Dienstag, 23. Juli
1
Noch drei Tage bis zum Umzug. Am Freitag würde der Möbelwagen kommen. Kate sah sich in ihrer Wohnung um. Das Wochenende in dem Wellnesshotel, so gut es von ihren Kollegen gemeint gewesen sein mochte, hatte ihr einen dicken Strich durch ihre Planung gemacht. Zwar hatte sie das ganze Jahr über schon ausgemistet und sortiert, viele Dinge weggeworfen und auch schon etliches verpackt, aber als eigentliche Großkampftage waren der vergangene Samstag und Sonntag geplant gewesen, und die hatte sie nun im Zug nach Leeds, unter Beschuss irgendeines Irren, und anschließend in endlosem Gespräch mit der North Yorkshire Police verbracht. Als Krönung hatte sie dann in dem Hotel gesessen, in Schlamm eingepackt und mit irgendeiner Maske auf dem Gesicht und war kurz davor gewesen durchzudrehen. Die weiteren Anwendungen des Wellnesspakets, das Teil des Abschiedsgeschenks gewesen war, hatte sie schließlich abgelehnt – es gab Grenzen – und hatte sich mit Colin in den Park des Hotels auf eine Bank gesetzt und ihr verletztes Bein hochgelegt. Colin hatte von nichts anderem als von dem Erlebnis im Zug gesprochen und wilde Theorien dazu aufgestellt, aber das war erträglich gewesen, weil auch Kate ständig darüber nachdachte.
»Wir sollten den Fall auf eigene Faust klären«, hatte Colin, der sich gerne als begabten Ermittler sah, schließlich gesagt, aber Kate hatte den Kopf geschüttelt.
»Das ist Sache der ermittelnden Beamten in York. Und die werden das ohne unsere Hilfe schaffen.«
Wieder zu Hause hatte sie den ganzen Montag von morgens bis abends Kisten gepackt, und heute, am Dienstag, war sie auch in aller Frühe aufgestanden und hatte weitergemacht. Es sah schon ganz gut aus, wenngleich bis zum Freitag noch viel Arbeit übrig blieb. Messy, die Katze, saß in einem leer geräumten Bücherregal und blickte beleidigt drein. Es gefiel ihr gar nicht, was Kate aus ihrer beider Zuhause machte.
»Du kennst doch das Haus in Scarborough«, sagte Kate zu ihr, »und du mochtest es dort. Wir haben viel mehr Platz. Und wir fangen ganz neu an.«
Messy miaute leise und begann, ihre Pfoten zu putzen.
Zurück in das Haus ihrer Eltern, in das Haus ihrer Kindheit. Kate hatte das kleine Haus im Stadtteil Scalby in Scarborough fünf Jahre zuvor geerbt und sich seither immer wieder mit dem Gedanken getragen, es zu verkaufen. Tatsächlich hatte sie das jedoch nicht geschafft. Schließlich hatte sie es vermietet, an eine Familie, die jedoch bei Nacht und Nebel verschwunden war und das Haus völlig verwüstet hinterlassen hatte. Mitten im Chaos hatte eine kleine schwarze Katze gesessen und Kate aus verzweifelten Augen angeschaut. Kate hatte sie behalten, und seitdem waren sie unzertrennlich.
Das Handy klingelte. Kate, die vor einer Kiste gekniet hatte, stand auf und unterdrückte dabei einen Schmerzenslaut. Die Wunde am Bein machte ihr noch sehr zu schaffen.
Einen Moment lang hoffte sie, es sei Caleb Hale, ihr neuer Chef, der endlich zurückrief. Sie hatte schon mehrfach auf seine Mailbox gesprochen, aber er meldete sich nicht. Auch diesmal sah sie eine unbekannte Nummer auf dem Display.
»Kate Linville«, meldete sie sich.
»Ah, Sergeant Linville. Hier ist DS Jenkins von der North Yorkshire Police. Sie erinnern sich bestimmt noch …«
»Natürlich, Sergeant. Was gibt es denn?« Kate hoffte, dass sich keine neuen Verwicklungen anbahnten, in die sie hineingezogen würde. Sie hatte einfach im Moment keine Zeit.
Jenkins am anderen Ende seufzte. »Das alles wird immer undurchdringlicher. Haben Sie von dem Anschlag gestern auf eine junge Frau in Stainton Dale bei Scarborough gehört?«
»Nein.« Sie war so mit Packen beschäftigt gewesen, dass sogar ein Kriegsausbruch an ihr vorbeigegangen wäre. »In Stainton Dale, sagen Sie?« Sie kannte die Gegend in- und auswendig. Stainton Dale war die schiere Idylle. Ein Anschlag?
»Eine Lehrerin, die dort lebt. Und die jeden Morgen mit dem Fahrrad eine bestimmte Strecke fährt. Über einen Waldweg, der bergab führt und den sie vermutlich mit einigem Tempo hinunterfuhr, war ein dünnes Drahtseil gespannt.«
»Du lieber Gott!«
»Sie ist schrecklich gestürzt. Ist jetzt im Krankenhaus. Sie lebt, ist aber nicht ansprechbar. Wirbelsäulenfraktur. Könnte eine Querschnittslähmung bedeuten, aber die Ärzte halten sich noch bedeckt.«
»Das ist ja grauenhaft. Könnten es Schüler von ihr gewesen sein? Sie sagen, sie ist Lehrerin? Manchmal machen Schüler unfassbar idiotische Dinge.«
»In diese Richtung würde ich normalerweise auch denken. Aber die Sache ist komplizierter. Ein Bauer, der draußen auf seinem Hof arbeitete und an dem sie ein paar Minuten zuvor noch vorbeigeradelt war, hörte nämlich plötzlich einen Schuss. Er machte sich Sorgen und lief den Weg entlang, den sie immer fuhr. Er fand sie daher ziemlich schnell, nachdem sie gestürzt war. Das dürfte ihr das Leben gerettet haben. Sie hätte sonst eine Ewigkeit dort liegen können, ehe jemand vorbeikommt.«
»Und ist wirklich auf sie geschossen worden? Zusätzlich zu der Falle mit dem Draht?«
»Sie hat keine Schussverletzung. Aber die Kollegen aus Scarborough haben eine Kugel gefunden. Nicht weit von ihrem Kopf entfernt in einem Baumstumpf steckend. Wer immer geschossen hat, konnte offenbar sehr schlecht zielen. Eigenartig, denn er hätte ihr ja, hilflos wie sie dalag, die Waffe direkt an die Schläfe setzen können. Aber das eigentlich Irritierende ist, und deshalb wurden wir verständigt …« Er machte eine Pause.
