93

Während Rosa mit Roger Austin telefonierte, befand sich Carson Conroy im Osten von Pinehaven. Er war im Haus seines Freundes Harry Borsello. Dieser wollte gerade in die Stadt fahren, um die Abwicklung des morgendlichen Ansturms auf sein Restaurant, den Four Square Diner, zu beaufsichtigen. Außerdem wollte er dort frühstücken.

Carson und Harry waren Freunde, nicht nur weil sie beide gern Speck aßen, sondern weil sie im gleichen Pokerklub waren, in die gleiche Kirche gingen, ihre Liebe zur Natur teilten und beide Witwer waren. Vor drei Jahren hatte Harry seine Frau Melissa verloren. Sie war keinem sinnlosen Drive-by-Shooting, sondern einer sinnlosen Krebserkrankung zum Opfer gefallen. Carson half ihm dabei, die schlimmste Trauer zu bewältigen.

Als er Harry zur Scheune im hinteren Bereich des Grundstücks folgte, wälzten sich Wolken über ihnen am Himmel dahin, die Kiefern schwankten und alle Kreaturen der Nacht hockten in ihren Nestern und Löchern, als würde die langsam anbrechende Morgendämmerung den letzten Tag der Erde bringen.

Der Vorbesitzer hatte die Scheune als Stall benutzt. Harry Borsello jedoch hatte Angst vor Pferden, liebte dagegen Pferdestärken und interessierte sich für komfortables Camping. Deshalb hatte er die Ställe entfernt, um Platz für seine Sammlung zu schaffen: ein 1970er Ford Mustang Mach 1 Twister, ein Coupé mit Schrägheck; eine 1976er Corvette Stingray; ein 1968er Pontiac GTO; ein 1971er Dodge Charger Magnum V8; ein neuer Ford F150 Pick-up mit Doppelkabine; ein elf Meter langer Fleetwood Southwind.

Zweimal hatten sie sich gemeinsam eine Woche freigenommen und waren mit dem Wohnmobil verreist, einmal nach Yosemite im Süden, einmal zum Shasta Lake nach Norden, wo man gut angeln konnte. Carson hatte sich das Gefährt einmal für eine Solotour durch Nevada und Utah ausgeliehen. Nun hatte er vor, es wieder zu tun.

Während Harry das Licht in der Scheune einschaltete und die mannshohe Tür hinter ihnen schloss, fragte er: »Wohin willst du denn diesmal fahren?«

»Ich hab mich noch nicht entschieden«, antwortete Carson. Er bereute seine Lüge, obwohl es besser für Harry war, nicht zu wissen, welchem Zweck sein Fahrzeug dienen würde. »Nur ein paar Tage, vielleicht rüber nach Mendocino. Ich würde gern an die Küste fahren.«

»Da soll es viel weniger windig sein als hier«, sagte Harry. »Und wenn es regnet, zieht der Regen nach Südsüdost weiter, also wird der Himmel bei dir klar sein.«

Die massiven Dachsparren knarrten, als Harry Carson den Schlüssel reichte und das große Tor mit einer Fernbedienung öffnete. Auf der Dachspitze drehte sich eine große Wetterfahne in Form eines galoppierenden Pferdes mit einem Kreischen und rhythmischen Klappern, als würde das Pferd einen grimmigen Reiter der Apokalypse auf dem Rücken tragen.

»Ich fahr deinen Explorer hier rein, wenn du weg bist«, versprach Harry. »Falls du den Fleetwood zu Schrott fährst, bring dich um Gottes willen nicht um deswegen. Ich brauch dich lebend, damit du mir einen neuen kaufen kannst.«

»Bist ein echter Kumpel, Harry.«

»Die Pokernacht würde mir auch keinen Spaß mehr machen, wenn ich dich nicht regelmäßig bis aufs letzte Hemd ausziehen könnte.«

»Ist mir schon klar, dass du mit deinem Schnellimbiss kein Geld verdienst«, konterte Carson. »Deswegen lass ich dich beim Kartenspielen gewinnen. Ich bin einfach ein barmherziger Samariter.«

Mit dem Fleetwood Southwind fuhr er auf direktem Weg nach Hause und parkte in der Einfahrt. Dann lief er mehrmals zwischen seinem Haus und dem Wohnmobil hin und her, belud den Kühlschrank im Wagen mit Wasserflaschen, Coca-Cola und vier Peperoniwurst-Käse-Pizzen aus seinem Kühlfach.

Vom Kaminsims im Wohnzimmer nahm er eines der kleineren Fotos von Lissa, um es mitzunehmen. Er zog das Bild aus dem Rahmen und schob es sich in eine Jackentasche, ohne es zu falten.

Obwohl möglicherweise eine gewalttätige Konfrontation bevorstand, glaubte Carson nicht, dass ihn jemand töten würde, bevor der Donnerstag in den Freitag überging, in 18 Stunden. Dennoch wollte er das Foto von Lissa bei sich haben, damit er es im Augenblick vor seinem Tod betrachten konnte, falls es dazu kam.