Mittwoch, 31. Juli
1
Xenia schreckte aus einem oberflächlichen und unruhigen Schlaf auf und wusste zunächst nicht, was sie geweckt hatte. Sie tastete nach ihrem Handy, das neben der Matratze, auf der sie schlief, auf dem Boden lag und schaute nach der Uhrzeit: Es war fast ein Uhr in der Nacht.
Sie seufzte. Sie sehnte sich nach der Helligkeit des Tages. Vielleicht würden ihre Ängste dann weniger werden. Obwohl die Probleme bestehen blieben. Am Ende traten sie sogar noch greller hervor.
Im Licht des Displays sah sie nach der Katze, die an ihrem Fußende geschlafen hatte. Messy war verschwunden.
Xenia richtete sich auf, ließ den Schein im Zimmer herumwandern. Messy saß an der Tür. Sehr aufrecht, mit gerecktem Kopf und gesträubtem Fell. Die Ohren nach vorne gerichtet. Sie schien in Hochspannung zu sein und auf irgendetwas zu lauschen.
Xenia stand auf, kauerte sich neben die Katze.
»Was ist los?«, fragte sie leise. Sie konnte das Vibrieren des kleinen Körpers unter ihrer Hand spüren. Messy brummte.
Irgendetwas stimmte nicht.
Am Ende kam Jacob zurück. Womöglich versuchte er, in das Haus einzudringen.
Das Auftauchen von Colin Blair hatte sie am Abend gerettet. Ein Freund von Kate, der sie hatte besuchen wollen, weil er gedacht hatte, sie würde noch nicht arbeiten. Offenbar hatte sie erst am ersten August beim CID Scarborough beginnen wollen. Jacob war durch das Auftauchen des Fremden aus der Fassung gebracht worden. Xenia hielt es nicht für ausgeschlossen, dass er sie notfalls auch mit Gewalt zu seinem Auto geschleift hätte, aber in Gegenwart des Fremden schreckte er davor zurück.
»Kommst du nun mit oder nicht?«, hatte er gefragt, nachdem Colin Blair seinen Rucksack in den Eingangsflur gestellt hatte und keine Anstalten machte, wieder abzureisen, nur weil Kate nicht daheim war.
Sie wusste, dass das in seinen Augen einer Kriegserklärung gleichkam, dennoch sagte sie: »Nein.«
»Du wirst es bereuen«, hatte Jacob gezischt. »Das wirst du bitter bereuen!«
Er war in sein Auto gestiegen und mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen weggefahren.
Colin hatte perplex hinterhergeschaut. »Was hat er denn? Bin ich irgendwie im falschen Moment aufgekreuzt?«
Xenia schüttelte den Kopf. »Sie sind genau im richtigen Moment aufgekreuzt.«
Das Eis zwischen ihnen war endgültig gebrochen, als sich herausstellte, dass Colin wusste, wer Xenia war, und dass er mit Kate zusammen in dem Zug gesessen hatte, in dem die Schießerei stattgefunden hatte. Er war begeistert, Xenia kennenzulernen. Sie merkte schnell, dass sie es mit einem Hobbydetektiv zu tun hatte, den seine Arbeit als IT-Experte in einer Londoner Firma fast zu Tode langweilte und der Kate und ihren Beruf glühend bewunderte.
»Leider«, bedauerte er, »erfahre ich immer so wenig. Sie darf mir ja eigentlich gar nichts sagen.«
Er und Kate hatten einander zwei Jahre zuvor über Parship kennengelernt, aber der zündende Funke war nicht übergesprungen. Trotzdem verband sie seitdem eine Art Freundschaft. Sie schien von Colin stärker forciert zu werden als von Kate. Xenia fand es erstaunlich, dass Kate offenbar versucht hatte – oder es vielleicht immer noch versuchte – , über das Internet einen Partner zu finden. Aus irgendeinem Grund hatte sie geglaubt, Kate sei überzeugter Single und in ihrem Leben mit einem abwechslungsreichen Beruf, einem hübschen Haus und einer Katze vollauf zufrieden. Nun dachte sie: Wie dumm von mir. Sie ist ein ganz normaler Mensch. Natürlich sehnt sie sich nach einer Beziehung.
Der Abend war schön gewesen. Colin hatte aus den spärlichen Vorräten in Kates Küche ein wirklich gutes Essen gekocht, und Xenia hatte am Tisch gesessen und ihm dabei zugeschaut. Sie hatte die Geschichte aus dem Zug noch einmal erzählt und dann das Drama des Vorabends geschildert, als das Auto ihr die Straße versperrt hatte und sie in Panik geraten war. Sie hatte von ihrer Ehe berichtet, die sie zunehmend als Hölle empfand, und Colin hatte zugehört und irgendwie die richtigen Fragen gestellt. Sie fand ihn nett. Viel netter, als sie Jacob je gefunden hatte.
