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Es klingelte an der Tür. Der Hund rannte in den Flur des Obergeschosses, geriet außer Sicht, und Megan nahm ihre Pistole vom Nachttisch. Ben folgte dem Retriever und sagte: »Die brauchen Sie nicht. Kipp ist aufgeregt, aber das ist positive Aufregung. Er weiß, wer an der Tür ist, und er hat keine Angst vor ihm.«
»Wie kann er erkennen, wer an der Tür ist?«
»Anhand des Geruchs, schätze ich. Nur Hunde können einen am Geruch erkennen, aus einer Meile Entfernung oder noch viel mehr. Deshalb warten sie immer schon an der Tür auf einen, wenn man sie allein gelassen hat und wieder nach Hause kommt.«
Sie gab Woody dennoch die Anweisung hierzubleiben und folgte Ben in den Flur. »Ich werd mich trotzdem mit der Waffe an die Treppe stellen.«
Ben kannte sie bereits gut genug, um sicher zu sein, dass sie nicht leichtsinnig mit einer Schusswaffe hantierte. Er nahm zwei Stufen auf einmal und rief: »Rückendeckung kann nie schaden.«
Kipp stand am unbeschädigten Seitenfenster links von der Haustür. Er wedelte nicht nur mit dem Schwanz, sondern praktisch mit dem ganzen Körper und tänzelte vor Freude auf der Stelle.
Eine Frau in den Dreißigern hockte vor der Tür, schaute zum Hund herein, lächelte breit und sagte etwas. Ben konnte nicht alles verstehen, stellte jedoch fest, dass sie den Namen des Retrievers kannte.
Er öffnete die Tür, und sie sah zu ihm auf. »Oh! Hallo. Meine Güte, Sie haben Kipp gefunden. Mein Name ist Rosa. Rosa Leon. Ich bin Kipps … Ich bin seine Beschützerin.«
Obwohl es Ben freute, dass den Hund dieses Wiedersehen so sehr begeisterte, überkam ihn doch ein Gefühl des Verlusts. Innerhalb von weniger als einem Tag hatte sich eine Bindung zwischen ihm und diesem erstaunlichen Retriever entwickelt. Er wollte nicht aus Kipps Leben ausgeschlossen werden, aus seiner Geschichte.
Rosa Leon kniete sich in der Diele hin und Kipp stieß sie mit der Schnauze an. »Wie um alles in der Welt haben Sie ihn gefunden?«, fragte Ben.
»Durch sein spezielles Halsband. Da ist ein GPS-Sender drin.«
Als Ben die Tür gegen den unablässigen Wind schließen wollte, hielt ein weißer Ford Explorer hinter dem Lincoln MKX, in dem Rosa Leon offenbar eingetroffen war. Der Fahrer des Fords schaltete die Scheinwerfer aus.
»Er ist kein gewöhnlicher Hund«, sagte Ben, wobei er die Tür schloss und den Ford Explorer durch das Seitenfenster beobachtete.
Rosa kraulte Kipp weiter hinter den Ohren. »O ja, er ist sehr gut erzogen. Kipp ist wirklich bemerkenswert. Er kennt so viele schlaue Tricks.«
»Er kennt mehr als nur Tricks.« Ben sah einen Mann aus dem Explorer steigen. »Dieser Junge ist kein Zirkushund. Er ist was ganz anderes.«
Die Frau stand auf und runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht genau, wie Sie das meinen.«
»Ich bin ziemlich sicher, dass Sie das wissen«, widersprach Ben, aber er gab sich Mühe, seine Worte durch ein Lächeln abzumildern. »Sie beschützen ihn … ihn und sein Geheimnis.«
Der Neuankömmling näherte sich dem Haus.
Ben hatte eine Genehmigung, eine Waffe zu tragen, aber er hatte seine Pistole im Range Rover gelassen. »Megan, wir bekommen noch einen Gast. Können Sie mal runterkommen?«
Als er sich umblickte, um sich zu überzeugen, dass sie die Treppe herunterkam, sah er Woody am oberen Ende stehen.
Die Frau stand auf, als sie die Pistole in Megans Händen sah. »Was ist hier los, was soll das?«
»Wir sind nicht das Problem«, versicherte Ben ihr. »Aber vielleicht ist es der Kerl, der gerade zum Haus kommt. Gehen Sie zur Seite. Stellen Sie sich hinter Megan.«
Als der Mann die Veranda betrat, fragte Ben: »Megan, kennen Sie ihn?«
Sie betrachtete den Besucher durch das Seitenfenster. Dieser nickte ihr zu, und sie sagte: »Ich hab ihn schon ein paarmal gesehen. Ich glaube, er arbeitet für die Stadt oder so.«
»Halten Sie sich bereit«, wies Ben sie an und öffnete die Tür.
Der Mann zeigte ihnen seine Visitenkarte. »Ich muss mit Mrs. Bookman sprechen. Es ist dringend.«
Der Karte nach war er Dr. Carson Conroy, der Gerichtsmediziner von Pinehaven County.
»Worum geht’s?«, erkundigte sich Ben.
»Lee Shacket ist aus der psychiatrischen Abteilung im County-Krankenhaus ausgebrochen.«
Kipp wandte sich ruckartig von Rosa Leon ab und lief die Treppe hinauf zu Woody.
Aus der Ferne war anschwellendes Sirenengeheul zu hören.