»Ja?«
»Im Vergleich mit kürzlich erfolgten Überfällen mit Schusswaffengebrauch war schnell klar, dass es sich um dasselbe Kaliber und denselben Hersteller handeln musste wie bei der Waffe, mit der im Zug auf Xenia Paget und Sie geschossen wurde. Die Untersuchung unter dem Vergleichslichtmikroskop lässt keinen Zweifel offen: Auf die junge Frau aus Stainton Dale wurde mit derselben Waffe geschossen, mit der wir es am Samstag im Bahnhof von York zu tun hatten.«
»Das gibt es doch nicht!«
»Eindeutig.«
»Dann muss es eine Verbindung geben zwischen Xenia Paget und dieser …«
»Sophia Lewis.«
»Ja. Ist da etwas?«
Jenkins seufzte erneut. »Ich habe auf Bitten des CID Scarborough bereits mit Xenia Paget gesprochen. Sie hat den Namen nie gehört. Kennt niemanden in Scarborough, schon gar keine Lehrerin. Dasselbe sagt ihr Mann.«
»Was ist mit Freunden und Kollegen von Sophia Lewis? Kennen die Xenia?«
»Darum kümmern sich die Beamten in Scarborough. Ich habe noch keine Rückmeldung. Auf jeden Fall überschneiden sich die Fälle jetzt. Es muss sich um denselben Täter handeln.«
Während Kate noch überlegte, fuhr Jenkins fort: »Sie sagten ja, dass Sie Anfang August beim CID Scarborough anfangen. DI Stewart, der den Fall leitet, bestätigte mir das auch, und da habe ich ihm den Vorschlag gemacht, dass Sie …«
»Moment«, unterbrach Kate. »DI Stewart leitet die Ermittlungen? Nicht DCI Caleb Hale?«
Jenkins zögerte. »Sie wissen das noch nicht?«
»Was denn?«
»DCI Hale ist vorläufig vom Dienst suspendiert.«
»Wieso denn? Wegen der Sache mit dem Familienvater?«
»Offiziell ja. Aber wohl nicht nur, weil das eskalierte. Sondern auch … Es sind allerdings Gerüchte, aber …«
»Was denn? Welche Gerüchte?«
Jenkins seufzte nun zum dritten Mal. »Hale soll betrunken gewesen sein, als er vor dem Haus stand und mit dem Typen verhandelte. Deswegen. Deswegen kann er seine Karriere nun wohl abschreiben.«
Sie war wie vor den Kopf geschlagen, noch eine Stunde, nachdem Jenkins das Gespräch beendet hatte. Sie saß zwischen all den Kisten und starrte an die Wände, auf grau gefärbte Vierecke, die jene Stellen markierten, an denen Bilder gehangen hatten.
Caleb Hale.
Er war vielleicht der einzige Polizeibeamte, der sie für eine geniale Ermittlerin hielt, der ihr Potenzial sah, obwohl sie so unfähig war, ihre Erfolge nach außen darzustellen und sich selbstbewusst als die clevere Polizistin zu zeigen, die sie war. Kate stolperte, seitdem sie auf der Welt war, immer wieder über ihre eigenen Füße, über ihre Verschlossenheit, ihre Schüchternheit, ihr Misstrauen. Sie hatte bei Scotland Yard entscheidend zur Lösung etlicher sehr komplexer Fälle beigetragen, aber am Ende war der Erfolg immer ihren Kollegen zugeschrieben worden, weil Kate sich so sehr zurückgenommen hatte, dass niemandem richtig klar wurde, wie groß ihr Anteil am Gelingen war. Gab es doch einmal ein Lob von ihrem Vorgesetzten, hatte sie es so kratzbürstig abgewehrt, dass selbst ihr Chef schließlich glaubte, sich in seiner Einschätzung geirrt zu haben. Es war nicht so, dass man sie für eine schlechte Polizistin hielt. Man hatte einfach gar nicht darüber nachgedacht, wer sie war und worin ihre Stärken bestanden. Sie war unsichtbar.
Nur nicht für Caleb. In zwei seiner Fälle war sie durch Zufall hineingeraten, beide hatte sie gelöst, an seiner Person vorbei, aber immer auf der richtigen Spur, während er sich in falsche Annahmen verstrickt hatte und in die Irre gegangen war. Die meisten Vorgesetzten hätten danach zeitlebens einen Bogen um Kate gemacht. Nicht so Caleb Hale. Im Gegenteil. Er hatte nicht geruht, ehe sie eingewilligt hatte, sich für seine Abteilung beim CID Scarborough zu bewerben.
»Ich brauche erstklassige Leute«, hatte er bei einem ihrer Gespräche gesagt. »Und Sie sind erstklassig, Kate.«
Und jetzt hatte sie es getan, das Ruder ihres Lebens herumgeworfen, hatte sich auf die Zusammenarbeit mit Caleb Hale gefreut – und nun das. Er war suspendiert. Wegen seiner fatalen Alkoholsucht. Es war fraglich, ob er je wieder würde arbeiten dürfen.
Sie hatte gewusst, dass er nach seinem Entzug vor fünf Jahren längst wieder rückfällig geworden war. Auf eine unvernünftige Weise hatte sie immer gehofft, außer ihr hätte es niemand mitbekommen, was, wie ihr jetzt aufging, idiotisch gewesen war: Sie sah ihn naturgemäß nicht allzu oft und hatte es trotzdem gewusst. Um ihn herum gab es jede Menge Menschen, die täglich mit ihm zusammenarbeiteten. Allen voran Robert Stewart.
