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Carson Conroy trat über die Türschwelle. Die Tür fiel hinter ihm zu. Deputy Fenton schloss sie ab.
Der Gefangene lag auf dem Rücken, die Arme neben sich. Er war mit breiten Gurten festgebunden und die obere Hälfte des Bettes war etwa im Winkel von 30 Grad hochgestellt.
Derzeit stammte das einzige Licht im Zimmer von einer Nachtleuchte an der Wand hinter dem Bett, direkt über Shackets Kopf. Trotz ihrer schwachen Leistung war das Licht dieser Lampe, das auf ihn herabströmte, wie eine schaurige Verhöhnung des mystischen Lichts, das in den Darstellungen mancher christlichen Maler bei der Kreuzigung Christi herabgekommen war. Aber dies war kein Porträt der Selbstaufopferung und Erlösung, ins Licht der Liebe gehüllt. Diese groteske, dämonische Gestalt ließ einen an die Zeilen des Dichters Yeats denken: Und welch räudiges Tier, des Zeit nun gekommen / Kreucht, um geboren zu werden, Bethlehem zu?
Als Carson sich dem Fußende des Bettes näherte, sah er etwas wie einen animalischen Glanz in Shackets hasserfülltem Blick. Seine Augenfarbe wechselte immer wieder zwischen gelb und rot. Carson vermutete, dass das Krankenhauspersonal, wenn es dem Gefangenen am nächsten Morgen die nächste Beruhigungsspritze gab, keine Kontaktlinsen, sondern nur Augen finden würde, die sich auf irgendeine scheußliche Weise entsetzlich schnell ihrer Menschlichkeit entledigt hatten.
»Ich bin Dr. Carson, der hiesige Gerichtsmediziner. Ich habe die Obduktion an dem Mann durchgeführt, der gestern erschossen wurde, und an der Frau, die totgebissen wurde.«
Wäre der Blick dieser Kreatur nicht listig und bösartig gewesen, hätte Carson sich eingebildet, dass es so war.
Er wusste, dass er nicht in der Lage war, mit Sicherheit festzustellen, was Shacket dachte oder was der wahre Zustand seines Geistes war.
»Ich habe nicht die Absicht, vor Gericht gegen Sie auszusagen. Ich werde mich nur zum Zustand der Leichen von Justine Klineman und ihrem Begleiter äußern.«
Shacket erwiderte nichts.
Ein leichter, aber eigenartiger Geruch lag in der Luft. Er war weder übel riechend noch angenehm. Nur eigenartig. Carson hatte noch nie etwas Derartiges gerochen und konnte nicht benennen, worum es sich handelte.
»Niemand hier geht vom Schlimmsten aus. Die glauben, Sie wären nur psychotisch, hätten einen totalen Nervenzusammenbruch erlitten. Ich fürchte, das ist nicht der Fall, jedenfalls nicht so, wie die es meinen. Ich glaube, dass mit Ihnen etwas Außergewöhnliches passiert.«
Shackets Arme lagen auf der Bettdecke, unter den Gurten. Das bleiche Licht reichte gerade aus, um zu erkennen, wie er die Muskeln anspannte und die Hände zu Fäusten ballte.
»Kennen Sie das Wort Transhumanismus, Mr. Shacket?«
Die Nasenflügel des Gefangenen blähten sich, was möglicherweise ein Anzeichen von Aufregung war.
Carson erwiderte: »Etwas zu Kindisches, um eine Philosophie zu sein, mit zu wenigen zugrunde liegenden Fakten, um eine Theorie genannt zu werden. Das ist bloß eine Hightech-Religion.«
»Was wissen Sie denn schon?«, entgegnete der Gefangene. »Sie sind überhaupt kein richtiger Doktor. Nur ein Metzger der Toten.«
Carson fuhr fort: »Einer der Grundsätze des transhumanistischen Glaubens ist der, dass Menschen bald fähig sein werden, sich körperlich und intellektuell zu transformieren. Wir würden viel kräftigere Körper bekommen, eine drastisch erhöhte Intelligenz, Kräfte, von denen sonst nur die Comiczeichner bei Marvel träumen. Das alles soll entweder durch eine Verschmelzung von Mensch und Maschine oder über Durchbrüche in der Gentechnik geschehen.«
»Sie haben Augen zum Sehen, aber Sie sind doch blind«, stellte Shacket fest.
»Wurde in Springville wirklich Krebsforschung durchgeführt?«
»Nicht so etwas Belangloses. Weshalb sind Sie hier? Um sich bei mir zu bedanken, dass ich Ihnen Arbeit verschafft habe? Ohne Morde hätten Sie keine. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, wie groß Ihre Nähe zum Verbrechen ist, Doktor?«
Womit auch immer Carson gerechnet hatte – dies war es nicht. Wo war die außer Kontrolle geratene, unmenschliche Bestie, die roh über Justine Klineman hergefallen war und Walter Colt einen Finger abgebissen hatte?
