Montag, 29. Juli
1
Das Haus, in dem Sophia Lewis lebte, lag still und friedlich im Licht des sonnigen Vormittages, und durch nichts dort hätte man geahnt, dass auf die Bewohnerin eine Woche zuvor ein lebensbedrohender Anschlag verübt worden war. Wer dieses kleine Backsteinhaus mit dem tief gezogenen Dach inmitten des blühenden Gartens sah, hätte glückliche Menschen darin vermutet, in deren Leben es nichts Böses oder Bedrohliches gab.
Aber es muss etwas gegeben haben, dachte Kate, während sie unter den dicht belaubten Zweigen alter Apfelbäume auf die Haustür zuging. »Was Sophia passiert ist, geschieht keinem Menschen, dessen Leben frei ist von Untiefen. Irgendetwas in ihrer Biografie hat zu diesem schrecklichen Schicksal geführt, das von nun an ihr weiteres Dasein bestimmen wird.«
DI Stewart hatte ihr den Schlüssel ausgehändigt, erleichtert, dass sie drei Tage früher als geplant ihren Schreibtisch im Büro des CID einnahm.
»Danke, Sergeant«, hatte er gesagt, »ich weiß das sehr zu schätzen. Wir können jeden brauchen im Moment.«
»Schon in Ordnung«, hatte Kate erwidert. Sie sagte nichts zu ihm über ihr Problem: das Alleinleben, das ständige Gefühl von Einsamkeit, die Tatsache, dass sie sich niemandem zugehörig fühlte. In all den Jahren war ihr Beruf zu der sichersten Möglichkeit geworden, sich zu betäuben. Die Umzugskisten konnte sie nach und nach auspacken. Nichts drängte sie.
Robert hatte nicht recht verstanden, weshalb sich Kate noch einmal im Haus von Sophia Lewis umsehen wollte – »Unsere Leute haben dort wirklich alles auseinandergenommen« –, und sie hatte das Gefühl, dass er ihr normalerweise eine andere Aufgabe zugewiesen und ihr Vorhaben kurzerhand als Unsinn bezeichnet hätte. Aber sie war freiwillig früher gekommen, sie tat mehr, als sie tun musste, er brauchte sie. Mit einem ziemlich deutlich hörbaren Zähneknirschen stimmte er zu.
Kate erwartete selbst nicht, etwas Bahnbrechendes zu entdecken. Sie wollte ein Gefühl für Sophia bekommen. Aber diesen Gedanken behielt sie für sich, da sie ahnte, dass dies bei Robert nur noch mehr Kopfschütteln hervorrufen würde.
Sie schloss die Haustür auf und trat in den gefliesten Eingangsbereich, an dessen rechter Seite sich ein Garderobenschrank befand. Darunter aufgereiht standen zahlreiche Schuhe, vor allem Turnschuhe. Ging man weiter, gelangte man direkt in den großen Wohnbereich mit offener Küche. Ein gemütlicher Raum, wie Kate sogleich feststellte, helle Sofas mit bunten Kissen darauf, ein naturfarbener Läufer auf dem Boden, ein alter hölzerner Esstisch mit einer Vielzahl an Stühlen drumherum, auch diese mit bunten Kissen ausgestattet. Die Küche war modern und sauber, ausgestattet mit vielen Geräten, die darauf hinwiesen, dass Sophia gerne und vermutlich auch gut kochte. Auf der Theke, die den Bereich zum Wohnzimmer hin abgrenzte, stand ein Kaffeevollautomat höchsten Standards, der ein kleines Vermögen gekostet haben musste. Kate verspürte plötzlich eine heftige Sehnsucht nach einem Becher starken, duftenden Kaffees, aber sie beherrschte sich. Ausgeschlossen, dass sie sich hier selbst bediente.
Es gab noch zwei weitere Räume: Sophias Schlafzimmer und ein Bad. Das Bad war mit pfirsichfarbenen Kacheln gefliest und eher spartanisch ausgestattet, was kosmetische Artikel anging: Auf dem Rand der Badewanne standen eine Flasche Haarshampoo und ein Duschgel. Auf der Ablage unter dem Spiegel steckten ein stumpfer Kajalstift und eine Wimperntusche in einem grünen Becher, auf dessen Vorderseite eine Popgruppe abgebildet war, die Kate nichts sagte. Der Griff des Bechers war abgebrochen. Direkt daneben lag eine Tube Gesichtscreme. Das war alles. In einem hölzernen Schrank unter dem Fenster, gleich neben der Badewanne, fand Kate nur einen Stapel Hand- und Badetücher. Keine sonstigen Pflegeutensilien. Eindeutig, Sophia war eine sportliche Frau, der körperliche Fitness über alles ging. Schminken gehörte definitiv nicht zu ihren Hobbys. Ebenso wenig schien sie eine Vorliebe für Parfüms, Anti-Aging-Produkte oder für sonstige Hilfsmittel zur Optimierung ihres Erscheinungsbildes zu haben. Sie setzte auf Bewegung und frische Luft.
Das Bild verfestigte sich im Schlafzimmer. Ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch. Im Schrank hauptsächlich Sportklamotten, Jogginganzüge, Radlerhosen, eng anliegende Oberteile, Sweatshirts. Natürlich auch Jeans, ein paar Röcke, Shirts, Pullover. Sachen, die Sophia in der Schule getragen hatte. Unten im Schrank mehrere Paar Sandalen und Stiefeletten in verschiedenen Farben.
Der Schreibtisch. Den Computer hatten Beamte mitgenommen, um ihn auswerten zu können. Es lagen mehrere Stapel Papier, etliche Hefte, verschiedene Bücher auf dem Tisch und auch auf dem Fußboden darunter. Kate blätterte in den Stapeln herum. Sie entdeckte nichts, was relevant für den Fall sein könnte. Es handelte sich um Physik- und Mathematikbücher oder Skripte. Aufzeichnungen zur Unterrichtsvorbereitung. Testauswertungen. Arbeitshefte mit korrigierten Aufgaben, die jedoch älteren Datums waren. Kate betrachtete die Hefte genauer, weil sie wissen wollte, ob es irgendwo auffallend schlechte Noten oder vernichtende Bewertungen gab. Es schien sich jedoch um Übungen zu handeln, die ohne Benotung geblieben waren. Die Kommentare, die Sophia an den Rand geschrieben hatte, waren aufbauend, freundlich und lobend. Kate dachte plötzlich, dass sie eine sehr nette Frau sein musste, engagiert und herzlich. Und dass sie selbst gerne eine solche Lehrerin in Mathematik gehabt hätte. Das Fach hatte nicht zu ihren Stärken gehört.
Sie öffnete ein paar Schubladen, stöberte ein wenig darin herum, fand aber nichts, was ihr weitere Erkenntnisse gebracht hätte. Sophia gehörte offenkundig nicht zu den Menschen, die ihre Vergangenheit in Form von Dokumenten, Urkunden, alten Fotos, Briefen ablegte. Sie war ein Jahr zuvor von Manchester nach Stainton Dale gezogen und hatte den Umzug, wie viele das taten, für ein gründliches Ausmisten genutzt. Das Haus wirkte so, als habe ihr Leben erst hier an diesem Ort begonnen, als gäbe es nichts davor. Kate fragte sich, ob Sophia Gründe gehabt hatte, so rigoros mit ihrer Vergangenheit abzuschließen. Oder ob sie einfach nur ein Mensch war, dem es um Ordnung und einen gewissen Minimalismus im Alltag ging.
