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Carson Conroy hatte mehr Informationen gefunden, als er erwartet hatte. Er saß immer noch an seinem Computer im Leichenschauhaus. Die Uhrzeit, zu der er normalerweise schlafen ging, lag bereits Stunden zurück. Schwarzer Kaffee und zwei Donuts mit Glasur hatten ihn wach gehalten, und er dachte darüber nach, mit der nächsten Tasse eine Koffeintablette hinunterzuspülen.
Als er auf der Website des National Crime Information Center nach einem Haftbefehl für Nathan Palmer gesucht hatte, war sein Bildschirm weiß geworden bis auf den perfekten Umriss seiner Schultern, des Halses und Kopfes. Er wusste, dass dies bedeutete, dass irgendein Geheimdienst – wahrscheinlich die NSA – sich dafür interessierte, wer Nachforschungen über Palmer anstellte. Sie hatten ihn mithilfe der Kamera seines Computers fotografiert. Er machte sich keine Gedanken deswegen, denn dies war bereits zweimal bei anderen Fällen vorgekommen, ohne dass es Konsequenzen nach sich gezogen hätte.
Obwohl Nathan Palmer wegen Diebstahl, Brandstiftung und Mord gesucht wurde, fehlten in dem Schriftstück des Gerichts in Salt Lake City genaue Informationen über diese Straftaten. Diese Daten wurden geheim gehalten, was Carson sehr merkwürdig vorkam. Palmers Foto von seinem in Montana ausgestellten Führerschein zeigte einen recht attraktiven Mann Mitte 30. Er hatte ein glatt rasiertes Gesicht, braune Haare und braune Augen.
Etwas an diesem Foto beschäftigte Carson. Er war Nathan Palmer nie begegnet, und doch kam ihm der Mann bekannt vor.
Lyle Sheldrake, der frühere Sheriff, der Carson nach Pinehaven geholt hatte, hatte vorausgesehen, dass sein Nachfolger Hayden Eckman irgendwann mal in eine Situation kommen würde, in der er einen Sündenbock brauchte. Weil Carson sich Eckman gegenüber nicht besonders verpflichtet fühlte, war er natürlich der ideale Kandidat dafür. Deshalb hatte Sheldrake im Computersystem des Departments eine geheime Hintertür nur für Carson geschaffen, zusammen mit Anweisungen, wie diese zu benutzen war. Sheldrake hatte zu ihm gesagt: »Vielleicht ist Hayden nicht so eine Schlange, wie er zu sein scheint. Aber Sie sollten etwas Gegengift haben, nur für den Fall.«
Nun schwamm Carson Conroy insgeheim durch den flachen Datensee des Sheriffreviers und tastete sich durch den trüben Tümpel von Hayden Eckmans persönlichen Daten. Der interessanteste Ordner trug den Namen Inoffizielle Fallnotizen. Er fand dort einen Eintrag vom selben Tag, in dem von seiner angeblichen Trunkenheit, Streitsucht und seinem allgemein unprofessionellen Verhalten die Rede war, das er bei der Ankunft von Frawley und Zellman aus Sacramento gezeigt und womit er die Abgabe der Ermittlungen im Fall des Spader-Klineman-Doppelmords behindert habe.
Carson war wütend, aber nicht blind vor Zorn. Damit Wut zu etwas Stärkerem wurde, musste irgendeine Form von Überraschung, irgendein unerwarteter Verrat gegeben sein. Aber er hatte Eckman schon immer List und Tücke zugetraut, weshalb seine Wut kaum mehr als eine gewisse Entrüstung war, der es an Leidenschaftlichkeit und Rachsucht fehlte. Und die Lüge über seine angebliche Trunkenheit war nicht das Interessanteste in dem Ordner über die neuesten Morde.
