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Als John Verbotski und Bradley Knacker nach ihrer Fahrt vom verlassenen Einkaufszentrum in Sacramento auf der Greenbriar Road eintrafen, hatten ihre Mitarbeiter bei Atropos & Company bereits Nachforschungen über die Lage in Pinehaven angestellt. Sie versorgten sie mit den benötigten Informationen, die sie erhalten hatten, indem sie das Kommunikationssystem des County-Sheriffs gehackt hatten, ebenso die Grundbücher in den Computerverzeichnissen des Finanzamts, das Wählerverzeichnis sowie die Geburts- und Sterbeurkunden.
Um 4:43 Uhr fuhren Verbotski und Knacker nördlich der Greenbriar Road in ihrem Cadillac Escalade am Haus der Bookmans vorbei. Die Fahrzeuge des Sheriff’s Department und die Wache haltenden Deputys waren keine Überraschung für sie. Unterwegs hatten sie vom flüchtigen Lee Shacket, dessen Gewalttaten in diesem Haus, seiner Festnahme und der darauffolgenden Flucht erfahren. Ihr Kunde Alexander Gordius hatte diese Komplikationen nicht erwähnt; offenbar wusste er nichts davon.
Während sie ein zweites Mal in südlicher Richtung am Haus vorbeifuhren, wählte Bradley Knacker die derzeitige Nummer von Gordius. Keine Antwort.
»Er wollte zu seinem Hotel zurückfahren und sich aufs Ohr hauen«, erinnerte ihn Verbotski.
»Kann sein, dass wir ihn für eine Weile nicht erreichen können.«
»Weißt du, in welchem Hotel er ist?«
»Nein. Das verrät er mir nicht, weil ich dann versuchen könnte, an die Gästeregistrierungen heranzukommen und seinen echten Namen herauszufinden, oder den falschen, unter dem er sich angemeldet hat.«
Das einzige Geschäft, das sich für Atropos & Company noch mehr lohnte als Auftragsmorde, war die Erpressung ausgewählter Kunden, die die Firma für das Töten von Menschen bezahlt hatten. Gordius, wer immer auch hinter diesem Namen steckte, hatte stets sorgfältig darauf geachtet, dass keinerlei Rückschlüsse auf seine wahre Identität gezogen werden konnten. Für jede Kontaktaufnahme benutzte er ein anderes Einwegtelefon. Sie hatten zwar versucht, an seine Fingerabdrücke zu kommen, aber er schien keine zu haben. Vielleicht hatte er sie sich mit Säure und CO2 -Laserbehandlungen entfernen lassen. Verbotski hatte selbst einmal darüber nachgedacht, dieses Verfahren zu nutzen.
»Also, was jetzt?«, fragte Knacker. Er war der Jüngere der beiden und hatte weniger Geduld, wenn das Timing eines Plans geändert werden musste. »Sitzen wir jetzt einfach rum und warten, bis wir dieses Arschloch erreichen können?«
»Nein. Richten wir unsere Operationsbasis ein. Machen wir uns bereit zuzuschlagen. Und man sollte einen Kunden nie als Arschloch bezeichnen.«
»Nicht mal wenn er eins ist?«
»Gerade dann nicht.«
Die Auftragsmord-Firma Tragedy war mit stumpfer Gewalt vorgegangen. Atropos & Company präsentierte sich als ein Unternehmen für aggressive Problemlösungen der gehobenen Klasse. Zur Aufrechterhaltung dieses Images war ein gewisses Maß an Zurückhaltung und Einhaltung der Etikette nötig.
Sie mussten diskret vorgehen, denn sie waren hier, um ins Bookman-Haus einzubrechen, Mutter und Sohn gefangen zu nehmen, bei ihrem Verhör zu assistieren, sie schließlich zu töten und ihre Überreste so zu entsorgen, dass man sie niemals finden würde. Hätten sie in einer kleinen Stadt wie Pinehaven in einem Motel eingecheckt, hätten sie auch bei Benutzung von Tarnidentitäten eine Spur hinterlassen, der Ermittler leicht folgen konnten.
Stattdessen hatten sie in den Steueraufzeichnungen ein Grundstück an der Greenbriar Road ausfindig gemacht, etwa eine Meile südlich des Bookman-Anwesens. Der Name des Besitzers lautete Charles Norton Oxley, und diesem gehörte das Grundstück seit 49 Jahren. Mr. Oxley stand seit 56 Jahren im Wählerverzeichnis des Countys, daher deutete alles darauf hin, dass er mindestens 77 Jahre alt war.
Das einstöckige Haus im Ranch-Stil stand ein Stück vom Highway entfernt im Schatten einiger Zedern. Schon jetzt, ein paar Minuten nach fünf Uhr morgens, war hinter den Fenstern Licht zu sehen.