Der jetzt ihr neuer Chef sein würde. Anstelle von Caleb. Kate versuchte, ihn sich ins Gedächtnis zu rufen. Sie hatte so wenig mit ihm zu tun gehabt, dass sie ihn kaum einschätzen konnte. Er war ihr nicht unsympathisch gewesen, aber tatsächlich kannte sie ihn nicht genug, um zu beurteilen, ob sie gut miteinander zurechtkommen würden.
Immerhin hatte Jenkins ihr gesagt, DI Stewart wolle sie bereits jetzt in den Fall einbinden, da sie ab August sowieso daran arbeiten würde.
»Weil Sie ja noch in London sind«, hatte er gesagt, »dachten DI Stewart und ich, Sie könnten diese ehemalige Nachbarin von Xenia Paget aufsuchen. Die Frau, die sie letzte Woche besucht hat. Wir brauchen mehr Informationen zu Mrs. Paget. Womöglich gibt es doch etwas in ihrer russischen Vergangenheit, was sie uns verschweigt, dieser Freundin aber irgendwann einmal anvertraut hat. Oder sie hat vielleicht etwas Auffälliges bemerkt während des Besuches. Irgendjemanden, der sich in ihrer Nähe aufhielt, der ihr seltsam vorkam. Ich hätte heute einen Beamten zu ihr geschickt, aber da wir nun einen gemeinsamen Fall mit Scarborough haben, Sie dort übernächste Woche anfangen, gerade sowieso noch in London sind und zudem die Situation im Zug hautnah miterlebt haben … sind Sie die ideale Besetzung.«
Kate erkannte, dass er recht hatte. Sie hätte sich weigern können, sie war nicht im Dienst, sie hatte den Umzug vor sich, aber das wäre ein schlechter Start der Zusammenarbeit mit dem ihr ziemlich unbekannten DI Stewart gewesen. Der erste Eindruck entschied manchmal über die ganze weitere Entwicklung zwischen zwei Menschen.
Sie seufzte leise. »Wo wohnt diese Frau noch mal?«
»Maya Price wohnt in Southend-on-Sea.«
»Ach ja, stimmt. Das ist nicht London, das ist ziemlich weit draußen, Richtung Themsemündung.«
»Aber von Ihnen trotzdem näher als von York aus.«
»Ich ziehe am Freitag um. Ich sitze hier im Chaos und habe noch tausend Dinge zu erledigen.«
»Sie würden uns sehr helfen«, erklärte Jenkins, und in seiner Stimme schwang keinerlei Verständnis für ihre Situation mit.
Sie hatte schließlich eingewilligt. Dann jedoch noch viel zu lang herumgesessen und an die Wand gestarrt. Zweimal versuchte sie, Caleb zu erreichen, aber wie die Tage zuvor erreichte sie nur die Mailbox.
Schließlich erhob sie sich wütend, ging in ihr Schlafzimmer, tauschte den fleckigen Jogginganzug, den sie trug, gegen Jeans und T-Shirt, schlüpfte in ihre Turnschuhe. Normalerweise zog sie sich korrekter an, wenn sie ermittelte, aber fast alle ihre Sachen waren schon verpackt, sie hatte nur Jeans, zwei T-Shirts und einen Pullover zur Hand. Schließlich hatte sie mit dieser Entwicklung der Dinge nicht rechnen können.
Sie verließ humpelnd die Wohnung.
2
Maya Price wohnte in einer adretten Doppelhaushälfte in Southend-on-Sea, in einer Straße, die aus etlichen identischen Doppelhäusern bestand und unweit des Flusses gelegen war. In den Gärten blühten Blumen und spielte der leichte Wind in den Blättern der Bäume. Ein idyllischer Ort, vierzig Minuten von London entfernt. Die meisten Menschen, die hier lebten, arbeiteten vermutlich in der Hauptstadt, zogen aber hier draußen ihre Kinder groß und genossen das viele Grün, den behaglicheren Rhythmus des Lebens, die vielen malerischen Pubs am Themseufer und die Nähe zu den Stränden entlang der Küste von Essex.
Kate war mit dem Auto gekommen, parkte vor dem Haus und stieg aus. Die Hitze, unter der London wie unter einer Glocke lag, die jede Bewegung anstrengend machte, war hier draußen erträglicher. Es ging ständig etwas Wind, und die Luft roch nach dem Salz des Meeres.
Kate hatte ihren Scotland-Yard-Ausweis bereits abgegeben, den neuen vom CID Scarborough jedoch schon erhalten und konnte sich daher ausweisen. Sie klingelte. Halb hoffte sie, Maya Price wäre nicht zu Hause. Dann könnte sie umkehren und weiterpacken und hätte trotzdem ihren guten Willen gezeigt.
Aber es dauerte nur eine Minute, dann wurde die Tür geöffnet, und eine junge Frau erschien auf der Schwelle. Sie hielt ein Baby im Arm und wirkte abgehetzt.
»Ja, bitte?«
Kate hielt ihr den Ausweis hin. »Detective Sergeant Kate Linville, North Yorkshire Police, CID Scarborough. Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?«
»North Yorkshire Police? Ist das wegen der Geschichte im Zug nach York? Xenia hat es mir erzählt. Es ist furchtbar!«
»Dürfte ich kurz reinkommen?«
»Ja, bitte …« Maya trat einen Schritt zurück. »Ich bringe nur schnell meinen Sohn ins Bett. Gehen Sie einfach durch ins Wohnzimmer. Ich bin gleich da.«
Das Wohnzimmer befand sich auf der Rückseite des Hauses und gab den Blick auf den Garten frei, der nicht ganz so gepflegt wirkte wie die Gärten rechts und links von ihm. Das Gras stand zu hoch, in den Beeten wuchs jede Menge Unkraut, der Sand, der eigentlich in die mitten auf dem Rasen befindliche Sandkiste gehörte, verteilte sich weithin. Ein paar Gartenstühle standen kreuz und quer auf der Terrasse herum, dazwischen ein Tisch mit darauf festgeklebten Kerzen und Stapeln von Sandförmchen. Auch das Wohnzimmer selbst wirkte unaufgeräumt: Kinderspielzeug in allen Ecken, zerknäulte Kissen und Decken auf dem Sofa, eine Milchflasche und ein Schälchen mit Möhrenbrei auf dem Tisch. Der Fernseher lief. Eine Homeshopping-Sendung, in der gerade Schmuck angepriesen wurde.