Sie schrak zusammen, als plötzlich jemand an das Fenster neben dem Schreibtisch klopfte. Ein Mann starrte ins Zimmer hinein. Mit dem Mund formte er etwas, das nach »Wer sind Sie, und was machen Sie hier?« aussah.
Kate zückte ihren Dienstausweis und hielt ihn gegen die Scheibe. Der Mann schien noch verwirrter als zuvor. Er machte ein Zeichen, dass er zur Haustür kommen würde, und Kate nickte. Sie ging nach vorne und öffnete.
»Polizei?«, fragte der Mann, der vor ihr stand. Er musste um die vierzig Jahre alt sein. Er trug Jeans, dazu ein schwarzes T-Shirt und ziemlich verdreckte Turnschuhe. Er wirkte verstört. »Ist etwas passiert? Wo ist Sophia?«
»Sie sind …?«
»Nicolas. Nick.« Dann fiel ihm ein, dass er auch noch einen Nachnamen hatte, und er fügte hinzu: »Gelbero.«
»Kate Linville, Detective Sergeant, North Yorkshire Police. Sie sind ein Bekannter von Sophia Lewis?«
»Ich bin ein sehr enger Freund. Wir sind heute verabredet. Ich habe an der Haustür geklopft, aber niemand hat reagiert. Was ist denn los?«
Das Schlafzimmer lag nach hinten hinaus, daher hatte Kate nichts gehört. »Kommen Sie erst einmal rein«, sagte sie.
Ein paar Minuten später saßen sie einander an Sophias Esstisch gegenüber, und Kate hatte eine Zusammenfassung der Ereignisse abgegeben. Nick war immer blasser geworden, er sah entsetzt und fassungslos aus. Falls er nicht ein großartiger Schauspieler war, konnte man ihn aus der Reihe möglicher Verdächtiger getrost entfernen: Erschütterter konnte ein Mensch kaum sein.
»Oh Gott«, sagte er immer wieder. »Oh Gott!« Dann sprang er plötzlich auf. »Ich muss sofort zu ihr!«
»Warten Sie«, bremste Kate. »Ich hätte noch ein paar Fragen an Sie. Zu Sophia würde man Sie im Moment wahrscheinlich sowieso noch nicht vorlassen.«
Er war aschfahl im Gesicht. »Das ist alles so entsetzlich. Ganz furchtbar. Sie wird gelähmt bleiben? Für immer?«
»Im Moment ist es das, was die Ärzte befürchten. Aber nach allem, was ich weiß, können sich Dinge in diesem Bereich auch anders entwickeln. Man darf jetzt noch nicht jede Hoffnung aufgeben.«
Nick stöhnte. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn.
Sophia liegt ihm sehr am Herzen, dachte Kate.
»Sie wäre lieber tot. Das weiß ich. Wenn sie sich nicht mehr bewegen kann, würde sie lieber sterben.«
»Mr. Gelbero, wir müssen denjenigen finden, der ihr das angetan hat. Das Problem ist, dass wir so wenig über Sophia Lewis wissen. Sie ist überall beliebt und wird sehr geschätzt, aber niemand weiß etwas über ihr Leben, bevor sie nach Stainton Dale kam.«
»Ich kenne sie aus Manchester«, sagte Nick. »Sie hat an der Chorlton Highschool unterrichtet. Sie war auch dort sehr beliebt. Bei ihren Schülern und den Kollegen.«
»Waren Sie auch ein Kollege von ihr?«
»Nein. Ich bin Produzent. Ich produziere Dokumentarfilme. Meist Umweltthemen.«
»Wie haben Sie Sophia kennengelernt?«
»Wir waren im selben Fitnessstudio. Ich fand sie toll, und irgendwann wusste ich, zu welchen Zeiten sie immer kommt. Also habe ich meine Termine so gelegt, dass ich dann auch da sein konnte. Und, na ja«, er lachte, »es hat funktioniert. Wir wurden ein Paar.«
Endlich! Kates Herz ging schneller. Endlich ein wirklicher
Mensch aus Sophias Privatleben.
»Haben Sie zusammengewohnt?«
»Leider nicht. Ich wollte das gerne, aber Sophia konnte sich das nicht vorstellen. Sie ist sehr eigenständig.«
»Mr. Gelbero, wir haben natürlich in Erwägung gezogen, dass der gespannte Draht ein Schülerstreich sein könnte, der ungewollt in eine furchtbare Katastrophe gemündet ist. Aber der Schuss, der zusätzlich abgegeben wurde, passt nicht in dieses Bild. Zudem wurde zwei Tage zuvor aus derselben Waffe auf eine Frau in einem Zug zwischen London und York geschossen. Der Täter war ein erwachsener Mann.«
Nick schaute verwirrt drein. »Die Geschichte im Zug? Ich habe davon in der Zeitung gelesen. Derselbe Täter hat den Anschlag auf Sophia verübt?«
»Das wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass es dieselbe Waffe war, was es zumindest wahrscheinlich macht, dass es sich um denselben Täter handelt.« Kate holte ihr iPhone hervor, scrollte zu dem nach Xenias Angaben angefertigten Phantombild und hielt es Nick vor das Gesicht. »Kennen Sie diesen Mann?«
»Das ist der aus dem Zug?«
Kate nickte. Nick studierte das Bild mit einem Eifer, der schon fast rührend war. »Nein. Leider. Das Gesicht sagt mir gar nichts. Ich habe den noch nie gesehen.«
Kate verbarg ihre Enttäuschung. »Sagt Ihnen der Name Xenia Paget etwas?«
»Xenia Paget?«
»Früher Xenia Sidorowa. Sie stammt aus Russland.«
Wieder sah man Nick an, dass er sich alle Mühe gab, aber schließlich schüttelte er doch wieder den Kopf. »Ich habe diesen Namen nie zuvor gehört.«
»Gibt es irgendeine Verbindung von Sophia nach Russland? Eine Reise? Hat sie Bekannte oder Freunde von dort? Vielleicht ein russischer Sprachkurs, den sie einmal gemacht hat? Irgendetwas?«
»Nein. Soweit ich weiß, kennt sie niemanden aus Russland. Sie hat überhaupt keine Beziehung zu diesem Land. Sie hatte nie eine Ambition, Russisch zu lernen oder dorthin zu reisen. Sie träumt von Australien. Dort einmal ein Jahr lang kreuz und quer das Land zu erkunden.« Er schluckte. »Sie träumte
, muss man jetzt sagen. Sie wird zu so etwas nicht mehr in der Lage sein.«
»Sie haben sie als beliebt beschrieben. Trotzdem, es muss jemanden geben, der einen ziemlichen Hass auf sie hat. Können Sie sich irgendetwas vorstellen? Irgendeine Geschichte aus der Vergangenheit? Vielleicht hat sie einmal etwas angedeutet, etwas, dem Sie womöglich keine große Beachtung schenkten. Irgendeine Gelegenheit, bei der sie sich einen Feind gemacht haben könnte.«
Es fiel Nick sichtlich schwer, Kate wieder und wieder zu enttäuschen. »Nein. Ich meine, es gab manchmal irgendwelche Sachen in der Schule. Schüler, denen sie schlechte Noten gab und die sich dann heftig beschwerten. Ich weiß, dass einmal die Eltern eines Schülers mit einem Rechtsanwalt in der Schule aufkreuzten, weil sie meinten, ihr Sohn sei von Sophia ungerecht bewertet worden. Die Geschichte hat Sophia ziemlich mitgenommen, aber natürlich nicht in dem Sinne, dass sie glaubte, die Eltern würden ihr von da an nach dem Leben trachten. Es war ihr einfach sehr unangenehm.«
