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Nachdem er von dem ungewöhnlichen Einbruch und der Gewalt im Bookman-Haus erfahren hatte, war der Sheriff davon ausgegangen, es hier mit demselben Täter wie bei dem Mord an Spader und Klineman zu tun zu haben. Sofort ließ er Straßensperren auf der Greenbriar Road errichten. Sie hielten Ausschau nach einem roten Dodge Demon, einem hochgezüchteten Wagen, der mit seiner Motorleistung jedes Fahrzeug der Polizeiflotte abhängen konnte.
Jeder Straßensperre waren vier Männer zugewiesen. Die erste befand sich ungefähr zwei Meilen südlich des Bookman-Grundstücks, eine weitere knapp anderthalb Meilen nördlich. Der südliche Posten war beinahe sofort vollständig bemannt.
Im Norden sperrten zwei Deputys die Straße notdürftig mit einem einzigen Wagen ab.
Das Heulen der Sirenen hatte Nathan Palmer, falls das wirklich sein Name war, dazu gebracht, sich vom Bookman-Haus zu entfernen. Man nahm an, dass er zu Fuß nach Westen geflohen war, durch den Garten in den Wald, statt zu riskieren, den Highway zu benutzen, auf dem die Streifenwagen unterwegs waren. Aber er war sicherlich in seinem Dodge Demon hier eingetroffen und hatte ihn irgendwo in der Nähe versteckt. Er würde versuchen, durch den Wald auf Umwegen wieder zu seinem Auto zu gelangen.
Im Laufe der letzten halben Stunde waren alle Fahrzeuge auf der Greenbriar Road angehalten und überprüft worden. Jetzt verließen Walter Colt und Freeman Johnson, die Ersten, die das Bookman-Anwesen erreicht hatten, das Haus und fuhren nach Norden, um die dortige Straßensperre zu verstärken.
Freeman saß auf dem Beifahrersitz. Als leidenschaftlicher Waldgänger – er wanderte und angelte – verfügte er über ein deutliches Gespür für die Muster der Natur. Der Forstweg, der rechts an ihnen vorbeiglitt, wirkte so finster wie die Eingeweide eines Leviathans. Das Scheinwerferlicht reichte nur ein paar Meter weit hinein, und doch bemerkte Freeman eine Auffälligkeit in der ansonsten vollständigen Dunkelheit zwischen den vom Schleier der Nacht umhüllten Bäumen.
»Warte mal, dreh um«, sagte er. »Irgendwas ist dahinten auf dem Forstweg.«
Walter Colt verlangsamte den Wagen, fuhr eine 180-Grad-Wende, steuerte dann ein Stück nach Süden, bog nach links auf den schmalen, unbefestigten Weg ab und schaltete das Fernlicht ein. Als das Licht direkt in den Wald fiel, wurde das, was zuvor nur Freeman mit seiner Intuition bemerkt hatte, in etwa 20 Metern Entfernung von der Asphaltstraße sichtbar: eine rote Limousine.
Während der Streifenwagen langsam zwischen den Bäumen dahinrollte und die Limousine vor ihnen sich als ein Dodge herausstellte, nahm Walter Colt das Mikrofon des Polizeifunkgeräts zur Hand und meldete ihren Fund. Drei Meter vor dem Auto des Täters blieb er stehen und brachte den Gangwahlhebel in Parkstellung. Er zog die Handbremse, ließ jedoch den Motor laufen.
Weder Johnson noch Colt waren am vorigen Nachmittag am Tatort des Mordes an Spader und Klineman gewesen, aber sie hatten davon gehört, dass sich offenbar Tiere, Aasvögel, vielleicht Geier nach ihrem Tod an der Leiche der Frau zu schaffen gemacht hatten. Falls es sich bei dem Angriff im Bookman-Haus um denselben Täter gehandelt hatte, musste er sowohl leichtsinnig als auch ungewöhnlich gewalttätig sein. Aber ihnen war noch nicht bewusst, dass sie es hier mit etwas zu tun hatten, das ihre Erfahrung aus insgesamt 36 Polizeidienstjahren weit überstieg.
Zusätzlich zu einer Schrotflinte, die links vom Beifahrersitz mit der Mündung nach oben am Armaturenbrett befestigt war, lag im Wagen noch ein 1,20 Meter langer Viehstock, der nur bei Tieren einzusetzen war. Pinehaven County beherbergte mehr wilde Tiere als Menschen, und einige der Erstgenannten waren gefährliche Raubtiere. Vor allem handelte es sich dabei um Berglöwen, aber auch um Bären und Kojoten. Freeman Johnson hatte auch zweimal erlebt, dass ein Bulle ausgebrochen war. Einmal war ein Tiger davongelaufen. Der Halter war ein Idiot gewesen, der geglaubt hatte, das Tier würde immer sanft wie ein Kätzchen bleiben. Bei einer anderen Gelegenheit hatte sich ein schlimm misshandelter Pitbull verständlicherweise zum Menschenfeind gewandelt. Es kam nicht jeden Tag, nicht einmal jede Woche vor, dass die Hilfssheriffs solchen gefährlichen Kreaturen begegneten. Aber weil das Sheriff’s Department sich seit Langem an die Richtlinie hielt, nur im absoluten Notfall ein Tier zu erschießen, war der Viehstock manchmal unentbehrlich.
