Das Mysterium
Donnerstag 4 Uhr – danach
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Woody war auf der Welt, wie er es nie zuvor gewesen war, beschämt weder vor sich selbst noch vor anderen. So wie er Kipp seine Furcht vor Nähe mitgeteilt hatte, hatte der Hund ihm sein Bedürfnis nach Nähe vermittelt, nach Berührung und Gemeinsamkeit. Tief in Woody angelegte Knoten waren gelöst worden. Welche Art von Knoten es gewesen war, ob psychisch, ob physisch oder beides, konnte er nicht sagen. Er wusste auch nicht, wie sie gelöst worden waren. Er wusste lediglich, dass das Mittel, das es ihm und Kipp ermöglicht hatte, sich einander zu öffnen – die Leitung –, nicht nur zwei Zwecken, sondern auch noch einem dritten Zweck diente. Sie war nicht nur ein Mittel der Kommunikation und der raschen Wissensvermittlung, sondern auch ein mysteriöses Instrument des Wandels. Intuitiv wusste er, dass Kipp begriff, was dieser dritte Zweck war und auf welche Weise die Leitung ihn erfüllte. Er wollte, dass der Golden Retriever es ihm erklärte, wollte wissen, was den gordischen Knoten des Autismus zerschlagen hatte, aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt dafür.
In diesem Augenblick waren außer ihm noch vier andere Personen im Haus: seine Mom, Ben Hawkins, Rosa Leon und Carson Conroy. Drei von ihnen waren für ihn bis vor einer Stunde noch Fremde gewesen. Dazu kam ein Hund, der kein Fremder mehr war, der Woody so vertraut war wie dieser sich selbst. Außerdem waren Deputys überall da draußen: zwei in einem Streifenwagen vor dem Haus auf der Greenbriar Road; zwei am Ende des Gartens in einem SUV mit Allradantrieb, nahe dem Wald; zwei weitere in einem zweiten SUV, der am Fuß der hinteren Verandatreppe stand.
Nach der Sache mit Shacket, die sich zuvor abgespielt hatte, hätten all diese Menschen und all diese Aktivität Woody eigentlich erschrecken müssen, und früher hätte er sich sicher nach Schloss Wyvern zurückgezogen. Aber jetzt wollte er nicht dorthin gehen. Er glaubte, dass er vielleicht nie wieder verschwinden würde.
All diese Menschen, mit Ausnahme der Deputys, hatten sich im Wohnzimmer versammelt. Die Vorhänge waren zugezogen. Bis jetzt waren noch niemandem Kaffee oder die ausgezeichneten Muffins von Mrs. Brickit angeboten worden, denn jeder hatte etwas Dringendes mitzuteilen, vor allem Mr. Conroy. Dieser berichtete ihnen von Shackets Flucht, von Archaeen und von den 92 Toten in Springville, Utah. Miss Leon erzählte ihnen von Dorothy, Kipp und dem Mysterium, von ihrem gewaltigen Erbe und ihrer gesetzmäßigen Ernennung zu Kipps Bewacherin. Das alles war sehr aufregend, wie etwas in einer Abenteuergeschichte, aber es war auch beängstigend. Woody saß auf dem Sofa, Kipp hatte ihm den Kopf auf den Schoß gelegt. Der Junge hatte befürchtet, sich zu blamieren, als sie ihn über das Dark Web und die Seite namens Tragedy befragten, aber alles sprudelte nur so aus ihm hervor: alle Informationen, die er im Laufe der letzten 60 Wochen zutage gefördert hatte, die Genugtuung, die ihm die Suche nach Gerechtigkeit für seinen Dad bereitete. Er staunte über sich selbst. Er fragte sich … Wenn sein Gemüse, seine Kartoffeln und sein Fleisch beim nächsten Abendessen alle auf demselben Teller wären, würde die Tatsache, dass alle Speisen einander berührten, bei ihm immer noch Übelkeit auslösen, oder würde er in der Lage sein zu essen wie ein ganz normaler Mensch?
Als alle gesagt hatten, was zu sagen war, breitete sich eine unbequeme Stille aus. Es war beinahe, als wären sie zu Autisten geworden, doch wahrscheinlich war es ihr Staunen, das sie für kurze Zeit sprachlos machte. Ganz sicher war ihr Weltbild auf den Kopf gestellt worden. Dann begannen alle außer Woody gleichzeitig zu sprechen. Sie waren sich über die Situation einig, in der sie sich befanden. Woody hatte in ein Wespennest gestochen und steckte tief in der Scheiße. Und wenn Woody tief in der Scheiße steckte, traf dies auch auf seine Mom zu. Kipp würde nicht von Woodys Seite weichen, denn dieser war der einzige Mensch, der die Leitung benutzen konnte, also steckte auch Kipp tief in der Scheiße. Weil Rosa Leon rechtlich wie moralisch für Kipp verantwortlich war, traf dies auch auf sie zu. Und auch auf den Gerichtsmediziner Mr. Conroy, denn Lee Shacket hatte ihm im Krankenhaus mitgeteilt, welche Experimente in Springville wirklich stattgefunden hatten. Sie alle waren jetzt Feinde von Dorian Purcell, der eine Null-Toleranz-Politik verfolgte, wenn es um Leute ging, die er für eine ernste Gefahr hielt.