»Wissen Sie noch den Namen dieser Leute? Und wann das war?«
»In unserem ersten gemeinsamen Jahr. Also 2016. Aber den Namen weiß ich nicht mehr.«
»Kein Problem. Das finde ich über die Schule heraus. Sonst fällt Ihnen nichts ein?«
»Nein. Sie hat allerdings sowieso nie viel von ihrer Vergangenheit erzählt.«
»Von ihren Eltern lebt nur noch der Vater«, sagte Kate. »Geschwister hat sie keine. Ansonsten scheint sie jeder zu mögen, hier im Dorf und unter ihren Kollegen, aber trotzdem scheint sie keine wirklich engen Freunde zu haben.«
»Stimmt«, sagte Nick. »Genauso habe ich das auch immer empfunden. In Manchester. Sie kannte viele Leute – Kollegen, Leute aus dem Fitnessclub, Nachbarn. Mit allen war sie ein bisschen befreundet, aber irgendwie auch nicht. Sie ließ niemanden wirklich nah an sich heran. Sie war herzlich und freundlich, sehr hilfsbereit. Ein wirklich guter Kumpel für jeden. Aber ich glaube nicht, dass sie die Menschen an ihrem Innenleben teilhaben ließ. Oder ihnen viel von sich erzählte. Ich war zwei Jahre lang ihr Lebensgefährte, aber ich weiß so gut wie gar nichts aus ihrer Vergangenheit.«
»Was hat zu Ihrer Trennung geführt?«
»Sie hatte sich an der Graham School hier in Scarborough beworben. Ohne mir irgendetwas davon zu sagen. Sie teilte mir eines Tages bei einem gemeinsamen Abendessen lapidar mit, ihre Bewerbung sei angenommen worden und sie suche gerade ein Haus in Scarborough oder Umgebung. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.« Nick hielt inne, schien noch immer in der Erinnerung an jenen Abend völlig perplex zu sein. »Ich weiß noch genau, bei welchem Italiener wir saßen, an welchem Tisch … Ich hatte eigentlich mit ihr darüber sprechen wollen, ob wir im Sommer gemeinsam verreisen. Und da kam sie mit dieser Neuigkeit.«
»Das ist ein sehr eigenartiges Verhalten«, meinte Kate.
»Ja, das fand ich auch. Ich meine, wir wohnten nicht zusammen, aber wir gehörten zusammen. Wir verbrachten die Wochenenden gemeinsam und erzählten uns voneinander. Oder zumindest ich erzählte von mir. Sie gab ja, wie gesagt, kaum etwas preis.«
»Das kann einfach Teil ihres Wesens sein. Vielleicht gibt es aber auch irgendein größeres Problem in ihrem Leben.«
»Sie fand dann jedenfalls dieses Haus hier, unterschrieb den Mietvertrag und verließ Manchester.«
»Wie hat sie Ihnen das denn erklärt? Sie muss doch einen Grund genannt haben, weshalb sie an eine andere Schule wollte?«
»Sie meinte, es sei einfach gut, hin und wieder zu wechseln. Sich neuen Herausforderungen zu stellen. Neue Menschen kennenzulernen. Lauter Gründe, gegen die sich schwer etwas sagen lässt. Ich war sehr verletzt. Denn im Kern verriet ihr Verhalten vor allem, dass sie einfach nicht so sehr an unserer Beziehung interessiert war wie ich.«
»Sie sind aber Freunde geblieben?«
»Ja, aber auch da bin ich die treibende Kraft. Ich habe den Kontakt gehalten, hauptsächlich über WhatsApp. Und da ich diese Woche beruflich in der Gegend zu tun habe, hatte ich ein Treffen vorgeschlagen. Sie hat zugestimmt. Sie hat ja Ferien im Moment.«
»Und das Treffen sollte hier sein?«
»Ich wollte sie hier abholen, und wir wollten irgendwohin zum Mittagessen fahren. Ich habe mich in den letzten Tagen schon gewundert, dass sie nicht mehr reagiert hat, als ich die Verabredung noch einmal bestätigte, aber ich dachte dann, ich gehe ihr wahrscheinlich auf die Nerven, weil es ja klar abgesprochen war. Also habe ich mich dann auch nicht mehr gemeldet und bin einfach hierhergekommen.«
»Das Handy von Sophia Lewis ist völlig kaputt durch den Sturz«, sagte Kate, »wir sind gerade dabei, die Daten wiederherzustellen und außerdem ihren Computer auszuwerten.«
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Nick. »Ich verstehe es einfach nicht.«
Kate überlegte. »Als sie so plötzlich von Manchester wegging, gab es da irgendetwas, das in Ihnen ein ungutes Gefühl auslöste? Ich meine, jenseits der Tatsache, dass Sie natürlich verletzt und verstört waren. Aber gab es irgendeine vage Ahnung, irgendein Gefühl. Für die wahren Gründe?«
Er nickte. »Ich habe sofort an einen anderen Mann gedacht. Dass sie jemanden kennengelernt hat und nun zu ihm will. Aber irgendwie hätte es nicht zu ihr gepasst, das dann nicht zu sagen. So verschwiegen sie war, was ihr Innenleben anging, war sie im Alltag dann auch sehr geradlinig. Nicht der Typ Frau, der sich monatelang heimlich mit einem anderen Mann trifft und sich dann unter irgendwelchen vorgeschobenen Gründen vom Acker macht. Sie hätte mir das gesagt.«
»Kam Ihnen noch anderes in den Sinn? Sie haben sicher viel über das alles nachgedacht.«
»Ich lag nächtelang wach und habe gegrübelt. Vor allem darüber, was ich möglicherweise falsch gemacht habe. Obwohl sie mir auf meine Frage immer wieder versicherte, dass es nichts mit mir zu tun habe.«
Kate wartete. Sie spürte, dass Nick versuchte, so wahrhaftig wie möglich zu antworten.
»Es klingt vielleicht seltsam«, sagte er schließlich, »nach allem, was jetzt passiert ist. Aber tatsächlich gab es Momente, da hatte ich den Eindruck, dass sie Angst hat. Vor irgendetwas oder irgendjemandem. Obwohl sie nichts dergleichen erwähnte.«
»Woher kam dieser Gedanke bei Ihnen?«
»Sie schien mir schreckhafter als sonst. Irgendwie nervös. Unruhig. Ich kann das nicht an bestimmten Vorkommnissen festmachen, es war einfach ihre Ausstrahlung. Sie wirkte verändert. Nicht die ganze Zeit über, aber zwischendurch. Ja, ich kann es nur so beschreiben: nervös. Sie schien nervös zu sein.«
»Wegen des bevorstehenden beruflichen Wechsels?« Kate hätte das nachvollziehen können. Sie dachte an die vielen nervösen Augenblicke, die ihr der Weggang von Scotland Yard und die Entscheidung für den Neuanfang in Scarborough bereitet hatten.