Obwohl der Dodge Demon dunkel, still und scheinbar leer vor ihnen im Scheinwerferlicht stand, das durch seine Fensterscheiben drang, zogen Colt und Johnson ihre Waffen, bevor sie aus dem Polizeiauto stiegen.
Die Wildnis bot einen gewissen Schutz gegen den Wind, aber diese Barriere war nicht undurchdringlich. Über den Waldboden strich ein schwächerer, aber dennoch beharrlicher Sturm und peitschte das Unterholz, während stärkere Böen die höheren Lagen der immergrünen Bäume heftig schüttelten. Die oberen Luftströme, die durch den dichten Baldachin der Nadelbäume strichen, klangen wie fließendes Wasser, als ob über ihnen ein großer Fluss dahinrauschte. Aus diesem Flüstern erhoben sich dünnes Wispern, dumpfes Seufzen, gequälte Schreie. Es war, als wäre es der Fluss Styx, der Legionen von Seelen aus der Welt der Lebenden ins Land der Toten spülte.
Freeman und sein Partner näherten sich dem Dodge vorsichtig, ohne den dunklen Wald aus den Augen zu lassen, der jenseits des Scheinwerferlichts ihres Wagens lag. Diese Finsternis wirkte irgendwie anders als jede, die Freeman zuvor gesehen hatte – wie die sagenumwobene äußere Dunkelheit jenseits aller Hoffnung um den Garten Eden.
Dieser Augenblick war aufgeladen mit einer Atmosphäre unnatürlicher oder sogar übernatürlicher Gefahr, und die folgende Attacke passte dazu. Der Angreifer ließ sich wie ein geflügelter Dämon von einem Ast fallen, der weit oberhalb ihres Sichtfelds lag. Er prallte heftig gegen Walter Colt, der hinter dem Dodge zu Boden fiel. Die Pistole des Deputys flog ihm aus der Hand, traf mit einem Peng die Stoßstange des Autos und wirbelte ins zuckende Gebüsch.
Schockiert wich Freeman ein, zwei Schritte zurück, während Colt sich abmühte, die Oberhand zu gewinnen oder seinen Angreifer abzuwerfen. Der Deputy war der größere der beiden Männer, aber die zähnefletschende Wildheit seines Gegners machte sofort deutlich, dass seine Körpergröße und Kampfausbildung dem Hilfssheriff nicht dabei helfen würden, den Angriff abzuwehren.
Durch die ineinander verkeilten, wild um sich schlagenden Leiber der beiden Kämpfenden hatte Freeman kein freies Schussfeld. Er trat vor, um sich in den Kampf einzumischen, wollte Nathan Palmer mit dem Pistolenlauf einen Schlag auf den Kopf versetzen. Als Walter Colt schrie, hielt er inne. Solange er Colt kannte, hatte dieser nie Furcht gezeigt, sich nie über Schmerzen beklagt, hatte immer der Definition eines Stoikers entsprochen. Dies war nicht nur ein Schmerzensschrei, sondern auch ein Schrei blanken Entsetzens, und er enthielt die Worte: »Er beißt mich, er beißt mich!«
Im grellen Licht der Scheinwerfer war zu erkennen, dass Colts linke Hand voller Blut war – nein, nicht nur die linke, sondern beide Hände. Auch in seinem Gesicht war Blut. Der Angreifer schnappte nach seiner Kehle. Colt wehrte ihn mit blutenden Händen ab, während der Gegner seinem Opfer das Knie in den Schritt rammte, wieder und wieder. Einmal begegnete Palmer Freemans Blick. Eine Masse aus blutigem Speichel quoll aus seinem Mund, bedeckte sein zähnefletschendes Grinsen, und seine wilden Augen funkelten wie die eines Tieres.
Ohne eine Schussgelegenheit und im Klammergriff der Angst kehrte Freeman zum Streifenwagen zurück. Er packte den Viehstock, der einen elektrischen Schlag mit hoher Spannung und niedriger Stromstärke austeilen konnte, der ausreichte, um einen Bären oder einen Bullen abzuwehren. Vielleicht konnte man damit einen Mann töten, wenn man den Stock rücksichtslos einsetzte. Nach drei Sekunden war er wieder am Schauplatz des Kampfes. Colt schrie immer noch. Die Regeln des Departments verboten den Gebrauch des Viehstocks gegen Menschen. Scheiß auf die Regeln. Er stieß Palmer die Kupferzinken des Stocks in den Rücken.
Da er den Angreifer berührte, würde Walter Colt ebenfalls einen starken Stromschlag erhalten, wenn auch einen weniger heftigen als Ersterer. Das ließ sich nicht vermeiden. Der Verrückte heulte auf. Freeman stieß wieder zu, und Palmer fiel von seinem Opfer und landete mit dem Gesicht nach unten auf dem Forstweg.
