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In der hohen Schanze des Südwestturms von Schloss Wyvern lag Woody voller Selbstekel da. Diesmal wusste er, dass er für seine Schwäche nie genug Buße tun konnte, dass er nie mehr nach Hause konnte. Kein Rotkehlhüttensänger würde erscheinen, um ein Lied der Vergebung zu zwitschern, und die weiße Ratte würde keinen freudigen Tanz aufführen als Zeichen, dass er den Preis für das bezahlt hatte, was er getan hatte – oder, weit öfter, für das, was er nicht getan hatte.

Der böse Mann hatte ihn einen Blödmann genannt, aber Woody war kein Blödmann. Niemand konnte ihm einreden, dass er dumm war, nur weil er nie sprach. Aber der böse Mann hatte ihn auch als nutzlos bezeichnet. Dass diese Anschuldigung von einem Bösen stammte, bedeutete nicht unbedingt, dass sie nicht zutraf. Ja, es stimmte. Der Mann hatte Woodys Mom beleidigt, schlimmer noch, er hatte ihr befohlen, ihre Kleider auszuziehen, hatte sie zwingen wollen, mit ihm Sex zu haben. Woody war unschuldig, aber nicht naiv. Er wusste, was Sex war. Sex konnte etwas Schönes sein, wenn es aus Liebe geschah, aber es konnte auch so hässlich wie Mord sein, wenn die Liebe fehlte. So viel wusste er.

Und während all das geschah, hatte Woody nichts getan. Nichts. Die leichte Berührung dieses Verrückten – er hatte ihm über Wange und Nase gestrichen, hatte Kreise um sein Kinn gezogen, war mit der Fingerspitze seine Lippen entlanggefahren – hatte Woody so sehr schockiert, seine Hilflosigkeit ihn so sehr beschämt, dass seine Arme und Beine schwer wie Blei geworden waren und er den Kopf nicht mehr heben konnte. Er war zwar nicht sofort nach Wyvern geflohen, aber in seinem eigenen Schlafzimmer hatte er ebenso gelähmt dagelegen wie jetzt auf seinem groben Schilfbett.

Er war erst nach Wyvern gereist, als die Schießerei vorbei war, als er nicht mehr vom Badezimmerboden aufstehen konnte, wo er sich in einer Ecke zusammengekrümmt hatte. Seine Mutter hatte ihn aufheben und zum Bett tragen müssen. Seine Hilflosigkeit war noch nie beschämender gewesen.

Jetzt sah er zu den hohen Fenstern hinauf, zu den angeschwollenen schwarzen Bäuchen der Wolken, hinter denen Blitze pulsierten, ohne sich zu Pfeilen zu formen, wie Säurewellen, die sich durch das drohende Unwetter fraßen. Er hatte noch nie so viele Drachen fliegen sehen. Es waren ganze Schwärme, mit langen, stachligen Schwänzen und gezackten Schwingen, furchterregende Vorboten der Apokalypse. Den Blitzen folgte kein Donner, und die Drachen stießen keine Schreie aus, denn in diesem Reich war es immer still, so still wie Woody, bis der Vogel sang oder die weiße Ratte tanzte, was ihm erlaubte, nach Hause zurückzukehren. Aber diesmal tauchten beide nicht auf.

Wenn es so vieles gab, das man sagen wollte, die Worte aber nicht Gestalt annehmen wollten, wenn man noch nie mit jemandem gesprochen hatte außer mit ein paar Hirschen im Garten, dann lernte man, damit zu leben, dass die eigene Stimme im Inneren eingesperrt war. Was er zu dem Hirsch gesagt hatte – Du bist schön. Ich hab dich lieb –, war dasselbe, was er seinem Dad hatte sagen wollen, bevor dieser für immer verschwunden war. Es war das, was er zu seiner Mutter sagen wollte, die vielleicht auch eines Tages verschwinden würde. Aber er war solch eine Katastrophe, dass er es nur zu einem Hirsch sagen konnte. Also hatte er gelernt, sich damit abzufinden.

Es war das beste Gefühl auf der Welt, in den Armen seiner Mutter zu liegen. Man wusste, wenn man selbst ebenfalls die Arme um sie legen könnte, wäre es sogar noch besser. Aber man lernte, damit zu leben, niemanden umarmen zu können. Er hatte sich gesagt, dass sie auch so wusste, wie er empfand, und meistens glaubte er auch, dass sie es wirklich wusste. Aber manchmal, so wie jetzt, dachte er, dass sie es vielleicht doch nicht wusste, dass sie vielleicht nur hoffte, er liebe sie – und selbst mit diesem Zweifel hatte er zu leben gelernt.

Nur mit einem konnte er nicht leben: der Tatsache, dass seine Mutter beinahe vergewaltigt, beinahe erschossen worden war und dass er nichts getan hatte. Nichts, nichts. Nicht nur war er nicht in der Lage gewesen, ihr zu helfen, er war ihr durch seine Lähmung auch zur Last gefallen. Beinahe wäre sie durch ihn gestorben, weil er sich nicht dazu überwinden konnte, den bösen Mann zu berühren – ihn zu schlagen. Er hatte nicht einmal davonrennen können, um Hilfe zu holen. Und vielleicht war all das nur passiert, weil er die Tragedy-Seite im Dark Web besucht und Die Rache des Sohnes: Gewissenhaft gesammelte Beweise für monströse Bosheit geschrieben hatte.

Und noch etwas, das der böse Mann gesagt hatte, entsprach der Wahrheit.

Weißt du eigentlich, wie heiß deine Mami ist? Viel zu heiß, um ihr Leben mit einem Blödmann wie dir zu verschwenden.

Wenn er nie mehr heimkehrte, wäre sie von ihm befreit. Wenn er einfach hier in Schloss Wyvern blieb, konnte seine Mom ein besseres Leben führen, mit jemandem, der ihr sagen konnte, dass er sie liebte. Sie konnte zu Orten reisen, die sie gern sehen wollte, und musste sich keine Sorgen mehr darüber machen, was ihrem Blödmann von einem Sohn alles zustoßen konnte. Er war klug, aber trotzdem ein Blödmann: dumm, stumm, sprachlos, vollgestopft mit Wissen und mit Gefühlen, die keinerlei Bedeutung hatten, weil er niemandem mitteilen konnte, was er wusste und fühlte.

Hier, im flackernden Licht der Blitze, unter den lautlos fliegenden Drachen, in der gespenstischen Stille des Zimmers hoch im Turm, in dem er weder das Knistern des Schilfs unter ihm noch seinen Herzschlag noch seine Atemzüge hören konnte, hörte er plötzlich eine Stimme.

»Ich komme, Junge. Ich bin fast da.«

Woody senkte den Blick von den unverglasten Fenstern und sah wieder den Hund. Diesmal hatte er sich nicht am Boden zusammengerollt, sondern saß, und er trug einen Gurt, als würde er in einem Auto fahren.

»Weine nicht, Junge, hab keine Angst. Ich bin fast da.«