Nick schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht genau sagen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es um den Schulwechsel ging. Aber ich kann das nicht begründen. Es war ein Gefühl. Schwer zu beschreiben. Sie war einfach nicht mehr die Sophia, die ich kannte. Als sei ein Schatten über ihr. Ja, das trifft es vielleicht am besten. Ein Schatten lag über ihr und ihrem Leben. Aber ich habe keine Ahnung, wodurch er verursacht wurde.«
2
»Ein Schatten«, knurrte Inspector Robert Stewart. »Das ist keine Information, die uns wirklich weiterbringt. Schatten. Geht es noch etwas ungenauer?«
Sie saßen in seinem Büro. Kate, Sergeant Helen Bennett und Robert. Kate hatte von ihrem Treffen mit Nick Gelbero berichtet. Robert, in völliger Ermangelung auch nur des kleinsten Anhaltspunktes, hatte sich auf Nick gestürzt.
»Könnte da nicht etwas sein? Er liebte sie, und sie hat ihn verlassen. Abrupt, auf eine ziemlich verletzende Art und Weise. Nun will er es ihr heimzahlen.«
Kate schüttelte den Kopf. »Warum erst ein Jahr später? Außerdem war er wirklich völlig geschockt, als er von dem Attentat erfuhr. So gut kann ein Mensch nicht schauspielern.«
»Er macht Filme.«
»Dokumentarfilme. Er produziert sie. Er ist kein Schauspieler.«
»Ich würde ihn auf die Liste der Verdächtigen nehmen«, sagte Robert.
»Auf welche Liste?«, rutschte es Helen heraus. Schnell fügte sie hinzu: »Entschuldigung. Aber haben wir eine Liste mit Verdächtigen
?«
Das war in der Tat eine gute Frage.
»Jacob Paget gefällt mir nicht«, sagte Robert. »Und dieser Nick Gelbero auch nicht. Die meisten Verbrechen werden innerhalb von Familien und Partnerschaften begangen.«
»Das stimmt«, sagte Kate. »Nur haben wir zwei Frauen, die jeweils mit anderen Männern zusammen sind oder waren. Die beiden Frauen wie auch die beiden Männer haben nichts miteinander zu tun. Nimmt man diese vier Personen, so hat keiner je die Namen der beiden anderen gehört.«
»So weit es Xenia Paget, ihren Mann und diesen Gelbero angeht«, sagte Robert. »Sophia Lewis konnte sich noch nicht äußern. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie der Schlüssel ist.«
»Leider müssen wir vorläufig andere Wege gehen«, sagte Kate.
»Was sind die nächsten Schritte?«, fragte Robert. Er klang nicht wie ein Mensch, der vor Tatendrang brannte, allerdings hatte er auch so wenige Anhaltspunkte, dass jeglicher Tatendrang zwangsläufig ins Leere laufen musste.
In die Rolle des Chefs muss er sich noch hineinfinden, dachte Kate. Bislang ist von Führung bei ihm wenig zu merken.
Fast bedauerte sie ihn ein wenig. Gleich als Erstes einen Fall wie diesen auf den Tisch zu bekommen … Andererseits hielt sich ihr Mitleid in Grenzen. Es war nicht ausgesprochen fair, wie er mit Caleb umgegangen war, um sich dessen Posten unter den Nagel zu reißen. Nun sollte er sehen, wie er klarkam.
»Ich werde nach Manchester fahren«, sagte Kate. »Ich will mit dem Leiter der Schule sprechen, an der Sophia unterrichtet hat. Ich will der Spur mit den aufgebrachten Eltern nachgehen, deren Sohn angeblich ungerecht bewertet wurde. Ich bin ziemlich sicher, dass diese Leute mit alldem nichts zu tun haben, aber wir müssen es zumindest sicher ausschließen können.«
»Gut«, sagte Robert, »sehr gut.«
Helens Handy brummte leise. Sie entschuldigte sich und verließ den Raum.
Robert blickte in seine Unterlagen. »Sophia Lewis ist in Birmingham geboren. Gibt es dort noch Familie? Freunde?«
»Der Vater lebt noch«, sagte Kate. »Ich werde ihn aufsuchen. Es hilft jetzt nur, in Sophias Vergangenheit so viele Steine umzudrehen und darunter zu schauen, wie wir können.«
»Und in der Vergangenheit von Xenia Paget.«
»Schwieriger. Den größten Teil ihres Lebens hat sie in Russland verbracht, noch dazu in einer ziemlich entlegenen Gegend. Dorthin zu reisen und Befragungen anzustellen könnte …«
»… extrem teuer sein«, vollendete Robert den Satz. »Das wäre der letzte Strohhalm. Verdammt, es muss doch möglich sein, diese Frau zum Reden zu bringen, oder? Xenia Paget meine ich. Jemand will sie in einem voll besetzten Zug einfach abknallen, und sie hat angeblich keine Ahnung, worum es geht?«
Kate wiederholte, was sie schon Caleb gegenüber geäußert hatte. »Ich glaube, dass sie durchaus einen Verdacht hat. Sie will ihn nicht preisgeben. Sie hat Angst.«
»Seltsam. Sie steht buchstäblich auf der Abschussliste irgendeines völlig verrückten Typen und hat Angst, sich der Polizei anzuvertrauen? Was hat sie zu verlieren?«
»Offenbar sieht sie uns als die größere Gefahr«, meinte Kate nachdenklich. »Was bedeuten könnte, dass es in ihrer Vergangenheit irgendetwas gibt, das eine Strafverfolgung nach sich ziehen könnte. Oder wovon sie zumindest glaubt, dass es so ist. Ich werde herausfinden, über welche Agentur Jacob Paget Xenias Bekanntschaft gemacht hat. Vielleicht bringt uns das weiter.«
»In jedem Fall sollten Sie noch einmal sehr eindringlich mit Xenia sprechen«, sagte Robert. »Ihr klarmachen, wie wichtig es ist, dass sie mit offenen Karten spielt. Nur dann können wir sie beschützen.«
»Ich werde mit ihr reden. Noch bevor ich nach Manchester fahre.«
»Eine Nadel in einem Heuhaufen zu finden ist einfacher, als einen Anfang in diesem Knäuel zu entdecken«, seufzte Robert.
Sie sah ihn an. Er wirkte äußerst gestresst und überfordert.
Das muss ich Caleb erzählen, dachte sie mit leiser Genugtuung und kam sich gleich darauf kindisch vor.
»Hat sich im Fall White etwas ergeben?«, fragte sie, um für einen Moment abzulenken.
Robert wirkte sofort wie befreit. »Da ist alles klar. Die Sachlage ist ja eindeutig. Jayden White sitzt in Untersuchungshaft. Er wird für lange Zeit ins Gefängnis gehen, für sehr lange Zeit. Leider rettet das niemanden mehr.«
»Caleb wird aussagen müssen?«
»Ja. Er hat ja das entscheidende Gespräch geführt.«
»Sind für Caleb noch Probleme zu erwarten?« Sie musste es einfach wissen. »Eben wegen dieses Gesprächs?«
»Kann sein, dass es noch eine Untersuchung gibt«, murmelte Robert ausweichend.