Viel interessanter waren Eckmans Notizen über sein Gespräch mit Tio Barbizon, dem Generalstaatsanwalt von Kalifornien. Die NSA interessierte sich nicht nur für den Fall, sie versuchte auch auf dem Umweg über Tio Barbizons Büro im Stillen die Ermittlungen zu leiten. Bei Nathan Palmer handelte es sich um eine Tarnidentität des Verdächtigen. Barbizon verriet zwar nicht Palmers echten Namen, aber er hatte Eckman mitgeteilt, dass der Flüchtige eine Führungskraft bei Refine, Inc. gewesen war. Er hatte in Springville, Utah, wo 92 Menschen bei einem schweren Brand gestorben waren, das Sagen gehabt.
Carson klinkte sich wieder aus dem Computersystem aus. Er wusste jetzt, weshalb Nathan Palmer ihm bekannt vorkam. Am Vortag hatte er einen Videoclip von einer Rede in den Nachrichten gesehen, die ein CEO von Refine vor zwei Jahren über die Krebsforschung des Unternehmens in den Laboren bei Springville gehalten hatte. Er googelte den Clip und fand ihn. Damals hatte der Kerl einen säuberlich getrimmten Bart getragen und sein Haar hatte blond, nicht braun gewirkt. Sein Name war Lee Shacket, aber die Ähnlichkeit war deutlich genug, dass Carson keinen Zweifel daran hatte, dass dieser Mann sich Nathan Palmer genannt hatte.
Einigen Berichten zufolge war Refine, Inc. eine Tochtergesellschaft der Firma Parable, die der Multimilliardär Dorian Purcell gegründet hatte und immer noch leitete. In Wahrheit war Refine jedoch ein eigenständiges Unternehmen, eher privat als öffentlich, das zu großen Teilen, jedoch nicht vollständig, in Purcells Besitz war.
Man sagte, Lee Shacket habe sich in den Laboren in Springville aufgehalten, als das katastrophale Gasleck den Gebäudekomplex zerstört und alle Menschen darin vernichtet hatte. Anhand der Ungenauigkeit dieser Information gelangte Carson zu einer furchterregenden Annahme: Welche Arbeit Refine in Utah auch verrichtete, die Krebsforschung gehörte kaum oder vielleicht überhaupt nicht dazu. Sie befassten sich mit etwas viel Exotischerem und Gefährlicherem, und die Explosion war kein Unfall gewesen.
Nachdem er ein paar Minuten über die Situation nachgegrübelt hatte, kam er zu drei weiteren Annahmen. Erstens: Was Refine auch in Utah tat, sie mussten für die NSA arbeiten oder für andere Regierungsorganisationen, die sich darauf verließen, dass die NSA ihre Spuren verwischte. Zweitens: Eine Explosion und ein Feuer in einer so großen Einrichtung konnten nicht so plötzlich und so absolut zerstörerisch sein, dass nicht zumindest ein Überlebender zurückblieb. Die Heftigkeit der Feuersbrunst ließ an einen Notschalter denken, der dazu gedacht war, die Verbreitung hochgradig ansteckender Krankheitserreger aufzuhalten, die eine Seuche auslösen konnten, gegen die es kein Heilmittel gab. Das Fehlen von Überlebenden implizierte, dass ein biologisch sicheres Lockdown-Programm die 93 Personen absichtlich in der Anlage eingesperrt hatte. 92. Dritte Annahme: Lee Shacket war hinausgeschlüpft, wenige Sekunden bevor auch er gefangen gesetzt worden wäre.
Und irgendetwas mit ihm stimmte ganz und gar nicht. Extreme Gewalt und Kannibalismus waren keine Krankheitssymptome. Tollwut? Nein, nicht einmal dieses Retrovirus. Bei Menschen waren die Symptome der Tollwut hohes Fieber, Muskelzuckungen, Durst, die Unfähigkeit, Flüssigkeit zu schlucken, Krampfanfälle, schließlich die völlige Lähmung. Ungeheuerliche Gewaltausbrüche und Kannibalismus ließen eher an psychische denn an körperliche Erkrankungen denken.