Irgendwann war sie in das Gästezimmer gegangen, das vorläufig tatsächlich nur aus einer Matratze auf dem Fußboden und einem Stuhl in der Ecke bestand. Und aus etlichen nicht ausgepackten Kisten.
Colin schlief im Wohnzimmer auf einem der kleinen Sofas. Xenia war froh, dass er im Haus war. Alleine wäre es ihr jetzt noch unheimlicher zumute gewesen.
Messy gab nun ein deutliches Brummen von sich.
Xenia meinte, erneut ein Geräusch von unten zu hören. War es möglicherweise die Tür, die von der Küche aus auf die Terrasse hinausführte?
Jacob? Sie würde ihm zutrauen, dass er versuchte, sich Zutritt in das Haus zu verschaffen. Er war nicht der Mensch, der eine Niederlage hinnehmen konnte, und dass er am Abend ohne sie hatte abziehen müssen, war eine Kränkung seines Egos, die er nie im Leben so stehen lassen konnte.
Aber es gab eine weitere Möglichkeit. Der Typ aus dem Zug. Er hatte sein Werk noch nicht vollendet.
Sie richtete sich auf, öffnete vorsichtig ihre Zimmertür. Messy sauste wie ein Blitz hinaus und verschwand irgendwo in der Dunkelheit des Hauses. Xenia lauschte erneut. Sie vernahm jetzt nichts. Sie hätte vielleicht geglaubt, sich getäuscht zu haben, aber das Verhalten der Katze war merkwürdig. Messy nahm eindeutig etwas wahr.
Möglicherweise eine Maus in der Küche, dachte Xenia und versuchte zu lachen.
Es gelang ihr nicht.
Sie tappte die Treppe hinunter. Ihre Augen hatten sich an die Finsternis gewöhnt, die durch einen blassen, von Wolkenschleiern verdeckten Mond und die Straßenlaternen draußen gar nicht so finster war. Das strahlende Sommerwetter der letzten Tage schien umzuschlagen.
Auch unten war alles still, bis auf gedämpfte Schnarchlaute, die aus dem Wohnzimmer drangen. Colin schlief trotz seiner eher unbequemen Lage offenbar friedlich.
»Messy?«, rief Xenia leise.
Keine Reaktion. Sie schlich ins Wohnzimmer.
»Colin?«, flüsterte sie.
Colin schreckte hoch, knipste sofort die Stehlampe neben sich an und saß aufrecht auf dem Sofa. Seine Haare standen nach allen Seiten vom Kopf ab.
»Was ist los?«, fragte er erschrocken.
»Da ist jemand«, wisperte Xenia. »An der Küchentür.«
»An der Küchentür? Bist du sicher?«
»Messy ist auch ganz verstört.«
Colin schwang sich vom Sofa und ging in T-Shirt und Boxershorts hinüber in die Küche, schaltete auch dort das Licht ein. Messy saß an der Tür und maunzte.
»Ich glaube, sie will draußen auf Mäusejagd gehen«, meinte Colin. Er schickte sich an, die Tür zu öffnen, aber sofort fauchte Xenia: »Nicht! Mach nicht auf!«
»Warum denn nicht?«
»Da könnte jemand sein.«
»Wer denn?«
»Mein Mann. Oder der Typ aus dem Zug.«
Colin zögerte. Er hatte die Bekanntschaft des zweifelhaften Jacob Paget gemacht, und er war im Zug dabei gewesen. Für ihn klang Xenia weder überspannt noch hysterisch. Er konnte ihre Angst nachvollziehen.
»Sollen wir die Polizei anrufen?«
»Nein!«, sagte Xenia entsetzt.
»Warum nicht?«
»Wir sind doch hier bei der Polizei«, sagte Xenia und wandte sich ab, damit er nicht sah, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.
»Ja, aber Kate ist doch nicht da.« Er griff nach ihrem Arm. »Wovor hast du solche Angst, Xenia?«
»Auf mich ist geschossen worden. Da hättest du auch Angst.«
»Ja, aber ich hätte keine Angst vor der Polizei«, sagte Colin.