Sie sahen einander an. Caleb schien plötzlich zwischen ihnen zu stehen, eine feindselige Spannung baute sich für einen Moment auf. Dann war der Augenblick vorbei. Beide, Kate wie Robert, waren professionell genug, das Problem sogleich im Keim zu ersticken.
»Also …«, setzte Robert an, aber er wurde unterbrochen. Die Tür ging auf, Helen kehrte zurück.
»Das Krankenhaus hat angerufen. Sophia Lewis konnte die Intensivstation verlassen. Das ist immerhin eine gute Nachricht.«
»Gott sei Dank«, sagte Kate.
»Kann sie sprechen?«, fragte Robert.
Helen schüttelte den Kopf. »Habe ich auch gleich gefragt. Nein, leider nicht.«
»Mist«, sagte Robert inbrünstig.
»Weiter warten«, sagte Kate.
3
Wenn ich diesen Sprachkurs nicht hätte, dachte Xenia, würde ich wohl durchdrehen.
Sie mochte ihre Schüler. Und die Schüler mochten sie. Sie kamen aus Syrien, aus dem Irak, aus Afghanistan. Zwei sogar aus Somalia. Xenia liebte den Job. Sie wusste, dass sie die wandelnde Motivation für ihre Schüler war.
»Ich habe mein drei viertel Leben lang nur Russisch gesprochen«, erklärte sie gerne. »Und hört mich heute an! Wenn ich das geschafft habe, schafft ihr es auch.«
Es machte ihr Freude, mit Menschen zu tun zu haben, mit denen sie eine ähnliche Geschichte verband. Man war aus einem fremden, fernen Land gekommen, man hatte das Land verlassen, weil Krieg, Not oder, wie in Xenias Fall, erdrückende Perspektivlosigkeit einen zwangen, diesen Schritt in die völlige Ungewissheit hinein zu tun. Westeuropa, Großbritannien. Man fand sich unter fremden Menschen, in einer fremden Kultur mit fremden Sitten und Gebräuchen und vor allem mit einer völlig fremden Sprache wieder. Xenia wusste, wie verwirrend und verunsichernd das alles war, wie entwurzelt und verloren man sich fühlte. Am eigenen Leib jedoch hatte sie erlebt, dass die Fähigkeit zur Kommunikation mit den Einheimischen der Schlüssel war: Er öffnete die Türen, schuf Nähe und Verständnis. Er war Wegbereiter einer neuen Zukunft.
Als sie an diesem Abend zu ihrem Auto zurückging, das einsam auf dem großen Parkplatz vor dem Bürgerhaus in Headingley stand, fühlte sie wie immer die Zufriedenheit, die ihr das Zusammensein mit den Schülern vermittelt hatte. Aber darüber hinaus erkannte sie auch wieder deutlich, was sie außerdem den Montagabenden jede Woche entgegenfiebern ließ: Diese Abende stellten ihre einzige Möglichkeit dar, ihrem Zuhause zu entkommen. Der erdrückend schlechten Laune von Jacob, seiner Herrschsucht, seiner Ungeduld, seiner zynischen Bösartigkeit. Zwei Stunden in der Woche, in denen sie sich frei von ihm fühlte. In denen sie bei sich selbst war. Es war, als würde sie in diesen zwei Stunden ganz tief Luft holen, um die nächsten sieben Tage durchzustehen, bis sie ihm wieder entkommen konnte.
Es war schon kurz nach zehn Uhr. Der Kurs endete um neun, aber an diesem Tag hatte eine der Frauen, Aabidah aus Syrien, Geburtstag, und sie hatte einen Kuchen mitgebracht und die anderen zu einer kleinen Feier eingeladen. Einträchtig hatten sie in dem tristen Raum um einen Tisch herumgesessen und den Kuchen gegessen, Limonade aus Pappbechern getrunken und sogar ein paar Kerzen angezündet. Xenia hatte sich wie in einem warmen Bad gefühlt, bis ihr einfiel, dass sie daheim größten Ärger bekommen würde, wenn sie zu spät kam. Sie schickte Jacob eine WhatsApp, in der sie von dem Geburtstag berichtete und erklärte, dass sie eingeladen worden sei und nicht habe ablehnen können. Jetzt, als sie in der bereits einsetzenden Dunkelheit an ihrem Auto stand, stellte sie fest, dass Jacob die Nachricht noch immer nicht gelesen hatte. Das war nicht gut. Er würde richtig wütend sein, und dann war es die Hölle mit ihm. Jacob wurde nicht handgreiflich, aber er verletzte mit Worten, und Xenia hatte manchmal den Eindruck, dass das noch schlimmer war. Die Tatsache, dass Xenias Figur in den letzten Jahren so auseinandergegangen war, nutzte er besonders gerne. Er wusste, wie weh er ihr tat, wenn er sie wegen ihrer breiten Hüften, ihrer dicken Oberschenkel, ihrer voluminösen Oberarme verspottete oder sogar beschimpfte.
»Wie kann man sich so gehen lassen«, hatte er erst wenige Tage zuvor voller Verachtung zu ihr gesagt. »Ekelhaft. Einfach nur ekelhaft.«
Sie tippte eine zweite Nachricht: Ich fahre jetzt los. Bin gleich zu Hause.
Vielleicht hörte er das Eingangssignal und schaute endlich auf sein Handy. Xenia hätte auch anrufen können, aber das wagte sie nicht. Es würde dann sofort mit dem Terror losgehen. So hatte sie noch einen Aufschub.
Seufzend fuhr sie vom Parkplatz. Ihr Heimweg nach Bramhope hinaus dauerte knappe zwanzig Minuten. Es wurde schnell immer dunkler. Sie schaltete die Scheinwerfer ein. Sie wünschte so sehr, nach Hause zu kommen, und dort wäre niemand. Vielleicht ein Hund oder eine Katze. Sie könnte sich einfach noch einen Tee machen, ein bisschen im Fernsehen herumzappen, sich ins Bett legen, lesen. Alles Dinge, die nicht funktionierten, wenn man mit einem Mann wie Jacob verheiratet war.
Die Straße führte schnell aus Headingley, einem der Außenbezirke von Leeds, hinaus und schlängelte sich dann durch Felder und Wälder, zwischen denen vereinzelt Gehöfte lagen, hier und da auch ein paar Lagerhallen, die zu Firmen in der Stadt gehörten. Es herrschte kaum Verkehr. Zwischen Headingley und Bramhope gab es auch eine Schnellstraße, die von den meisten Leuten genutzt wurde, aber Xenia fuhr lieber diese alte Landstraße entlang. Außerdem dauerte es etwas länger. Selbst in einer Situation wie heute, in der Jacob wegen ihrer Verspätung toben würde, versuchte sie nicht, Zeit einzuholen. Es würde sowieso nichts mehr nützen.
Sie fuhr sehr langsam, weil sie Angst vor kreuzenden Rehen hatte. Hinter ihr war niemand, der sie hätte drängen können. Es kam ihr auch kein anderes Auto entgegen.
Frieden. So ein herrlicher Frieden. Die Ruhe vor dem Sturm zu Hause.
Sie war so in eigene Gedanken versunken, dass sie das quer über der Fahrbahn stehende Auto erst bemerkte, als sie schon dicht davor war. Erschrocken trat sie mit aller Kraft in die Bremsen. Ihr Wagen schlingerte etwas, kam aber noch rechtzeitig zum Stehen. Xenia starrte das Auto vor sich an. Es stand tatsächlich so, dass man an keiner Seite vorbeikommen konnte.