Oder …
Als Carson das zerstörte Gesicht von Justine Klineman wieder in den Sinn kam, erschien es ihm, als hätte Shacket die Sitten, Gebräuche und Praktiken der Zivilisation abgeworfen und wäre in einen primitiveren moralischen Zustand abgestiegen. Nein, nicht abgestiegen. Abgestürzt. Carson konnte sich keinen Zustand vorstellen, sei er körperlich oder mental, der einen so abrupten Zusammenbruch herbeiführen konnte – bis ihm das Wort Degeneration in den Sinn kam. Er wusste nicht, was er damit meinte, warum ihm dieses Wort nicht aus dem Kopf ging. Beim nächsten Becher Kaffee dachte er über Gentechnik nach. Einige Enthusiasten unter den Wissenschaftlern glaubten, dass die menschliche Evolution, also das Gegenteil der Degeneration, durch sie schneller vorangetrieben werden konnte, sodass Gesundheit und Langlebigkeit der Spezies sich erhöhten – oder sogar die Entstehung übermenschlicher Kräfte erzielt werden konnte. Sie mochten Wörter wie Transhumanismus und posthuman, weil sie Bilder einer Menschheit heraufbeschworen, die sich zu einem gottähnlichen Zustand erhob.
In den letzten Jahren war es innerhalb der Gentechnik zu bedeutsamen Entwicklungen gekommen. Die gentechnische Methode namens CRISPR war in China und an anderen Orten benutzt worden, um ein krankheitserregendes Gen aus Spermien und Eizellen der Eltern herauszuschneiden. Aber es war wenig darüber bekannt, wie genetische Informationen in einem Individuum zum Ausdruck kamen oder was die Konsequenzen ihrer Editierung sein mochten. Es bestand eine große Gefahr, dass diejenigen, die solche Experimente durchführten, vererbliche Veränderungen im Genom erzeugten. Diese wiederum konnten eine Kaskade von Störungen auslösen, die im Laufe von ein paar Generationen möglicherweise zu einer neuen Art Mensch mit empfindlich verringerten körperlichen und mentalen Fähigkeiten führen konnten. Vielleicht würden sie sogar die Ausrottung der menschlichen Spezies herbeiführen. Einige der kühleren Köpfe hielten diese Technik für den größten Leichtsinn der Wissenschaftsgeschichte, aber es gab immer ein paar wahre Gläubige, die einen neuen wissenschaftlichen Trick zu ihrer Religion erkoren.
Und CRISPR war nur eine von mehreren neuen Techniken. Falls diese oder eine andere, vielleicht noch effektivere in den Refine-Laboren in Springville erforscht worden war, war Lee Shacket dann gerade dabei, die Evolutionsleiter hinabzusteigen in einen entsetzlichen, primitiven Zustand? Oder war es sogar möglich, dass man seinen Körperzellen Material hinzugefügt hatte, mit dem Ergebnis, dass er … was? Die Evolutionsleiter weder hinauf- noch hinabstieg? Dass er sich stattdessen irgendwie … seitwärts bewegte?
Vor weniger als einer Stunde hatte Carson erwogen, eine NoDoz-Tablette mit schwarzem Kaffee hinunterzuspülen. Aber jetzt brauchte er keine chemische Unterstützung mehr, um wach zu bleiben. Nacktes Grauen erledigte diesen Job besser, als Koffein es je gekonnt hätte.
Er schaltete den Computer aus, stand auf und lauschte in die Stille der Leichenhalle hinein. Ihm kam ein Satz von T. S. Eliot in den Sinn: Ich kann dir die Angst selbst in einer Handvoll Staub zeigen.
Er ging Raum für Raum ab und schaltete das Licht aus. Dann aktivierte er die Alarmanlage, ging hinaus und schloss die Tür ab.
Der Wind sang ein Requiem für die Welt. Carson hatte den Eindruck, dass die frostigen Ströme bedrängter Luft mehr als nur das waren, dass sie die Zeit selbst waren, die auf eine große Veränderung zuraste. Ein Stöpsel war gezogen worden, das Wasser würde abfließen und die Welt würde für immer still und dunkel werden.
Als er durch die nachmitternächtliche Gasse zum Stadtplatz ging, hörte er die Sirenen von Rettungswagen. Einer schien näher zu kommen, der andere entfernte sich.