3

Dorothy roch nach Tod.

Sie war 76 Jahre alt. Kurz nach Sonnenaufgang würde ihr Leben enden.

Das war die bittere Wahrheit. Die Welt war ein schöner Ort, aber sie war auch voller bitterer Wahrheiten.

Die ambulante Hospizpflegerin Rosa Leon kümmerte sich im selben Schlafzimmer um Dorothy, in dem diese in den meisten Nächten ihres langen Lebens geschlafen hatte.

Rosa roch nach Leben, nach Shampoo mit Erdbeerduft und den Pfefferminzbonbons, die sie mochte.

In diesem Zimmer hatten Dorothy und ihr mittlerweile verstorbener Ehemann Arthur sich geliebt und ein Kind gezeugt: Jack.

Arthur war Wirtschaftsprüfer gewesen. Er war mit 67 Jahren gestorben.

Jack war im Alter von 28 in einem Krieg ums Leben gekommen. Seine Eltern hatten ihn um Jahrzehnte überlebt.

Der Verlust ihres Kindes war die größte Tragödie in Dorothys Leben gewesen.

Aber sie war stolz auf Jack, sie war zäh gewesen und hatte weitergemacht, hatte ein sinnerfülltes Leben geführt.

Kipp war weder Jack noch Arthur je begegnet. Er kannte sie nur, weil Dorothy so oft von ihnen gesprochen hatte.

Rosa saß in einem Sessel, las ein Taschenbuch und merkte nicht, dass der Tod auf dem Weg war.

Im Moment schlief Dorothy, betäubt und schmerzfrei.

Kipp litt, wenn Dorothy starke Schmerzen hatte. Er hatte erst drei Jahre mit ihr verbracht. Aber er liebte sie hingebungsvoll.

Es lag in seiner Natur, über jedes vernünftige Maß hinaus zu lieben.

Bevor der Zeitpunkt ihres Dahinscheidens kam, musste er sich stählen, sich auf den Verlust vorbereiten.

Er ging nach unten, verließ das Haus durch seine Tür und betrat die hintere Veranda, um frische Luft zu schnappen.

Das Haus lag knapp sieben Meter über dem Lake Tahoe. Schwache Flutwellen schwappten leise an den Strand und scharfkantige Spiegelbilder des sichelförmigen Mondes schimmerten auf der sich kräuselnden Wasseroberfläche.

Die leichte Brise trug eine reichhaltige Mischung aus Düften heran: Kiefern, Zedern, Holzrauch aus einem Kamin, Samen und Nüsse von Waldbäumen, Waldpilze. Eichhörnchen, Waschbären und vieles mehr.

Außerdem hörte Kipp ein seltsames, fortdauerndes Murmeln. Er hatte erst vor Kurzem begonnen, es wahrzunehmen.

Zuerst hatte er es für einen Tinnitus gehalten, an dem manche Leute litten, wie er wusste, aber das war es nicht.

Er konnte beinahe Worte ausmachen in diesem merkwürdigen, unablässigen Dahinfließen, das irgendwo aus dem Westen zu kommen schien. Richtung Westnordwest.

Nach Dorothys Tod würde Kipp der Sache auf den Grund gehen und den Ursprung dieses Geräuschs finden müssen. Er war dankbar dafür, ein klares Ziel vor Augen zu haben.

Kipp stieg von der Veranda in den Garten hinunter und starrte für eine Weile grübelnd zu den Sternen hinauf.

Obwohl er außerordentlich schlau war – nur Dorothy wusste, wie schlau –, hatte er nicht die geringste Ahnung, was all das zu bedeuten hatte.

Willkommen im Klub. Alle Philosophen der Geschichte, viele davon klüger als er, waren an dem Versuch gescheitert, eine Theorie zu erdenken, die alle zufriedenstellte.

Kurz nachdem er in Dorothys Schlafzimmer zurückgekehrt war, wachte sie auf.

Als sie sah, dass Rosa einen Roman las, sagte Dorothy mit schwacher Stimme: »Rosie, Liebes, Sie sollten Kipp was vorlesen.«

Um ihre Patientin bei Laune zu halten, ging die Pflegerin auf sie ein: »Meinen Sie nicht, dass Dickens ein bisschen zu hoch für ihn ist?«

»O nein, überhaupt nicht. Große Erwartungen hat ihm gut gefallen, als ich es ihm vorgelesen habe, und in Eine Weihnachtsgeschichte war er ganz vernarrt.«

Kipp stand am Bett, sah zu ihr hinauf und wedelte mit dem Schwanz.

Dorothy klopfte auf die Matratze – eine Einladung.

Kipp sprang aufs Bett. Er ließ sich neben ihr nieder und legte das Kinn auf ihre Hüfte.

Sie legte eine Hand auf seinen stattlichen Kopf, streichelte sanft seine Schlappohren und sein goldenes Fell.

Obwohl der grimmige Tod schon an der Türschwelle stand, teilten sich Glückseligkeit und Trauer einen Platz in Kipps Herz.