Das gibt es doch nicht, dachte sie. Wer stellt denn sein Auto auf diese Weise ab?
Sie blickte sich um, aber nirgends konnte sie einen Menschen sehen. Es war allerdings inzwischen auch richtig dunkel. Das Auto schien leer zu sein, aber sie hätte es nicht beschwören können.
Ein Unfall? Und der Fahrer hatte sich nach draußen in die Wiesen geschleppt?
Aber warum?
Ein leerer Benzintank? Dann war der Fahrer vielleicht auf dem Weg zur nächsten Tankstelle. Doch dazu hätte er sein Auto am Straßenrand parken können. Nur ein Betrunkener würde sein Auto mitten auf der Straße abstellen.
Oder jemand, der die Straße blockieren wollte.
Xenia beschlich ein ungutes Gefühl. Es war dunkel und einsam, und sie war völlig alleine. Sie konnte nicht weiterfahren, und sie wusste auch nicht, ob es ihr gelingen würde, an dieser schmalen Stelle zu wenden. Was, wenn jemand genau sie
in genau diese Lage
hatte bringen wollen?
Vor etwas über einer Woche hatte jemand versucht, sie zu erschießen.
Woher sollte jemand wissen, dass sie gerade jetzt an dieser Stelle sein würde und dass niemand sonst kam?
Jemand wusste auch, dass ich in dem Zug von London nach York saß, dachte sie panisch.
Sie löste ihren Sicherheitsgurt und kam in ihrer Hast an die Hupe. Das Geräusch gellte kreischend durch die Stille der Nacht und führte dazu, dass Xenia einen fast noch lauteren Entsetzensschrei ausstieß. Wild fingerte sie an allen möglichen Hebeln und Tasten herum, um die Zentralverriegelung auszulösen, bis ihr einfiel, dass die in dem alten Auto, das Jacob ihr gebraucht gekauft hatte und das eher einer Rostlaube auf vier Rädern glich, nicht mehr funktionierte. Sie saß hier auf dieser einsamen Landstraße, konnte nicht weiter, und wenn ihr jemand Böses wollte, brauchte er nur die Autotür zu öffnen und sie abzupflücken wie eine Blume auf der Wiese.
Sie fing an zu zittern, und ihr wurde plötzlich schrecklich kalt.
»Entspann dich«, sagte sie zu sich selbst. Es kann auch alles ganz harmlos sein.
Was sollte harmlos sein an einem querstehenden Auto in der Dunkelheit auf einer einsamen Landstraße?
Auf jeden Fall konnte sie nicht die ganze Nacht hier stehen. Kurz erwog sie, Jacob anzurufen und ihn zu bitten, zu ihr zu kommen, aber letzten Endes konnte er nicht viel ausrichten, denn er würde das Auto auch nicht bewegen können. Oder doch? Konnten sie es zusammen an den Straßenrand schieben? Aber er würde schimpfen und fluchen und ihr erklären, was für eine riesige Idiotin sie sei, wobei nicht ganz klar werden würde, worin ihre Hirnlosigkeit bestand, aber Jacob hatte sich noch nie damit aufgehalten, Gründe für seine Anschuldigungen anzuführen.
Ich muss versuchen zu wenden, dachte sie.
Die Straße war schmal an dieser Stelle. An der einen Seite wurde sie von einer Mauer begrenzt, auf der anderen führte ein sanft ansteigender Wiesenhang hinauf zu einer Anhöhe. Es musste ihr gelingen, mit dem Auto bei dem Wendemanöver nicht an die Mauer anzustoßen. Jacob kontrollierte fortwährend, ob sie Kratzer oder Dellen in den Wagen fuhr.
Sie setzte das Auto ein Stück zurück und schlug das Steuer ein, so weit es ging. Es würde ein Manöver werden, bei dem sie sich millimeterweise von der Stelle bewegte und nur ganz langsam die Nase des Autos drehte, bis sie in die entgegengesetzte Richtung zeigte. Obwohl sie eben noch gefröstelt hatte, brach Xenia jetzt der Schweiß aus. Sie konnte so wenig sehen in der inzwischen völligen Dunkelheit, eigentlich sah sie gar nichts. Und sie war nicht besonders gut in diesen Dingen.
Sie war inzwischen durchaus ein Stück vorangekommen und hegte allmählich die Hoffnung, dass sie es schaffen würde. Langsam merkte sie, dass sie ruhiger wurde. Da tauchten plötzlich Scheinwerfer auf. Aus derselben Richtung, aus der sie gekommen war, näherte sich ein anderes Auto.
Es wurde langsamer, blieb in einiger Entfernung stehen.
Xenia starrte hinüber, konnte aber nichts erkennen als die gleißenden Scheinwerfer, die auf sie gerichtet waren. Der andere löschte weder das Licht, noch blendete er ab. Xenia kam sich vor wie auf einem Präsentierteller. Beleuchtet von jemandem, den sie ihrerseits nicht sehen konnte. Hastig versuchte sie, ihr Wendemanöver weiterzuführen, als ihr ein kräftiger Ruck, der durch den ganzen Wagen ging, und ein hässliches, kreischendes Geräusch verrieten, dass sie mit dem Heck gegen die Mauer gescheppert war. Wie großartig, das klang nicht nach einem Kratzer, das klang nach einem richtig hässlichen Blechschaden. Sie hatte viel zu kräftig auf das Gaspedal getreten.
Sie schaute in Richtung des anderen Fahrzeugs. Sie sah eine Gestalt. Vor den Scheinwerfern. Ein Mann. Er kam langsam auf sie zu.
Wahrscheinlich hatte er eine Waffe.
Sie würgte den Motor ab und stieß die Tür auf. Sie ließ alles liegen, ihre Tasche, ihr Handy, den Schal, den sie mitgenommen hatte, falls der Abend kühl werden würde. Es war ihr egal. Sie wollte nicht sterben. Nicht eingekeilt zwischen zwei Autos einfach abgeknallt werden. Sie wollte weg. Einfach nur weg.
Sie versuchte, den Wiesenhang zu erklimmen, aber er war steiler, als es den Anschein gehabt hatte, und sie rutschte mehrmals ab. Sie war keine Gazelle, und sie war keinerlei sportliche Betätigung gewöhnt. Auf allen vieren kroch sie hinauf, hielt mit den Händen Grasbüschel umklammert und stieß sich mit den Füßen an Wurzeln ab, die aus dem Boden schauten. Einmal glaubte sie zu hören, dass jemand rief, aber sie konnte die Worte nicht verstehen. In ihren Ohren rauschte das Blut. Das Ganze war eine Falle, im Grunde hatte sie das von Anfang an gespürt, und es war gleichgültig, wie ihre Gegner das hinbekommen hatten, irgendwie hatten sie es geschafft, und offenbar waren sie wild entschlossen.
Sie? Mehrere? Oder nur einer? Er? Wegen der Geschichte damals. Bei der sie nie hätte mitmachen dürfen, es war schlimm und skrupellos und absolut unmoralisch gewesen, aber was hätte sie tun sollen? Was hätte sie in ihrer damaligen Situation tun können
?