Maya kam ins Zimmer. Sie sah, wie Kate erneut feststellte, wirklich abgekämpft aus. Struppige Haare und Schweißperlen auf der Stirn. »Drei Kinder«, erklärte sie. »Zwei sind im Kindergarten, der Kleine noch bei mir. Er ist erst acht Monate alt.« Sie schaltete den Fernseher aus, errötete etwas. »Er isst so schlecht. Und während ich hier sitze und ihn zu füttern versuche, stundenlang, muss ich mir irgendetwas im Fernsehen anschauen, sonst werde ich verrückt.«
»Das ist doch völlig verständlich«, versicherte Kate. Mayas Überforderung war mit den Händen greifbar. Sie offenbarte sich in jedem Winkel des Zimmers und des Gartens.
Maya fegte ein paar Strampelanzüge und Bauklötze von den Stühlen. »Setzen Sie sich doch. Das ist eine furchtbare Geschichte mit Xenia. Himmel, sie muss solche Angst gehabt haben.« Sie musterte Kate. »Sind Sie die Polizistin, die sich mit ihr in der Zugtoilette verbarrikadiert hatte?«
»Ja, die bin ich.«
»Du liebe Güte. Es muss auch für Sie schlimm gewesen sein, oder? Xenia sagte, dass Sie ein Schuss am Bein getroffen hat? Als Polizistin sind Sie so etwas vielleicht gewohnt, aber …«
»Na ja, es wird auch nicht jeden Tag auf mich geschossen«, sagte Kate. »Es war schon sehr angsterregend.«
Die beiden Frauen saßen einander jetzt am Tisch gegenüber. Maya hatte ein Babyphon vor sich liegen. »Ich hoffe, er gibt eine Weile Ruhe. Es ist … man ist schon sehr angebunden mit einem Baby.« Sie hatte dunkle Schatten unter den Augen. Kate vermutete, dass sie nur wenig Schlaf fand.
»Mrs. Price, Xenia Paget war ja in den Tagen unmittelbar vor dieser Geschichte hier bei Ihnen zu Besuch. Könnten Sie versuchen, sich zu erinnern, ob Ihnen irgendetwas aufgefallen ist? Etwas, dem Sie vielleicht kaum Beachtung geschenkt haben. Ein Mensch, dem Sie auffällig oft begegnet sind. Oder hatten Sie vielleicht das Gefühl, beobachtet zu werden? Irgendetwas.«
Maya dachte angestrengt nach. »Es tut mir leid«, sagte sie schließlich, »aber mir ist nichts aufgefallen. Wir haben allerdings auch nicht viel unternommen. Es ist ja schwierig für mich mit dem Kleinen. Ein paarmal sind wir mit ihm am Fluss entlang spazieren gegangen. Aber meistens waren wir hier zu Hause. Das Wetter war herrlich, wir saßen viel auf der Terrasse. Wir haben zusammen gekocht. Und uns einfach unterhalten.«
»Ihr Mann war nicht dabei?«
»Mein Mann hat eine Praxis für Osteopathie hier in Southend. Aber letzte Woche war er für ein paar Tage bei einer Fortbildung in Brighton. Das war ja der Grund, warum ich Xenia angerufen und sie gefragt habe, ob sie nicht kommen möchte. Mein Mann mag Xenia, das ist nicht das Problem, aber alleine konnten wir einfach noch mehr machen, was wir wollten.«
»Warum sind Sie von Leeds weggezogen, wenn ich fragen darf?«
»Weil meinem Mann hier diese Praxis angeboten wurde. In Leeds war er angestellt, hier kann er sein eigener Herr sein.«
»Ich verstehe. Zuvor haben Sie wie lange neben Xenia und Jacob Paget gewohnt?«
Maya überlegte. »Neben Xenia elf Jahre. Neben Jacob schon länger. Sie kam ja später dazu.«
»Die beiden haben sich über eine Partnervermittlung kennengelernt?«
»Ja. Es ist ja kein Geheimnis, dass Jacob Probleme mit Frauen hatte, und da kam er auf die Idee, eine aus dem Osten zu finden. ›Die seien dankbarer‹, meinte er.« Maya hatte den letzten Satz mit unverhohlenem Abscheu in der Stimme gesagt.
Kate hakte ein. »Das klingt nicht so, als sei Ihnen Jacob Paget besonders sympathisch.«
»Ich bin traurig, dass ich Xenia nicht mehr jeden Tag sehe. Aber Jacob weine ich keine Träne nach. Keine einzige!«, sagte Maya inbrünstig.