Er beschloss, nach dem Köder zu schnappen. »Dorian Purcell sagte, dass man angesichts der medizinischen Fortschritte davon ausgehen kann, dass manche heute lebenden Menschen 200 Jahre, 300 oder länger leben werden. Ging es bei den Forschungen in Springville um die Verlängerung der Lebensspanne?«
»Es ging um das menschliche Genom, um horizontalen Gentransfer, um die Bestimmung der Menschheit, das Schicksal der Erde – viel höhere Dinge als das Aufschneiden von Leichen, um herauszufinden, was ihr Leben beendet hat.«
Carson blieb beharrlich. »Ist etwas schiefgelaufen?«
Der kreischende Wind protestierte lautstark. Shacket wandte den Kopf nach links, sah zum Fenster mit einem Gesichtsausdruck, in dem etwas wie Sehnsucht nach dieser unruhigen Nacht lag.
»Ging etwas schief?«, fragte Carson erneut.
Shacket verzog das Gesicht zu einem selbstgefälligen, hämischen Grinsen. »Etwas ging schief und etwas funktionierte.«
»Wurden Sie kontaminiert?«
In Shackets Lichtaugen trieben die Regenbogenhäute wie Enzianblüten in mondbeschienenen Teichen.
Carson Conroy spürte, dass er sich in der Gegenwart von etwas zutiefst Fremdartigem befand. Er konnte es nicht beweisen, aber er wusste es.
Mit vor Verachtung ätzender Stimme sagte Shacket: »Sie sagen dazu kontaminiert, ich sage koroniert.«
»Koroniert? Gekrönt? Und wovon sind Sie König?«
»Von allem, was sein wird.«
Shacket sprach diese Worte mit einer ruhigen Zuversicht aus, die seinen Wahnsinn entweder bewies oder widerlegte.
Zu Carsons Erschütterung war er nicht in der Lage, sich auf eine dieser zwei Deutungen festzulegen.
»Was immer mit Ihnen geschehen ist, womit auch immer Sie ›gekrönt‹ wurden – ist es übertragbar?«
»Deshalb sind Sie also hier. Sie wollen der Bevölkerung Angst vor einer Seuche machen.« Shacket schüttelte den Kopf und sah wieder zum Fenster. »Langsam langweilen Sie mich, Doktor.«
»Keine Bakterien, keine Viren?«
»Wenn ein König hustet, infiziert er dann diejenigen um ihn herum mit seiner Majestät?«
»Die 92 Menschen, die im Feuer umgekommen sind – waren die kontaminiert?«
»Koroniert. Stellen Sie sich nicht so dumm an, Doktor. Keine Bakterien, kein Virus. Nur … ein Mittel der Veränderung, das in jede Zelle eindringt.«
»Welches Mittel?«
»Archaeen. Falls Sie nicht wissen, was das ist, schlagen Sie es nach. Aber das wird Ihnen auch nichts bringen. Durch mein Werden sind die Archaeen nicht mein Kryptonit. Ich fürchte sie nicht.«
»Ihr ›Werden‹?«
»Ich verwandle mich vor Ihren Augen. Aber Sie haben nicht die Fähigkeit, es zu sehen.«
»Sie wurden verbrannt – warum? Weil sie … Verwandlungen durchmachten, genetische Veränderungen?«
»Genau.«
Carson dachte darüber nach. »Unkontrollierbare Veränderungen. Sie waren also eine Katastrophe für das Ansehen der Firma. Und möglicherweise der Anlass für Hunderte Gerichtsverfahren, in denen es um Millionen gegangen wäre.«
»Ah.« Shacket grinste ihn an. »Ihr Umgang mit Toten hat Sie also doch noch nicht komplett hirntot gemacht.«
»Wussten diese Leute beim Unterschreiben ihrer Arbeitsverträge, dass sie praktisch auf einer Bombe sitzen würden? Dass man sie im Fall einer Katastrophe, falls diese veränderten Archaeen irgendwie aus dem Isolationslabor entkommen würden, als entbehrlich betrachten würde?«
»Wenn sie es nicht gewusst haben, dann zumindest geahnt. Sie sind das Risiko alle eingegangen. Auch Wissenschaftler können wahre Gläubige sein. Tatsächlich vielleicht sogar leichter als andere, wenn sie etwas gefunden haben, das sie die Wahrheit nennen und für glaubwürdig halten. Dorian hat nur diejenigen angeheuert, die eine Leidenschaft für den Transhumanismus und die mit ihm verbundene Zukunft hatten, die dabei sein wollten, wenn der ultimative Durchbruch kam. Sie wollten zu den Ersten gehören, denen ein jahrhundertelanges, gesundes Leben ohne Krankheiten garantiert wäre, mit ganz neuen Fähigkeiten. Wir alle leben für die Erfüllung des einen oder anderen Traums – Liebe, Wohlstand, Ruhm. Aber gibt es einen Traum, dessen Verfolgung lohnenswerter ist als der von der körperlichen Unsterblichkeit?«
Von allem, das Shacket gesagt hatte, war diese Ansprache das Erste, das für Carson den unverwechselbaren Beigeschmack des Wahnsinns hatte.