Sie war oben angekommen, vor ihr erstreckte sich ein Feld, das glücklicherweise schon abgeerntet war. Sie rannte los. Der Boden war völlig uneben, ständig stolperte sie, kräftige Halme piksten in ihre nackten Waden, schließlich verlor sie sogar einen Schuh und rannte trotzdem weiter, obwohl das so wehtat, dass sie hätte schreien können. Aber es war ihr gleichgültig. Es war auch egal, dass sie kaum noch Luft bekam, dass ihre Seiten stachen, dass ihr Herz hämmerte. Sie würde bis ans andere Ende der Welt rennen, wenn es sein musste, aber sie würde sich nicht einfach erschießen lassen.
Irgendwann konnte sie nicht mehr. Sie blieb stehen und krümmte sich zusammen. Sie spürte, dass sie schweißüberströmt war, und begann in der kühler gewordenen Nachtluft zu frösteln. Der Fuß, dessen Schuh sie verloren hatte, blutete, jedenfalls fühlte es sich so an.
Sie richtete sich langsam auf, bemühte sich, langsamer zu atmen. Erstmals wagte sie, sich umzudrehen. Sie hatte keine Ahnung, wie weit entfernt von der Straße sie sich befand. Hinter ihr lagen Dunkelheit und Stille. Der Wind strich raschelnd durch das Laub der Bäume, irgendwo schrie ein Käuzchen, ein anderes antwortete. Sonst blieb alles ruhig. Es schien nicht so, als habe sie jemand verfolgt.
Sie lauschte noch eine Weile, hörte aber nichts als ihren eigenen Herzschlag und das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Dann begann sie, über ihre Lage nachzudenken. Sie stand mitten in der Nacht auf irgendeinem Acker am Rande von Leeds, bekleidet mit einem Trägerkleid aus dünnem Baumwollstoff und einer Sandale, sie hatte weder ihre Handtasche noch ihr Handy noch den Autoschlüssel. Sie hatte einfach gar nichts. Sie hatte alles zurückgelassen, weil ein Mann aus einem Auto gestiegen und auf sie zugekommen war. Ein Mann, der genau wie sie nicht hatte weiterfahren können. War es verwunderlich, dass er ausstieg, um die Szenerie näher in Augenschein zu nehmen? Ihm hatte sich der Anblick eines quer stehenden Autos geboten sowie der eines ziemlich hilflos davor herumrangierenden zweiten Wagens. Was hätte er tun sollen? Er hatte vielleicht gedacht, dass es sich um einen Unfall handelte. Also war er ausgestiegen. Wieso hatte sie geglaubt, er wolle sie erschießen?
»Ich bin völlig am Ende mit meinen Nerven«, murmelte sie.
Die Frage war, was sie jetzt tun sollte. Obwohl sie eigentlich glaubte, panisch und völlig übertrieben agiert zu haben, wagte sie es nicht, zum Auto zurückzukehren. Sie war auch nicht sicher, ob sie es finden würde. Schon jetzt hatte sie keine Ahnung mehr, aus welcher Richtung sie gekommen war.
Vor ihr, leider in ziemlicher Entfernung, sah sie die Lichter von Leeds. Straßenlaternen, beleuchtete Schaufenster, Kinos, die noch offen waren … Die meisten Menschen würden allerdings um diese Zeit bereits schlafen. Vielleicht fand sie eine Polizeiwache. Irgendjemand musste ihr helfen. Die Lichter. Die Lichter waren ihre Richtung. Wo Lichter waren, waren Menschen.
Ihr nackter Fuß tat schrecklich weh.
Sie biss die Zähne zusammen und stolperte vorwärts.
Eigentlich war Sascha ein liebes Kind. Meist still und in sich gekehrt. Er betrachtete die Welt aus großen Augen und schien ständig damit beschäftigt, das, was er sah, zu verarbeiten. Zu verstehen. Einzuordnen in ein Raster in seinem Kopf, das wir nicht kannten und das nicht dem anderer Kinder seines Alters entsprach.
»Was hat er denn?«, fragten uns die Leute, nachdem sie ihn eine Weile gemustert und überlegt hatten, wo und wie sie ihn einordnen sollten. Es war klar, dass er kein »normales« Kind war, nicht nur, weil er so ruhig war. Er sah einfach seltsam aus mit seinem zu kleinen Kopf, dem dünnen, unterentwickelten Körper, der auch mit der besten Ernährung nicht dicker wurde, dem abwesenden Blick seiner dunklen Augen.
»Das wird schon«, sagten wir dann immer munter, obwohl wir damit die Frage nicht beantworteten.
»Fetales Alkoholsyndrom?«, meinte Alice, wenn wir unter uns waren.
Wir gingen zu zwei Spezialisten und ließen ihn durchchecken, aber beide meinten, das
FAS
ausschließen zu können. Leider konnten sie nicht sagen, was es stattdessen war. Es gab so wenige Informationen über seine Vergangenheit.
»Ich vermute einen Geburtsfehler«, sagte ein Arzt der Universitätsklinik Cambridge, den wir ebenfalls aufsuchten. »Sauerstoffmangel während der Geburt. Das kommt heutzutage nicht mehr oft vor, aber es passiert natürlich noch immer.«
»Dann hätte er einen Hirnschaden?«, fragte ich vorsichtig.
»Das ist durchaus möglich«, meinte der Arzt.
»Und was bedeutet das?«, wollte Alice wissen.
»Das ist schwer zu sagen. Hirnschaden ist ein Begriff mit einer großen Spannbreite. Es kann sein, dass er sich später mit dem Lernen schwerer tut als andere, durchaus aber irgendwann einen guten Abschluss hinlegt. Es kann auch sein, dass eine Förderschule für ihn besser wäre. Er wird vielleicht Probleme haben, Freundschaften zu schließen oder Beziehungen einzugehen. Das ist noch nicht abzuschätzen.«
Ich blieb hartnäckig. »Aber eine etwas genauere Prognose müssten Sie doch abgeben können?«
»Auf jeden Fall ist er erheblich entwicklungsverzögert. Wie weit das aufholbar ist, wird erst die Zukunft zeigen.«
Mehr war nicht herauszufinden. Mehr wusste wahrscheinlich auch einfach niemand.
Sascha hatte deutlich Schwierigkeiten, Dinge zu begreifen. Natürlich machte ihm auch die Sprache zu schaffen. Aber hatten wir nicht überall gehört, Kinder in diesem Alter lernten eine neue Sprache geradezu spielend? Irgendwann kam Alice auf die Idee, den russischen Sprachschatz des Kindes testen zu lassen, und trieb tatsächlich eine gebürtige Russin auf, die sich mit Sascha unterhielt. Oder zumindest versuchte, sich mit ihm zu unterhalten. Ihre Bilanz fiel ziemlich niederschmetternd aus.
»Sein Wortschatz ist weit unter dem eines gesunden Kindes seines Alters. Er drückt sich unbeholfen und bruchstückhaft aus. Seine Aussprache ist schwer zu verstehen. Er wird jede Menge Unterstützung brauchen.«
Anstatt ein ganz normales Familienleben zu führen mit Ausflügen zum Spielplatz, in die Eisdiele und zu Kindergeburtstagsfeiern, bestand unser Alltag mit Sascha aus Besuchen beim Logopäden, beim Physiotherapeuten, beim Chiropraktiker und beim Osteopathen. Die Förderung unseres Sohnes war bald ein Fulltimejob. Im Wesentlichen übernahm Alice diese Aufgaben. Wir hatten darüber gesprochen, wer von uns seinen Beruf aufgeben und sich um Sascha kümmern würde, denn es war ziemlich schnell klar, dass man ihn nicht einfach in einem Kindergarten anmelden und der dortigen Betreuung überlassen konnte. Ich hatte mir gerade mühsam eine Klientel als Steuerberater aufgebaut und verdiente etwas mehr als Alice, die in einem pharmazeutischen Labor angestellt war.