»Warum mögen Sie ihn nicht? Und was meinen Sie, wenn Sie sagen, er hatte Probleme mit Frauen?«
»Er ist ein Pedant, ein Geizhals, ein ewiger Nörgler. Er sucht Streit mit jedem in seiner Umgebung. Er zeigt ständig Leute an, die zu laut sind oder sich an irgendeine Vorschrift nicht halten. Er grüßt niemanden. Er ist herrschsüchtig, launisch und gemein. Er liebt es, andere mit abfälligen Bemerkungen zu verletzen.« Maya hielt inne. »Das ist Jacob Paget. In Kurzform.«
»Klingt nicht gut«, meinte Kate. »Das beantwortet wohl auch die Frage, warum er Probleme mit Frauen hat.«
»Er hatte ein paar kurze Bekanntschaften, aber keine Frau hielt es länger als ein paar Tage mit ihm aus. Jede ergriff schnell die Flucht.«
»Aber Xenia bleibt seit dreizehn Jahren.«
»Was soll sie machen? Er war ihre einzige Chance, aus sehr ärmlichen und wohl ziemlich perspektivlosen Lebensverhältnissen in Russland herauszukommen. Nur durch die Heirat mit ihm konnte sie schließlich die britische Staatsbürgerschaft beantragen. Dafür musste sie aber eine ganze Weile als seine Frau hier leben.«
»Das ist nachvollziehbar«, sagte Kate, »aber inzwischen ist sie britische Staatsbürgerin. Jetzt könnte sie sich trennen.«
Maya zuckte mit den Schultern. »Sie glauben nicht, wie oft ich schon auf sie eingeredet habe. Aber irgendwie …«
»Ja?«
»Ich habe immer das Gefühl, sie hat vor irgendetwas Angst.«
»Angst vor ihm
?«
»Eher davor, was er tun könnte, wenn sie sich ihm entzieht. Er ist, wie gesagt, äußerst herrschsüchtig. Xenia ist sein Besitz. Eigentlich darf sie nichts tun ohne seine Erlaubnis. Ich glaube schon, dass er ziemlich ausrasten würde, wenn sie plötzlich die Scheidung einreichte.«
»Hm«, machte Kate. Ihr Gefühl während des Gesprächs mit Xenia im Bahnhof von York hatte sie nicht getrogen – Xenia wurde von ihrem Mann eingeschüchtert.
Mit ihm müssen wir unbedingt noch mal reden, notierte sie sich in Gedanken. Möglicherweise trug sich Xenia tatsächlich mit Trennungsabsichten, und ihrem Mann passte das gar nicht. Dass er einen Auftragskiller auf sie angesetzt haben sollte, klang zwar ziemlich weit hergeholt, aber andererseits gab es fast nichts, was Kate während ihrer Laufbahn bei der Mordkommission noch nicht erlebt hatte.
»Immerhin durfte
Xenia Sie für mehrere Tage besuchen«, meinte sie.
Maya lachte. »Aber daraus hat er auch ein riesiges Theater gemacht. Mindestens fünfmal hat er Xenias Besuch in den Wochen zuvor wieder abgeblasen. Xenia hat gebettelt und sich von ihrer besten Seite gezeigt, und irgendwann hat er zähneknirschend zugestimmt. Ehrlich, ich war bis einen Tag davor noch nicht sicher, ob es wirklich klappt.«
»Haben Sie Xenia am Samstag früh zum Bahnhof begleitet?«
»Nein. Der Kleine schrie wieder so sehr. Xenia meinte dann auch, ich solle besser zu Hause bleiben. Sie ist mit dem Zug von hier nach London gefahren und dann in King’s Cross in den Zug nach York gestiegen.«
Somit konnte Maya natürlich am Bahnhof nichts Ungewöhnliches beobachtet haben.
»Sagt Ihnen der Name Sophia Lewis etwas?«, fragte sie.
»Sophia Lewis? Nein. Nie gehört. Wer ist das?«
»Sie unterrichtet in einer Schule in Scarborough und lebt auch dort in der Nähe. Gestern wurde ein Anschlag auf sie verübt.«
»Oh Gott. Ist sie tot?«
»Nein, aber sehr schwer verletzt. Der Name sagt Ihnen gar nichts?«
»Nein. Leider.«
»Sie erinnern sich auch nicht an eine Bekanntschaft von Jacob Paget mit diesem Namen?« Jacob Paget, der, von allen Frauen abgelehnt, blutige Jagd auf jede machte, die ihn je enttäuscht und nach seinem Gefühl damit vermutlich grausam erniedrigt hatte … Kate glaubte es nicht wirklich. Aber es war der einzige kleine Faden, der aus dem Knäuel bislang überhaupt herausragte.
Maya legte die Stirn in Falten, so angestrengt grübelte sie. »Es tut mir leid. Aber nein, mir fällt da wirklich nichts ein. Allerdings hatte ich auch kaum Kontakt mit Jacob, zumindest nicht in der Zeit vor Xenia. Insofern weiß ich von fast keiner Frau, die mal ein Wochenende bei ihm war, den Namen.«
»Mrs. Price, gibt es irgendetwas, das Xenia Ihnen erzählt hat, was es rechtfertigen könnte, dass jemand mit einer Waffe hinter ihr her ist? Irgendetwas aus ihrer russischen Vergangenheit vielleicht?«
»Nein. Nichts. Ihre Vergangenheit in Russland war bitterarm und nicht schön, aber es ist nichts Besonderes vorgefallen.«
»Jemand, der es ihr übelnehmen könnte, dass sie in den Westen gegangen und dort geheiratet hat? Ein früherer Freund vielleicht?«
»Sie hat nichts erwähnt.«
»Nun gut.« Kate erhob sich. Sie war etwas enttäuscht, weil das Gespräch wenig echte Erkenntnisse gebracht hatte. Immerhin wusste sie aber, dass die Ehe der Pagets alles andere als ein Zuckerschlecken für Xenia war und dass man es bei Jacob mit einem äußerst unangenehmen Zeitgenossen zu tun hatte. Das war nicht viel, aber besser als nichts.
Sie reichte Maya ihre Karte. »Bitte rufen Sie mich jederzeit an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«
»Das mache ich.« Auch Maya stand auf. Aus dem Babyphon erklang leises Quengeln, das innerhalb weniger Sekunden in ohrenbetäubendes Geschrei überging.