Die einzige Person im Raum, die nicht tief in der Scheiße steckte und in der Lage gewesen wäre, einfach zu gehen und ihr Leben weiterzuleben, war Ben Hawkins. Aber dieser sagte, er habe bereits oft tief in der Scheiße gesteckt und sei wieder herausgekommen. Rückblickend sei er zu dem Schluss gekommen, dass er diese Erfahrung genossen und immer etwas daraus gelernt habe. Hier war man dabei, eine Gemeinschaft von Menschen zu bilden, die sich gegenseitig schützten, vielleicht auch eine Art erweiterter Familie. Ben bestand darauf, ein Teil davon zu sein, denn er wollte, wie er sagte, Anteil an dieser Magie haben, die von Kipp ausging. Das mit Kipps Magie stimmte sicherlich, aber Woody sah auch, wie Ben seine Mom anschaute, und er stellte sich vor, dass er selbst auf diese Weise ein Mädchen anschauen würde, das er küssen wollte, falls ein solches Mädchen je in sein Leben trat. Es ging also keineswegs nur um Kipp.
Mr. Conroy sagte: »Megan, im Moment bietet der Sheriff Ihnen all diesen Schutz, weil er glaubt, dass Shacket vielleicht hier auftauchen wird. Sie und Ihr Junge sind ihm egal, er denkt nur an seine Karriere. Falls sie Shacket finden und erledigen, wird er diese Deputys abziehen. Und falls dann jemand von dieser Dark-Web-Firma aufkreuzt …«
»Dann stehen wir allein da«, brachte sie den Satz zu Ende.
Conroy schüttelte den Kopf. »Noch schlimmer als das. Hayden Eckman ist bereits jetzt ein Erfüllungsgehilfe, vielleicht von der NSA, vielleicht von Purcell, weil er sich nicht gegen die Abgabe der Ermittlungen an den Generalstaatsanwalt wehrt. Wenn Purcell möchte, dass diese Dark-Web-Killer ein freies Schussfeld auf Sie – und uns – haben, und versucht, Eckman zu kaufen, wird er feststellen, dass der Sheriff nur allzu bereit ist, sich kaufen zu lassen. Dann werden wir uns auf die einheimische Polizei nicht mehr verlassen können. Was die Deputys angeht, die vom früheren Sheriff Lyle Sheldrake eingestellt wurden … Nun, denen vertraue ich. Aber Eckman hat sich bemüht, Lyles beste Leute loszuwerden, und dabei die Polizeimannschaft so stark vergrößert, wie er es sich leisten konnte. Bei einigen seiner Männer muss ich sagen, wenn die hier auftauchen würden, um mich zu schützen … Dann würde ich überall sein wollen, nur nicht hier.«
»Sollten wir gehen?«, fragte Woodys Mom. »Und wohin? Mir gefällt die Vorstellung nicht, einfach wegzulaufen.«
»Es gibt keinen Ort, an dem man Sie nicht finden könnte«, gab Ben zu bedenken. »Nicht wenn Sie jemand sucht, der über Purcells Ressourcen verfügt.«
»Wir brauchen einen Plan«, sagte Woody. »Das tun die Leute in den Geschichten, wenn sie in wirklich großen Schwierigkeiten stecken. Sie denken sich einen coolen Plan aus.« Er ließ sich vom Sofa rutschen, und Kipp sprang mit ihm auf den Boden. »Mrs. Brickit hat ein paar wirklich tolle Muffins gebacken. Möchte jemand einen? Sollen wir Kaffee machen?«
Obwohl sie offensichtlich erschöpft und voller Sorge war, überraschte Woodys Mom sich selbst, indem sie plötzlich lachen musste. »Woodrow Eugene Bookman, schau dich an. Der große Gastgeber.«
Eine leichte Röte wärmte Woodys Gesicht, aber dies war eine ganz andere Art von Verlegenheit als die, unter der er so lange gelitten hatte. »Ich weiß, wie man Kaffee macht«, verkündete er und lief eilig in die Küche. Der Hund blieb ihm dicht auf den Fersen.