Soweit Carson wusste, waren Archaeen zu einem horizontalen Transfer von Genen zwischen verschiedenen Spezies in der Lage, aber sie waren nicht als Überträger von Krankheiten bekannt.
Er nahm an, dass veränderte Archaeen, die darauf programmiert waren, ein genetisches Paket in die Zellen eines Versuchstiers zu transportieren, nach der Erfüllung dieser Aufgabe abstarben oder in einen vorprogrammierten Naturzustand zurückkehrten und nur noch an natürlichen Prozessen beteiligt waren.
Seine Sorge über eine Seuche trat in den Hintergrund.
»Zu was werden Sie?«, wollte er wissen.
Wieder zog der Wind an den Flügelfenstern Shackets Aufmerksamkeit auf sich. Das Glas vibrierte und die metallenen Rahmen um die beiden großen Scheiben klirrten aneinander.
Als der Sturm nachließ, richtete Shacket den leuchtenden Blick wieder auf seinen Besucher. »Ich werde zum König der Tiere.«
Hier war er nun, ein offensichtlicher Beweis des Wahnsinns, den Carson bereits beim Betreten des Zimmers erwartet hatte. »Der König welcher Tiere?«
»In dieser Welt gibt es nur Tiere, Doktor. Die Menschen sind nur eine Art unter vielen in diesem Zoo. Und ich werde der König über sie alle sein.«
Illusionen der eigenen Großartigkeit. Größenwahn. Dieser auf schaurige Weise wortgewandte und bedächtige Lee Shacket, mit dem er zuvor gesprochen hatte, schien nun eine erkennbarere Form der Verrücktheit an den Tag zu legen, die er ihm bis jetzt verborgen hatte.
Dieser Geruch, den Carson vor dem Betreten dieses Zimmers noch nie wahrgenommen hatte, war nun weniger subtil. Für einen Augenblick erinnerte er ihn an rohe Zwiebeln, dann nicht mehr. Dann musste er an Reinigungsalkohol denken, aber nur für einen kurzen Moment. Es war auch nicht der scharfe Geruch des Urins im Sammelbehälter.
Es war ein Zeichen seiner Furcht, dass er sich fragte, wie es wohl in einem Labyrinth im Erdboden riechen musste, in dem eine Schlange über ihren zappelnden Nachwuchs kroch. Vielleicht so wie hier?
Er sagte zu Shacket: »Angesichts Ihrer Umstände könnte man sagen, dass man Sie wieder entthront hat, bevor Sie richtig gekrönt wurden.«
Der Gefangene ließ sich nicht in eine Diskussion verwickeln. Er grinste nur.
Carson drehte sich zur Tür um. Dort stand Deputy Thad Fenton und drückte sein Gesicht an das Sichtfenster.
Als er wieder im Flur stand und der Polizist die Tür abschloss, fragte dieser ihn: »Und? Wie verrückt ist er, Doc?«
»Verrückt genug. Falls er aus diesem Raum entkommt …«
»Das schafft er niemals«, unterbrach Fenton ihn. »Er kann nicht mal aus seinem Bett aufstehen, um pissen zu gehen.«
»Aber falls er es schafft«, wiederholte Carson, wobei er seine Telefonnummer auf eines der Hot-Rod-Magazine schrieb, »dann erschießen Sie ihn. Halten Sie sich von der Leiche fern und rufen Sie mich sofort auf dem Handy an.«
»Ihn erschießen, einfach so? Die Regeln des Departments …«
»Ihr Leben ist wichtiger als Ihre Karriere, Deputy. Erschießen Sie ihn, und ich werde dann mein Bestes tun, um dafür zu sorgen, dass die Konsequenzen für Sie nicht zu ernst werden.«
Fenton dachte darüber nach. »Ich wünschte, Sheriff Sheldrake wäre noch im Amt.«
»Bleiben Sie wach und wachsam.«
»Die Oberschwester bringt mir Kaffee.«
»Aber Sie verlassen Ihren Posten, wenn Sie zur Toilette gehen.«
»Das mache ich immer schnell«, versicherte Fenton ihm. »Nicht dass ich mir nicht die Zeit nehmen würde, mir die Hände zu waschen. Doch, das tue ich schon.«
»Wenn Sie zur Toilette gehen, dann schauen Sie nicht zuerst durch das Sichtfenster in der Tür. Sonst kann er sich denken, dass Sie das tun, weil Sie weggehen wollen.«
»Sie jagen mir ein bisschen Angst ein, Doc.«
Carson erwiderte: »Gut so.«