Der Tag des Abschieds
Meine Tochter ruft an, als ich mich gerade aufrege, weil ich eine heftige Meldung in der Zeitung gelesen habe. Überschrift: »Hässliche Pflegekräfte gesucht.« Wo gibt’s denn so was? Warum müssen die hässlich sein? Wer entscheidet darüber, wann eine Pflegekraft hässlich ist? Unfassbar. Carla ruft jedenfalls an, um mir mitzuteilen, dass es am nächsten Morgen um acht Uhr losgehe. Ich solle alle alten Zeitungen mitbringen, die ich im Haus habe.
Schon vor Längerem hat sie es angekündigt, nun ist es so weit: Sie verlässt die Wohngemeinschaft mit ihrer Mutter. Und die findet das auch noch gut. Seit Wochen suchen Sara und Carla den Hausrat unserer Tochter zusammen und haben Spaß daran. Wenn Nick mich verlassen würde, würde ich mich an sein Bein klammern. Das hat er bei mir früher auch manchmal gemacht, wenn ich den Müll rausbrachte.
Man hat mir gesagt, es ginge um ein Bett, ein
Regal, einen Tisch mit Stuhl, Kleinmöbel und etwa zwanzig Kartons. Ich miete einen Sprinter und klingele mit Nick um acht Uhr am nächsten Morgen bei Sara und Carla, aber die beiden schlafen noch. Es sei leider etwas später geworden. Gegen zwanzig nach neun sind die Damen so weit, dass wir den ersten Karton nach unten zum Auto bringen können, an welchem inzwischen eine von amtlicher Hand hinter den Scheibenwischer geklemmte Zahlungsaufforderung über 15 Euro hängt.
Die Umzugskartons hat Carla schön vollgepackt. Sie wollte Platz sparen. Jeder Karton wiegt auf diese Weise ungefähr sechzig Kilo. Zum Glück tauchen nun fünf Freunde von Carla auf, die ihre Mitwirkung am Umzug allerdings von einem ausgiebigen Frühstück abhängig machen. Gegen halb zwölf stellt Raoul fest, dass die Kartons zu schwer sind. Er beginnt, sie auszupacken und die Sachen, die sich darin befinden, einzeln nach unten zu tragen. Man könne den Vorgang rationalisieren, indem man eine Kette bilde. Im Sprinter würde man die Bücher, Platten, Klamotten, Erinnerungen, Rahmen, Malutensilien und den anderen Krempel wieder in Kartons packen, damit sie auf der Fahrt nicht kaputtgingen
.
Gegen 14 Uhr sind auf diese Weise vier von zwanzig Kartons im Wagen. Die Umzugshelfer bestehen auf einer Mittagspause. In der Zwischenzeit nehme ich das Bett auseinander und bitte Max darum, sämtliche Schrauben in eine kleine Tüte zu füllen. Nick hat sich inzwischen abgeseilt, weil er umziehen insgesamt für überbewertet hält. Er werde später auf eigene Kosten eine Firma dafür anheuern. Dies bringt den Rest der Truppe auf die Idee, einen Stundenlohn mit mir zu verhandeln. Ich habe danach den Eindruck, dass sie noch langsamer arbeiten als vorher. Als ich gegen 18 Uhr Julius dabei beobachte, wie er eine einzelne Zahnbürste aus dem zweiten Stock nach unten bringt, verliere ich kurzfristig die Nerven.
Nach dem Abendessen werden der Schreibtisch und die weiteren Möbel ins Auto geschafft. Dann geht es zur neuen Wohnung. Carlas Freunde fahren mit dem eigenen Auto, ich weigere mich, den Sprinter zu fahren, weil Carla Tiffany auf dem Schoß hat. Dabei handelt es sich um ihre Vogelspinne. Sie ist ausgestopft, aber da geht es bei mir ums Prinzip. Also fährt Sara das Auto, und ich komme mit Straßenbahn und Bus. Man muss nur dreimal umsteigen
.
Es ist 22.30, als der letzte Karton in Carlas kleiner hübschen Wohnung steht. Ich will das Bett zusammenbauen, aber die Tüte mit den Schrauben ist weg. Nach einem nicht gerade zimperlichen Verhör, in dessen Verlauf ich Max nach alter KGB-Sitte mit Carlas Schreibtischlampe ins Gesicht geleuchtet habe, kommt raus, dass er die Tüte bei McDonald’s hat liegen lassen, als er mittags Essen für alle geholt hat. Er muss da noch mal hin. Die Tüte kommt um 23.14 Uhr und das Bett steht um halb zwölf.
Ich entdecke in Carlas Kram meinen Lieblings-Aschenbecher, den ich einmal persönlich in Harry’s New York Bar in Berlin geklaut habe. Sie überlässt ihn mir großzügig, und ich wickele ihn in Zeitungspapier ein.
Dann fahre ich Sara mit dem Sprinter nach Hause. Wir bleiben noch lange im Auto sitzen und sprechen über Carlas Auszug. Weißt du noch? Und wie sie damals? Und wie das wohl wird? Man hat so lange darauf gewartet, und es ist ja auch schön. Aber man hat es sich trotzdem anders vorgestellt. Ein bisschen wie damals der vierte Teil von »Star Wars«. Hoffentlich bleibt Nick wenigstens noch ein wenig. So fünf bis zehn Jahre.
Zu Hause packe ich den Aschenbecher aus, und
was lese ich da auf der verknüllten Zeitungsseite? »Häusliche Pflegekräfte gesucht.« Alles wieder gut. Nur das Kind ist weg. Was soll jetzt bloß aus uns werden?