»Gehen Sie nach oben«, sagte Kate. »Ich finde alleine raus.«
»Er schreit extrem viel«, sagte Maya. »Die beiden anderen waren nicht so schlimm. Es ist …« Sie hielt kurz inne, sagte dann jedoch plötzlich mit einer Bitterkeit, fast Wut in der Stimme, die Kate überraschte: »Es ist ein solches Tabu, nicht wahr? Als Mutter nicht überglücklich zu sein, voller Begeisterung und Liebe und Dankbarkeit. Wissen Sie, ich bin dankbar für drei gesunde Kinder, aber ich bin so müde, und ich bin überhaupt nicht mehr ich selbst. Ich kämpfe mich durch jeden Tag und schaue idiotische Sendungen im Fernsehen an und sage mir die ganze Zeit, dass ich, verdammt noch mal, glücklich sein muss, aber ich empfinde nur Leere und …« Sie brach ab und wischte sich über die Augen. »Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie damit nicht belästigen.«
»Ich fühle mich nicht belästigt«, versicherte Kate. Tatsächlich fühlte sie sich allerdings etwas hilflos. Sie hatte keine Kinder, hatte aber immer von einer Familie geträumt. Von einem Mann, Kindern, von einer Doppelhaushälfte. Nun stand sie einer Frau gegenüber, die all das besaß, was ihr verwehrt geblieben war, aber sie schien alles andere als glücklich zu sein. Allerdings hatte das Geschrei aus dem Babyphon inzwischen eine unerträgliche Lautstärke erreicht. Wenn man das rund um die Uhr hatte, Tag und Nacht …
»Okay«, sagte Maya, nun wieder ganz gefasst, »ich muss hoch. Ich melde mich, wenn mir etwas einfällt.« Weg war sie. Kate verließ das Haus, zog die Tür hinter sich zu. Ob Maya Price überhaupt Zeit und Nerven hatte, über Xenia und Auffälligkeiten in deren Leben nachzudenken? Sie schien in einem Strudel der Überforderung zu stecken und vollauf damit beschäftigt zu sein, sich gegen das Untergehen zu wehren.
Aber ich habe jedenfalls meine Pflicht getan, dachte Kate.
3
DI Robert Stewart hatte den Vormittag im abschließenden Verhör mit Jayden White verbracht, dem Mann, der seine Frau und seine zwei kleinen Töchter per Kopfschuss hingerichtet hatte, und er konnte nicht anders, als im Anschluss daran nach draußen zu gehen und in tiefen, langsamen Zügen eine Zigarette zu rauchen, obwohl er sich seit Langem schon vornahm, mit dem Rauchen endgültig aufzuhören. Aber er war so angespannt, so frustriert, so erschöpft, so wütend – alles gleichzeitig.
Jayden White hatte nur gejammert, die ganze Zeit über. Nicht darüber, dass er drei Menschen das Leben genommen hatte, sondern nur über das Schicksal, das ihm immer übel mitgespielt hatte. Seine schwierige Kindheit, seine Versagensängste schon in der Schulzeit, der frühe Tod seines Vaters, das abgebrochene Studium. Schließlich das Café, das er sich gekauft hatte und für das er einen extrem hohen Kredit hatte aufnehmen müssen. Und dann waren nicht genug Gäste gekommen.
»Es wurde immer schlimmer. Schon die letzten zwei Sommer waren nicht gut. Aber in diesem Jahr … Andere sagen es auch. Das Chaos um den Brexit … Kein Mensch weiß mehr, wie sich die Dinge entwickeln werden. Die Idioten in London …«
Robert hatte sich vorgelehnt. »Die Idioten in London«,
hatte er betont gesagt, »haben sich nicht mit drei unbewaffneten Menschen, von denen zwei noch keine zehn Jahre alt waren, in einer Wohnung verbarrikadiert und sie schließlich mit gezielten Pistolenschüssen direkt in die Schläfen getötet. Ich möchte wissen, ich möchte versuchen zu verstehen
, wie man so etwas tun kann. Wie Sie
so etwas tun konnten?«
Jayden hatte fast zu weinen begonnen. »Ich wollte meiner Frau und meinen Kindern das Elend unseres Untergangs ersparen. Bei mir stapeln sich die Mahnungen von der Bank. Seit Monaten. Ich habe kein Geld mehr. Ich kann nicht einmal mehr meine Angestellten im Café bezahlen. Geschweige denn Zinsen und Tilgung für unsere Wohnung. Und für das Café.«
»Wieso mussten Sie damals ein Café und
eine Eigentumswohnung kaufen? Ist das nicht ein bisschen viel auf einmal?«
»Weil es zunächst gut aussah. Ich dachte, ich schaffe das. Ich wollte etwas Eigenes für meine Familie. Ein Nest, aus dem sie nicht vertrieben werden können. Einmal in den eigenen vier Wänden wohnen …« Jaydens Stimme brach vor Selbstmitleid.
»So, und nun wollten Sie Ihrer Familie die drohende Pleite ersparen und haben deshalb kurzerhand alle erschossen. Sie selbst wollten das Desaster jedoch mannhaft durchstehen?«
»Ich wollte auch meinem Leben ein Ende setzen. Bitte, glauben Sie das. Ich wollte, dass wir alle zusammen diesen furchtbaren Ort, diese schreckliche Welt verlassen. Aber …«, wieder schwankte die Stimme, »es war zu schwer. Ich konnte es nicht. Ich konnte nicht abdrücken. Ich wollte es, ich wollte nichts so sehr wie das, aber …«
»Ja, das kann ich schon nachvollziehen, es ist sicher leichter, zwei wehrlosen Kindern eine Kugel durch den Kopf zu jagen als sich selbst«, sagte Robert.
Jayden schluchzte. »Ich habe alles falsch gemacht. Alles. Ich hätte diese Kinder nicht in die Welt setzen dürfen, in eine Welt, von der ich ja wusste, wie grausam sie ist.«
Es reichte Robert. Er beendete das Gespräch, Jayden wurde in die Zelle im Untersuchungsgefängnis zurückgebracht. Außer Gewinsel war nichts aus ihm herauszubringen. Er sah sich als Opfer – sich alleine.
Robert warf die Zigarette auf den Boden, trat sie aus. Er musste Jayden White abhaken, der Mann kostete ihn nur Energie. Der Fall war klar, er musste nicht weiter ermitteln. Alles war dokumentiert, die Akte konnte an die Staatsanwaltschaft weitergereicht werden. Er und sicher auch Caleb Hale würden in der Gerichtsverhandlung aussagen müssen, aber ansonsten gingen die Dinge den vorgezeichneten Weg. Jayden White würde lebenslänglich ins Gefängnis gehen, aber das würde nichts mehr ändern für seine Familie. Er dachte an die ineinander verkrallten Leichen, die er und die anderen Beamten im Schlafzimmer des Ferienappartements vorgefunden hatten. Yasmin White, die über ihren toten Kindern lag, ganz offensichtlich versucht hatte, sie mit ihrem Körper zu schützen. Sie hatten alle drei keine Chance gehabt, nicht die geringste.