An der Interstate 80, südlich von Colfax, hatten sie an einer Raststätte gehalten. Die sanitären Anlagen dort waren so verdreckt wie diejenigen in den heruntergekommensten öffentlichen Schulen des Bundesstaats. Nachdem sie ihre Aktenkoffer in die Herrentoilette getragen und das Risiko lebensbedrohlicher Infektionen abgeschätzt hatten, waren sie zum Parkplatz zurückgekehrt und hatten sich an der offenen Heckklappe des Escalade bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Sie waren in schwarze Anzüge mit weißen Hemden und schwarzen Krawatten geschlüpft – der FBI-Look, den sie sich zunutze machten, wenn sie jemanden täuschen mussten. Und das mussten sie meistens.
Mehr als eine Stunde vor Sonnenaufgang gingen sie nun auf die Tür des Hauses von Mr. Oxley in Pinehaven County zu, ungewöhnlich adrett gekleidet für diese Tageszeit und unbeeindruckt vom starken Wind. Knackers Haare waren kurz und daher unmöglich zu zerzausen, während Verbotskis volles Haar bei Wind sogar besser aussah als im gekämmten Zustand. Ihre Anzüge hatten einen guten Schnitt und bestanden aus den feinsten Stoffen, sodass sie selbst bei Sturm in Form blieben.
Das beleuchtete Klingelschild war ein halbes Jahrhundert neuer als das Haus und enthielt offensichtlich eine Kamera.
Verbotski lächelte hinein.
Knacker war zu ungeduldig, um ein falsches Lächeln aufzusetzen. Er war zwar ein verlässlicher, in der Kunst des Tötens geschulter Partner, aber er wirkte und verhielt sich zu sehr wie ein Meuchelmörder. Aber Verbotski hatte beschlossen, Bradley Knackers Mentor zu sein, weil er an die ernsthafte Absicht des jüngeren Mannes glaubte, in seinem Beruf so gut wie möglich zu werden. Heutzutage fehlte es einem großen Teil der jüngeren Generation an einer ernsthaften Arbeitsmoral. Weil sie die meiste Zeit ihres Lebens mit Technik und sozialen Medien verbrachten, hatten sie die Aufmerksamkeitsspanne eines Chihuahuas mit ADHS. Knacker war in der Lage, sich zu konzentrieren, und von harter Arbeit ließ er sich nicht abschrecken. Wenn er nur in der Lage gewesen wäre, etwas freundlicher zu blicken, irgendwie ein glaubwürdiges Lächeln zustande zu bringen und statt seiner Draufgängerhaltung etwas Geduld an den Tag zu legen, hätte er den perfekten Partner beim Töten abgegeben.
Das Licht im Hauseingang schaltete sich ein, und aus dem Lautsprecher bei der Klingel fragte eine Stimme: »Was wollen Sie?«
»Mr. Oxley? Mr. Charles Oxley?«, fragte Verbotski und hob die Stimme, um den Wind zu übertönen.
»Wer will das wissen?«
Verbotski hielt seine gekonnt gefälschte Dienstmarke mit seinem Foto vor die Türkamera und sagte: »Special Agent Lewis Erskine, FBI. Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Noch vor Sonnenaufgang, verdammt noch mal?«
»Wir hatten gesehen, dass bei Ihnen Licht brennt.«
»Was für Fragen denn bitte schön? Fragen worüber?«
»Es hat diese Nacht einen schlimmen Vorfall auf dem Grundstück der Bookmans gegeben.«
»Die ganze Nacht hab ich die verfluchten Sirenen gehört, wie soll man da schlafen? Ich hab keinen blassen Schimmer, was da passiert ist. Ich hab verdammt noch mal genug eigene Probleme. Seit 14 Monaten hab ich keine Sozialhilfe mehr gekriegt. Hauen Sie ab.«
Bradley Knacker war deutlich anzusehen, dass er am liebsten das Schloss zerschossen und die Tür aufgebrochen hätte.