»Was unser Einkommen betrifft, wäre es vernünftiger, wenn ich weiterarbeite«, hatte ich vorsichtig gesagt. Ich wusste, dass ich Alice damit einen verdammt harten und undankbaren Part zuschob. Sie hatte resigniert geseufzt.
»Ich weiß. Es ist wirklich vernünftiger.«
Also entschwand ich morgens erleichtert in mein Büro, während sie sämtliche Ärzte und Heilpraktiker in den ganzen East Midlands abklapperte. Abends kam ich nach Hause und lobte Saschas Fortschritte. In Wahrheit gab es die zwar kaum, aber Alice, zunehmend erschöpft und frustriert, brauchte sichtlich jede Aufmunterung, die sie bekommen konnte, und ich wollte ihr helfen, so gut es ging. Und manchmal gab es tatsächlich kleine Lichtblicke. Sascha bekam irgendwann ein paar Brocken Englisch hin, und man hatte zudem den Eindruck, dass er uns etwas besser verstand als am Anfang. Er wirkte etwas weniger unbeholfen, wenn man ihm beim Klettern auf dem kleinen Schaukelgerüst zuschaute, das ich im Garten aufgestellte hatte. Die Menschen des Dorfes, in dem wir wohnten, einige Autominuten von Nottingham entfernt, begegneten Sascha, dem Waisenkind aus Russland, mit großer Herzlichkeit. Aber mir entgingen nicht die skeptischen Blicke, mit denen sie ihn ansahen.
Und nicht die mitleidigen, die uns galten.
Nach ungefähr einem Jahr wagte Alice den Versuch und meldete Sascha in einem Kindergarten an. Sie meinte, es sei einfach nicht gut für ihn, wenn er seine Zeit ausschließlich mit ihr verbrachte und praktisch keinen Kontakt zu Gleichaltrigen hatte. Tatsache war aber vor allem, dass sie selbst am Ende ihrer Kräfte war. Sie hatte keine berufliche Herausforderung mehr, verbrachte ihre Zeit ausschließlich in der Gesellschaft eines retardierten Kindes und mit Therapeuten, die langwierige Übungen mit dem Kind veranstalteten, denen sie müde und frustriert zuschauen musste. Es ging ihr psychisch sehr schlecht, das spürte ich. Wir hatten endlich ein Kind, aber das Leben war so anders als gedacht, dass es uns beide zermürbte. Ich hoffte dauernd auf ein Wunder. Der Durchbruch, ein plötzlicher großer Entwicklungssprung bei Sascha, irgendetwas. Etwas, das uns schlagartig in die Normalität einer kleinen, glücklichen Familie katapultiert hätte.
»Was ist schon normal?«, fragte ein Kollege, dem ich bei einem gemeinsamen Bier nach Feierabend von unseren Problemen berichtete, eher: vorjammerte. Diese Antwort ist der Klassiker bei Gesprächspartnern, die nicht wissen, was sie erwidern sollen, und sich dann in den plattesten und blödesten Allgemeinplatz flüchten, den sie finden können: »Was ist schon normal?«
Entsprechend gereizt antwortete ich: »Normal wäre, dass unser inzwischen vierjähriger Sohn entweder in einen Kindergarten, besser noch, in die Vorschule geht. Dass meine Frau in ihren Beruf zurückkehren kann. Dass Sascha Freunde hat, mit denen er spielt, anstatt rund um die Uhr an seiner Mutter zu hängen und diese langsam an Frustration eingehen zu lassen. Ich würde gerne am Wochenende mit ihm Fußball spielen, ihm das Fahrradfahren und Schwimmen beibringen. Wir würden uns gerne mit ihm unterhalten, ohne bei jedem zweiten Wort herumrätseln zu müssen, was er eigentlich meint. Das alles wäre normal.«
Der Kollege sagte nichts mehr.
Sascha besuchte nun also einen Kindergarten. Zunächst für zwei Stunden am Vormittag. Etliche Kinder dort waren jünger als er und trotzdem viel weiter in ihrer Entwicklung. Manchmal, wenn ich ihn abholte, weil Alice inzwischen eine »depressive Verstimmung« – so der Arzt – entwickelt hatte und es Tage gab, an denen sie ihr Bett nicht verließ, sprang mir die Diskrepanz zwischen unserem Sohn und den anderen Kindern fast qualvoll ins Auge. Er war so still. So ungelenk. So langsam. Manchmal, so berichteten die Betreuer, versuche er, an einem Spiel teilzunehmen, aber er halte dabei alle auf, und die anderen Kinder reagierten entweder ungehalten oder ließen ihn so lange links liegen, bis er sich von selbst an den Rand stellte und nicht länger teilnahm.
»In der Schule wird er nur mit sehr viel Unterstützung zurechtkommen«, meinte eine der Kindergärtnerinnen. »Meiner Ansicht nach werden bestimmte Dinge bei ihm leider nicht besser werden.«
»Zumindest ist er nicht aggressiv«, sagte ich in dem schwachen Versuch, mir selbst ein wenig Mut zuzusprechen.
»Meistens nicht«, sagte die Frau in ihrer aufbauenden Art.
»Wieso meistens?«
Sie erzählte, dass es zweimal Vorfälle gegeben habe, da sei Sascha von Kindern sehr heftig zur Seite gedrängt oder angerempelt worden, und da habe er plötzlich geknurrt wie ein wildes Tier und mit den Fäusten um sich geschlagen, mit aller Kraft, und es sei nur Zufall gewesen, dass niemand verletzt worden sei.
»Aber es ist ja in Ordnung, dass er sich wehrt, wenn er angegriffen wird!«, sagte ich.
»Er wurde nicht direkt angegriffen. Die Kinder tobten herum und …«
»… haben ignoriert, dass da zufällig jemand stand«, unterbrach ich verärgert. »Und da wehrt er sich. Das ist normal.«
»Seine Reaktion war übertrieben. Nicht angemessen.«
Knurren wie ein Tier … übertrieben … unangemessen …
Sie versuchte, ein Monster aus ihm zu machen. Ich würde mir nichts einreden lassen. Es war lächerlich, wie sie ihn stigmatisierte.
Knappe vier Wochen nach diesem Gespräch, an einem heißen Julitag, bekam Alice einen Anruf. Sie war gerade in Nottingham und wollte sich etwas Neues zum Anziehen kaufen, zum ersten Mal, seit Sascha bei uns war. Ich hatte sie sehr in diesem Vorhaben unterstützt, ich fand, das war endlich ein Lichtblick. Alice schien ganz langsam ins Leben zurückzufinden.
Der Anruf erreichte sie in einer Umkleidekabine. Es war der Kindergarten.
Sascha habe versucht, ein kleines Mädchen im Planschbecken zu ertränken. Es sei ernst. Sie solle sofort kommen.