Sie grub ihre Fingernägel in die Innenseiten ihrer Handflächen. Der Schmerz schien etwas von ihrer Seelenpein in sich aufzusaugen, wirkte ein wenig neutralisierend. »Ich muss hier weg, Colin. Entweder der Typ aus dem Zug weiß, wo ich bin, dann bin ich in Gefahr. Oder Jacob wird mir die Polizei auf den Hals hetzen.«
»Wie könnte er denn dir die Polizei auf den Hals hetzen?«, rief Colin. »Du wirst doch von einem Irren verfolgt! Du verfolgst doch niemanden!«
»Es ist alles viel komplizierter«, flüsterte sie. »Kannst du mich hier wegbringen?«
»Jetzt?«
»Ja.«
Colin überlegte. Im Grunde war das eine Situation nach seinem Geschmack. Das Hauptproblem in seinem Leben bestand darin, dass nie irgendetwas passierte, und nun war er unversehens in einen Kriminalfall hineingeraten. Eigentlich bereits vor eineinhalb Wochen im Zug nach York. Es hatte ihn schwer gefuchst, dann wieder in London zu sitzen, von Kate keine Nachrichten zu erhalten und nicht zu wissen, wie sich alles weiterentwickelte. Deshalb war er nach Scarborough gereist und hatte sich auch von Kates Nachricht, eigentlich keine Zeit zu haben, nicht abhalten lassen. Gut, sie arbeitete also schon. Eigentlich kein Problem. Er konnte sich tagsüber in ihrem Haus nützlich machen, Kisten auspacken, Regale an die Wand dübeln und Ähnliches, und abends, wenn sie zurückkam, würde sie hoffentlich ein bisschen was erzählen.
Unverhofft war die Situation jetzt jedoch noch um einiges spannender geworden. Er hatte Xenia getroffen, die Frau aus dem Zug. Und sie flehte ihn um Hilfe an. Colin kam sich sehr wichtig vor, und das war ein Gefühl, das er mehr als genoss.
»Aber wohin sollen wir gehen?«, überlegte er. Natürlich gab es seine Londoner Wohnung. Allerdings wäre er dann wieder sehr weit weg. Zudem fragte er sich, was das für seine Freundschaft mit Kate bedeuten würde. Zweifellos wäre sie überhaupt nicht einverstanden mit dem, was er gerade überlegte. Sie würde erwarten, dass er sie in einer Situation wie dieser sofort kontaktierte und keinesfalls auf eigene Faust tätig wurde. Allerdings schien es ihm aussichtslos, in Xenias Gegenwart mit ihr telefonieren zu wollen. Er hätte sich im Bad einschließen können, aber irgendwie widerstrebte ihm das. Xenia vertraute ihm. Er wollte ihr Vertrauen nicht enttäuschen.
»Okay«, sagte er. »Du hast Angst. Das verstehe ich. Aber wollen wir nicht bis morgen früh warten?«
Sie war jetzt völlig beherrscht von ihrer Panik. »Nein. Jacob kann jeden Moment die Polizei verständigen.«
»Wir fahren los. Aber wir bleiben in der Gegend. Ich bekomme sonst riesigen Ärger mit Kate. Wir suchen ein Bed & Breakfast. Allerdings können wir da jetzt nicht einchecken. Wir werden die Nacht im Auto verbringen.«
»Ja. In Ordnung.« Sie wollte nur weg. Am Abend war sie ihm ruhiger erschienen. Das Geräusch an der Tür, wenn es überhaupt eines gegeben hatte, schien alle nur denkbaren Ängste freigesetzt zu haben. Nach Colins Ansicht agierte sie im Moment völlig irrational, aber er hatte nicht den Eindruck, dem jetzt etwas entgegensetzen zu können. Vielleicht kam sie zur Besinnung, wenn sie Jacobs Einflussbereich entzogen war. Vor ihm und einem möglichen Anruf bei der Polizei schien sie mehr Angst zu haben als vor dem Irren, der sie im Zug hatte abknallen wollen.
Messy hatte es inzwischen aufgegeben, zur Tür hinauszuwollen. Sie ging ins Wohnzimmer und rollte sich auf dem freien Sofa zusammen.
»Wir stellen ihr ausreichend Trockenfutter und Wasser hin«, sagte Colin. »Wann wollte Kate wiederkommen?«
»Morgen«, sagte Xenia und verbesserte sich gleich darauf: »Heute. Es ist ja schon heute.«
»Gut. Dann geht das mit Messy in Ordnung.« Er blickte Xenia an und sagte mit Nachdruck: »Aber ich will wissen, was los ist. Wo immer wir jetzt landen, du musst mir reinen Wein einschenken. Deine Angst vor der Polizei … Ich meine, du siehst nicht aus wie eine Serienkillerin, aber irgendetwas stimmt ja nicht, und am Ende gerate ich auch in Schwierigkeiten. Du sagst mir, was los ist?«
Sie nickte. »Hoffentlich kommen wir bis zum Auto«, flüsterte sie.