Lächelnd und nickend antwortete Verbotski dem Klingelschild: »Was gibt es denn für Probleme mit Ihrer Sozialhilfe, Sir? Vielleicht können wir helfen.«
»Die haben vor 14 Monaten aufgehört, mir meinen Scheck zu schicken, haben gesagt, ich wäre tot. Hör ich mich für Sie tot an?«
»Nein, aber Ihre Frau ist vor 14 Monaten gestorben.«
»Woher zum Teufel wissen Sie das?«
Verbotski brachte ein überzeugendes kleines Lachen zustande, schüttelte den Kopf und erwiderte: »Wir sind das FBI, Sir. Wir wissen so ziemlich alles. Und wir sind hier, um zu helfen.«
Für einen langen Augenblick sagte Charles Oxley nichts. Als ein Bürger des modernen Staats hatte er unzählige Gründe zu der Annahme, dass aus einem kleinen Machtmissbrauch rasch ein tödlicher Exzess werden konnte. Wenn ein Vertreter des Staats behauptete, er komme, um zu helfen, lag das Risiko, dass er in Wahrheit gekommen war, um zu strafen und zu plündern, bei mindestens 70 Prozent. Aber im menschlichen Herzen gab es ein perverses Verlangen danach, die Kontrolle an diejenigen abzugeben, die ein Recht auf Macht beanspruchten und ihre guten Absichten verkündeten. Man wollte an etwas glauben, selbst wenn dieses Etwas ein Schwarm ohne menschliche Ordnung oder eine Maschine ohne Gesicht war. Wie Verbotski erwartet hatte, entriegelte und öffnete Charles Oxley die Tür und ließ sie herein.
Oxley war etwa 1,70 Meter groß, ein dürrer Gockel von einem Mann. Seine Miene war schwer gezeichnet von Verlust und Leid oder von einem exzessiven Lebensstil. Seine Nase war ein gebrochener Schnabel, das Starren seiner blauen Augen trotzig.
Trotz seiner geringen Größe konnte er einmal ein erfolgreicher Kämpfer gewesen sein, jedenfalls kein leichtes Opfer. Aber er war ein halbes Jahrhundert älter als Bradley Knacker und mindestens 30 Kilogramm leichter.
Der jüngere Mann versetzte ihm einen Faustschlag in den Bauch, der Oxley von den Beinen riss und ihn rückwärts an die Wand schleuderte.
Bevor Knacker Oxley ein- oder zweimal ins Gesicht schlagen konnte, mahnte Verbotski: »Wir können kein Blut auf dem Teppich gebrauchen, falls jemand vorbeikommt und wir keine andere Lösung sehen als die Tür aufzumachen.«
Knacker packte den benommenen, würgenden alten Mann an den Schultern, schob ihn in die Küche an der Rückseite des Hauses und stieß ihn in einen Stuhl am Frühstückstisch.
Verbotski fand die Kellertür, schaltete das Licht ein und stieg hinunter, um sich umzusehen. Er sah einen ölgeheizten Ofen. Eine Explosion und ein Feuer wären leicht zu bewerkstelligen.
Als er in die Küche zurückkehrte, meldete Knacker: »Er sagt, er hat keine Kinder und ist mit keinem der Nachbarn befreundet.«
Erwachsene Kinder sowie Nachbarn waren immer die wahrscheinlichsten unangekündigten Gäste.
In einer an die Küche angrenzenden Dreckschleuse fand Verbotski einen langen Wollschal, der an einem Haken hing. Noch besser waren jedoch einige Verlängerungsschnüre in einer Werkzeugschublade. Er nahm eine der Schnüre mit in die Küche und erwürgte Oxley damit.
Zusammen warfen er und Knacker die Leiche die Kellertreppe hinunter. Verbotski schaltete das Licht aus. Knacker schloss die Tür.
Die beiden gingen durch das Haus, ließen alle Jalousien herunter und zogen alle Vorhänge zu, die noch nicht zugezogen waren.
In der für zwei Wagen ausgelegten Garage stand nur ein Ford Expedition. Verbotski fuhr den Escalade auf die freie Parkfläche und schloss diese Seite des Garagentors mit einer Fernbedienung, die er in Oxleys Fahrzeug gefunden hatte.
Als Verbotski wieder ins Haus kam, war Knacker dabei, Kaffee zu kochen.
Weil vier Männer nötig waren, um diesen Auftrag auszuführen, würden zwei weitere Mitglieder von Atropos & Company Reno bald in einem schwarzen Suburban verlassen, der mit der benötigten Ausrüstung beladen war. Sie würden in drei oder vier Stunden hier sein.
Verbotski rief in Reno an. Er listete die Gegenstände auf, die sie brauchen würden, um den Ölofen so zu manipulieren, dass man den Ausbruch des Feuers einem Unfall zuschreiben würde.
Zur Tarnung und zur Geldwäsche betrieb das Dark-Web-Unternehmen namens Atropos & Company auch noch eine Hightech-Sicherheitsfirma namens Supersafe Tomorrow. Das Hauptquartier dieser Firma lag in Reno, weil die Steuergesetze von Nevada beträchtliche Vorteile boten.
»Der Kaffee riecht toll«, bemerkte Verbotski.
»Der alte Sack hatte eine gute jamaikanische Sorte«, erwiderte Knacker. »Ich habe noch einen Teelöffel Zimt mit reingetan.«