Colt stöhnte, keuchte und bemühte sich mit wenig Erfolg, den Schock zu überwinden und Abstand zu seinem Gegner zu gewinnen.
Palmer mochte noch 20 oder 30 Sekunden lang paralysiert bleiben, danach noch eine Minute oder länger desorientiert und mehr oder weniger hilflos.
Freeman nahm dicke Plastikhandschellen von seinem Utensiliengurt. Er ließ sich neben dem auf dem Bauch liegenden Angreifer auf ein Knie hinab mit der Absicht, dem Mistkerl die Hände hinter dem Rücken zu fesseln.
Palmer zappelte, drehte sich um, versuchte sich aufzusetzen und zischte mit der Wut einer gereizten Schlange.
Freemans Herz klopfte so heftig, dass seine Arme zitterten und die Handschellen ihm aus den schweißnassen Fingern rutschten. Er wich hastig zurück und hob den Viehstock auf. Er stieß dem Wahnsinnigen die Kupferzinken in den Bauch. Palmer kratzte über die harte Erde, als ob seine Finger Klauen wären und der Boden aus Sand. Wieder und wieder versetzte Freeman ihm Stromstöße. Palmer warf den Kopf hin und her. Die Sehnen an seinem Hals traten hervor wie Stahlkabel. Freeman gab ihm noch einen Stromschlag, einen langen. Endlich brach Palmer zusammen, war bewusstlos oder tot. Es war Freeman egal, welches von beidem zutraf.
Er kniete sich hin, drehte Palmer mit dem Gesicht nach unten und band dem Mann die Hände hinter dem Rücken zusammen. Er zog die Plastikfesseln straffer, als die Vorschriften zuließen. Dann legte er noch eine zweite Handfessel an, obwohl er noch nie davon gehört hatte, dass sich jemand aus diesen Handschellen befreit hätte. Er band dem Mann Hand- und Fußknöchel zusammen und verband diese beiden Handschellen noch mit einer dritten.
Schließlich fühlte er Palmer am Hals den Puls und stellte mit Bedauern fest, dass der Mann noch lebte.
Währenddessen war es Walter Colt gelungen, zum Streifenwagen zu kriechen und sich mit dem Rücken an den linken Kotflügel zu lehnen. Er blutete aus beiden Händen. Der kleine Finger der linken war abgebissen worden. Der Zeigefinger hing nur noch lose an einem Fleischfetzen. Seine Kinnspitze war so heftig gebissen worden, dass sie sich bewegte, als würde sie gleich vom Knochen fallen. Er weinte wie ein Kind, stand unter Schock.
Freeman Johnson eilte zur Fahrerseite, setzte sich hinters Steuer und schnappte sich das Mikrofon. Er rief einen Krankenwagen – »Polizeibeamter schwer verletzt« –, gab seine Position durch und forderte Verstärkung an – »so viele wie möglich, verdammt noch mal« –, denn die Batterien im Viehstock mussten beinahe leer sein. Die Plastikfesseln würden halten; das taten sie immer. Aber irgendjemand würde Palmer ein Beißholz in den Mund stecken müssen, bevor man ihn abtransportierte, und Freeman hatte nicht vor, das zu tun, wenn er dabei nicht eine Menge Unterstützung bekam.
Er stieg aus dem Auto, holte den Erste-Hilfe-Koffer aus dem Kofferraum, ging zu Walter und kniete sich neben ihn. Die Hände bluteten, aber nicht so sehr, dass ein Druckverband angelegt werden musste, bevor die Rettungssanitäter eintrafen. Er gab Walter zwei Rollen Verbandsmull, die er in den Fäusten halten konnte, um Druck auf die Wunden in seinen Handflächen auszuüben. Gegen die Wunde am Kinn ließ sich nichts ausrichten.
»Der Krankenwagen ist auf dem Weg, Kumpel. Die sind in fünf Minuten hier, vielleicht sogar schneller.«
»Mein Gott«, sagte Walter mit nachgebender Stimme.
Palmer rührte sich bereits wieder. Er fluchte und versuchte sich umzudrehen. Er riss an seinen Handschellen und trat mit den gefesselten Beinen aus. Er beugte den Rücken unmöglich weit zurück, als wäre er in der Lage, seine Rückenwirbel zusammenzufügen und sich wie eine Schlange aufzurichten. Aber das war er nicht, also fluchte er noch wütender.
»Um Gottes willen, was ist er?«, fragte Walter. »Erschieß diesen Freak, bring ihn um, solange du noch kannst.«
Die ungewöhnliche Furcht seines Partners ließ Freeman erschauern. Er stand auf, holte den Viehstock und stellte sich bereit, während aus der Ferne Sirenen zu hören waren. Die Verstärkung kam.
Über dem schmalen Forstweg waren weder der Mond noch die Sterne zu sehen. Der kühle Wind brauste wie die Abflussrohre des Jüngsten Gerichts. Der Wald war tief, schwarz und voller Geheimnisse, wie Freeman Johnson ihn noch nie gesehen hatte.