Manchmal verstand Robert Stewart, warum Caleb trank.
Er kehrte in sein Büro zurück. Helen Bennett wartete dort auf ihn. Sie waren im Moment hoffnungslos unterbesetzt – durch Calebs Suspendierung und weil DS Kate Linville erst im August beginnen würde. Und ausgerechnet jetzt hatten sie diese Geschichte aus Stainton Dale am Hals. Die sich verquickte mit den dramatischen Geschehnissen in einem Zug am vergangenen Samstag, unmittelbar bevor dieser den Bahnhof von York erreicht hatte. Dadurch mussten sie jetzt mit den Kollegen in York ermitteln. Vielleicht war das nicht schlecht. Gerade weil sie im Moment einfach viel zu wenig Leute waren.
Sergeant Helen Bennett hatte eine Zusatzausbildung als Polizeipsychologin, aber im Moment fungierte sie eher als Mädchen für alles. »Wir haben den Bericht von Sergeant Linville bekommen«, berichtete sie. »Sie hat heute Vormittag Mrs. Maya Price, die Freundin von Xenia Paget, in Southend-on-Sea aufgesucht. Es haben sich leider keinerlei neue Erkenntnisse ergeben. Mrs. Price kann sich weder erklären, weshalb irgendjemand einen Grund haben sollte, auf Xenia Paget zu schießen, noch hat sie jemals den Namen Sophia Lewis in irgendeinem Zusammenhang gehört. An der Stelle scheint kein Weiterkommen möglich.«
»Hm«, machte Robert. Er hatte es auch nicht wirklich erwartet. Im Lauf seiner Berufsjahre hatte er eine Witterung für einfachere und schwierigere Fälle entwickelt. Dieser hier war komplex und undurchsichtig, das spürte er bereits.
»Gibt es etwas Neues von Sophia Lewis?«
Helen schüttelte den Kopf. »Ich habe mit der Klinik telefoniert. Sie ist bei Bewusstsein, kann aber nicht sprechen. Verdacht auf Schlaganfall. Das kann offenbar bei einem solchen Sturz passieren. Das Sprachzentrum scheint betroffen. Zudem kristallisiert es sich immer mehr heraus, dass sie eine Querschnittslähmung davontragen wird.«
»Wird sie überleben?«
»Der Arzt sagte mir, dass wohl keine akute Lebensgefahr mehr besteht. Es ist allerdings fraglich, wann sie wieder sprechen kann. Und sie wird nie mehr laufen oder die Arme bewegen können.« Helen schauderte. »Es ist furchtbar. Vielleicht hätte sie sich eher gewünscht …«
»… tot zu sein?« Robert war sicher, dass er
es ganz bestimmt bevorzugt hätte. »Wer immer ihr das angetan hat, er hätte nichts wählen können, was grausamer wäre.«
»Ich habe auch noch einmal mit dem Farmer gesprochen, der sie gefunden hat«, berichtete Helen. »Sophia Lewis brach jeden Morgen zur selben Uhrzeit zu ihrer Fahrradrunde auf, sehr früh, sowohl in der Schulzeit als auch während der Ferien. Zumindest ab dem Frühjahr und bis in den Herbst hinein, solange es die Lichtverhältnisse zuließen. Man konnte die Uhr nach ihr stellen, sagte er.«
»Und wer wusste alles davon?«
»Sehr viele in Stainton Dale, nicht nur die Leute, die entlang ihrer Fahrstrecke wohnten. Sophia Lewis ist ja erst vor einem Jahr dorthin gezogen, aber in so kleinen Gemeinden ist man dann schnell bekannter als ein bunter Hund. Sophia Lewis ist beliebt, jeder kennt sie, und sei es nur vom freundlichen Grüßen im Vorbeigehen her. Im Krankenhaus werden ständig Blumen und Karten für sie abgegeben.«
»Hat der Farmer auch potenzielle Feinde erwähnt?«
»Er sagt, er kennt niemanden, der sie nicht mag.«
»Es hilft nichts, wir müssen ihr berufliches Umfeld durchforsten«, sagte Robert. »Normalerweise würde ich sagen, der gespannte Draht könnte auf einen Schülerstreich hindeuten. Der schiere Wahnsinn natürlich, aber manchmal machen sich Teenager nicht klar, wozu ihr Handeln führen kann. Aber dazu passt die Kugel nicht. Es ist eine Sache, einen Draht zu spannen und es unglaublich komisch zu finden, wenn die Lehrerin kopfüber ins Gebüsch fliegt. Aber schießen … das hat eine andere Dimension.«
»Noch dazu«, ergänzte Helen, »nachdem tags zuvor ein Mann aus derselben Waffe auf eine Frau im Zug von London nach York geschossen hat. Das sieht nicht nach Schülern aus.«
»Schon eher nach ehemaligen Schülern. Jemand, dem sie den Abschluss vermasselt hat?«
»Der sie deshalb umzubringen versucht?«, fragte Helen zweifelnd. »Und wie passt dann Xenia dazu? Sie ist keine Lehrerin.«
»Sie kann trotzdem Teil eines Puzzles sein in den Augen irgendeines durchgeknallten Typen«, sagte Robert. »Wir wären einen wirklich großen Schritt weiter, wenn wir eine Verbindung zwischen Xenia Paget und Sophia Lewis herstellen könnten. Es muss eine Schnittstelle geben, so unterschiedlich die beiden Frauen und so unterschiedlich auch ihre Lebensläufe sind.«
»Mit Sophia Lewis können wir leider vorläufig nicht sprechen.«
»Aber mit ihren Kollegen. Wie sieht es mit Angehörigen aus?«
Helen zuckte mit den Schultern. »Da bin ich noch dran. Eine Nachbarin meinte, dass Sophias Vater noch lebt, die Mutter jedoch nicht mehr. Von anderen Angehörigen war bislang nicht die Rede.«
»Sind Beamte bei ihr im Haus?«
»Ja. Schon seit gestern. Sie untersuchen alles nach Hinweisen, Adressen, Kontaktdaten. Aber wie es scheint, ist Sophia Lewis ziemlich allein auf dieser Welt. Eine gesellige Person – aber ohne ein größeres familiäres Umfeld.«
»Ein Freund? Partner? Exmann?«
»Ist niemandem bekannt.« Helen reichte ihm eine Liste. »Hier, die Namen ihrer Kollegen an der Schule. Und zwar derer, von denen wir herausfinden konnten, dass sie nicht verreist sind.«
»Nicht viele«, meinte Robert. Es war wirklich vertrackt. Auch die Tatsache, dass gerade die großen Ferien und viele Menschen verreist waren, stand gegen sie. »Ich spreche mit den Kollegen. Vielleicht weiß jemand von irgendeiner Geschichte, irgendeinem Vorkommnis, bei dem sich Sophia Lewis Feinde gemacht hat. Vielleicht erfahre ich auch etwas über weitere Angehörige und Freunde. Wir können jetzt nur nach und nach jeden Stein umdrehen und hoffen, dass wir irgendwo etwas finden, das uns weiterbringt.«
Es ist Dienstag. Isla ist da. Sie ist kaum in meiner Wohnung, da spreche ich sie schon auf meine Befürchtungen an.
