei, dass es keine Regierung gebe und dass Eigentum ein Konstrukt der Obrigkeit sei. Als Ronja nach seinem Tabak griff, schlug er ihr auf die Finger und rief: »Das ist mein Tabak, kauf dir eigenen.« Später tanzte ich ein bisschen, dann gab ich den Widerstand auf und bot guten Rotwein und Grappa an. Lenz zeigte mir seinen neuen Tag-Marker, mit dem man kalligrafisch auf Bushaltestellen malen könne, und Anna erzählte mir alles von ihrer Liebe zu einem Finnen, dem sie in Australien begegnet war. Vielleicht war es aber auch ein Australier, dem sie in Finnland begegnet war. Ich weiß nicht mehr. Ich hatte von dem warmen pinken Hugo aus der Flasche getrunken. Er war ebenso grauenhaft wie wirksam.
Ich ging um vier Uhr ins Bett und stand um neun
wieder auf, um zu putzen. Eigentlich wollte Carla das machen, aber sie schlief noch, und ich wusste, dass ich bis zu ihrem Aufwachen nicht durchhalten würde. Bilanz: ein Brandloch in der Couch, was mir nichts ausmacht, weil mir die Couch ja nach Tobias’ Theorie im Grunde eh nicht gehört. Ein kaputtes Glas, eine ausgelaufene Kerze auf dem Balkon. Alles nicht so schlimm. Aber zwei Fragen beschäftigen mich: Wie schaffen die Kinder es, acht Zigaretten in einem einzigen Kronkorken auszudrücken? Und warum muss Emilia ins Waschbecken lachen, wenn doch die Toilette direkt daneben steht? Warum?
Carla hat gesagt, dass alle so begeistert waren von meiner Gastfreundschaft, dass sie ihr Klassentreffen jetzt jedes Jahr vor Weihnachten bei uns abhalten wollen. Und da kommt Emilia ja auch wieder. Bin gespannt, was sie sagt.