»Da draußen steht immer ein Mann und beobachtet meine Wohnung!«
Isla sieht mich erstaunt an. »Ein Mann?«
»Ja. Schwarze Haare. Ziemlich groß. Er steht einfach auf der gegenüberliegenden Straßenseite und starrt hierher.«
»Ich habe niemanden gesehen«, sagt Isla. Sie geht in die Küche und blickt aus dem Fenster. »Da ist niemand.«
»Ja, jetzt gerade nicht.«
»Aber Sie haben gesagt, da ist immer jemand!« Isla ist der Typ, der jedes Wort auf die Goldwaage legt. Weil sie nicht versteht, dass man manchmal übertreibt, um deutlich zu machen, dass etwas extrem oder besonders ist. Wenn ich etwas als »riesig« bezeichne, dann nicht deshalb, weil es sich um die Ausmaße eines Riesen handelt, sondern weil etwas ungewöhnlich groß ist. Und mit »immer« habe ich gemeint, dass auffallend und ungewöhnlich häufig jemand vor meinem Fenster steht. Es würde keinen Sinn machen, Isla das erklären zu wollen.
»Okay. Nicht immer. Aber sehr oft.«
»Also, jetzt nicht.«
Ich seufze. »Ja, aber er ist mir jetzt schon ziemlich oft aufgefallen. Wirklich.«
Ich sehe leisen Zweifel in ihren Augen. Ich weiß, dass sie findet, ich bin zu viel alleine. Und wahrscheinlich meint sie, dass mich das etwas wunderlich werden lässt.
»Ich habe mir gedacht, Sie hätten vielleicht eine Idee, wer das sein könnte«, sage ich. »Und warum er dort stehen und mich beobachten sollte.«
»Woher wollen Sie wissen, dass er Sie beobachtet? Vielleicht beobachtet er nur das Haus.«
»Ja, aber
…«
»Und in dem Haus wohnen noch etliche andere Parteien«, führt Isla aus.
Ich halte inne – da hat sie recht, wieso ist mir dieser Gedanke gar nicht gekommen? Es gibt sechs Wohnungen in dem Haus, drei gehen nach vorne zur Straße, die anderen drei – die schöner sind und für mich etwas zu teuer – gehen nach hinten zum Garten. Hat der Typ tatsächlich mein Küchenfenster im Blick oder einfach das ganze Haus? So genau habe ich das eigentlich auf die Entfernung gar nicht erkennen können. Ich habe ganz selbstverständlich angenommen, ich sei gemeint. Bin ich wirklich schon etwas neurotisch?
»Vielleicht ist es ein stiller Verehrer der hübschen jungen Frau, die unter Ihnen wohnt«, meint Isla.
Es stimmt, hier wohnt eine ausgesprochen attraktive, noch vergleichsweise junge Frau, die immer etwas traurig wirkt, weil sie frisch geschieden ist und die Trennung von ihrem Mann offensichtlich noch nicht wirklich verarbeitet hat. Oder ist es sogar der Exmann selbst, der draußen steht? Kann er die Geschichte nicht verarbeiten? Bin ich einfach Zeuge der Aktivitäten eines Stalkers, erlebe ich ein Beziehungsdrama live mit?
»Ja, das ist möglich«, räume ich ein.
»Sehen Sie«, meint Isla begütigend.
Ich mag es nicht, wenn sie wie eine Krankenschwester oder eine Altenpflegerin mit mir spricht. Freundlich und ein bisschen so, als sei ich nicht ganz dicht.
Ich überlasse sie ihrer Putzarbeit, mit der sie in der Küche beginnt, nachdem sie ja dort aus dem Fenster hat schauen müssen, und gehe ins Wohnzimmer hinüber, lasse mich schwer in einen Sessel fallen. Aus der Küche klingt das Geräusch fließenden Wassers und das Rücken der Stühle um den Esstisch. Es tut so gut, einen Menschen in der Nähe zu wissen, zu hören, wie sich jemand zu schaffen macht, geschäftig hin und her geht … so alltäglich, so normal, vertraut, heimelig. So war es früher, als Alice noch da war. Gar nicht mehr vorstellbar, dass wir mal zu viert lebten, zu fünft sogar, wenn man Xenia mit einrechnet. So viel Lebendigkeit um mich herum. So viel Glück. Hatten wir es mutwillig zerstört, wir alle zusammen? Nein, es war Schicksal gewesen, ein Unglück, ein schreckliches Unglück.
Ich habe furchtbare Angst, dass der Fremde da draußen etwas mit diesem Unglück zu tun hat.