Colin fühlte sich bei dem Gedanken auch nicht wohl, aber er versuchte, ruhig aufzutreten. »Da ist niemand mehr. Falls da jemand war. Hier brennen inzwischen viel zu viele Lichter. Ich glaube, wir können es riskieren.«
»Ja«, hauchte Xenia.
2
DI Robert Stewart hatte an diesem Morgen kaum sein Büro betreten und wollte eigentlich gleich wieder nach draußen, um sich einen Kaffee zu holen, da klingelte schon das Telefon auf seinem Schreibtisch. Er fluchte leise. Er hatte sich die ganze Nacht schlaflos herumgewälzt und war hundemüde. Er hatte gehofft, sich zuerst etwas stärken zu können, ehe irgendjemand etwas von ihm wollte.
»Dr. Dane«, sagte die Frau von der Zentrale.
Robert war schlagartig hellwach. »Ja, stellen Sie durch!«
Die beste Botschaft des Tages, der Woche, wäre es, wenn er erführe, dass Sophia Lewis vernehmungsfähig wäre. Ein Geschenk des Himmels. Sophia Lewis war wahrscheinlich nicht der einzige Schlüssel zu diesem ganz und gar verwirrenden Fall, aber an dem anderen Schlüssel, Xenia Paget, bissen sie sich die Zähne aus und traten hoffnungslos auf der Stelle. Nichts bewegte sich. Das machte ihn wahnsinnig, deshalb schlief er nachts nicht. Das war ihm früher bei anderen vertrackten Fällen nicht so gegangen. Weil er nicht die letzte Verantwortung getragen hatte. Die hatte bei Caleb gelegen.
Ich wachse da rein, sagte er sich, ich brauche nur etwas Zeit.
Dr. Dane zerstörte leider sofort seine Hoffnung, umgehend zu einem Gespräch mit Sophia in die Klinik eilen zu können.
»Sie kann noch nicht sprechen«, sagte er, »aber stabilisiert sich zunehmend. Das ist ein großartiger Fortschritt.«
Robert dachte, dass man Arzt sein musste, um über die Tatsache, dass jemand, der weder sprechen noch sich bewegen konnte, immerhin aber stabiler wirkte, so glücklich zu sein. Er stellte sich das als einen einzigen grauenhaften Alptraum vor: bewegungsunfähig in einem Bett zu liegen, nicht sprechen zu können. Atmen. Im Grunde konnte sie nur atmen. Ihr Leben reduzierte sich auf das Atmen. Ein- und ausatmen.
Für immer vielleicht nicht mehr als das.
Robert hätte sich an ihrer Stelle gewünscht, auch seine Atmung möge versagen und ihn einfach sterben lassen.
»Schreiben kann sie auch nicht?«, vergewisserte er sich, mehr um sich von seinen düsteren Gedanken zu befreien, als dass er mit einer positiven Antwort rechnete.
»Nein. Sie kann die Arme nicht bewegen. Es gibt jedoch Anzeichen von Reflexen. Es ist durchaus möglich, dass sich ihre Situation verbessern wird.«
»Aber sie wird nicht …«
»Nein. Ihr altes Leben bekommt sie nicht zurück. Sie bleibt gelähmt. Aber mit viel Physiotherapie und Training werden vielleicht ein paar Dinge mehr möglich sein, als das jetzt der Fall ist. Ich will jedoch nicht zu viel versprechen. Letztlich kann man es einfach nicht wissen.«
»Gibt es irgendeine Prognose, egal wie vage, wann ich sie befragen kann?«
»Leider nein. Aber weshalb ich Sie anrufe: Wir werden sie verlegen. Morgen.«
»Verlegen? Wohin?«
»Wir können ihr jetzt nicht mehr die beste Versorgung bieten. Sie ist stabil, aber nun muss mit ihr gearbeitet werden. Und dabei sollte man nicht zu viel Zeit vergeuden.«
»Eine Rehaklinik?«
»Ja, in Hull. Es gibt dort eine wirklich gute Einrichtung. Beste medizinische Betreuung und hervorragend ausgebildete Physiotherapeuten. Erstklassige Geräte. Das haben wir hier alles nicht. Wir sind ein ganz normales Krankenhaus.«
»Hull.« Das war etwas über eine Stunde Fahrzeit. Aber egal. Er wäre überall hingefahren, wenn sie nur endlich reden könnte.
»Inspector, Sie werden mit ihr sprechen können«, sagte Dane. »Bald. Das glaube ich wirklich.«
»Das klingt gut«, sagte Robert. Es klang auch gut. Allerdings rechnete man als ermittelnder Kriminalbeamter in anderen Zeitdimensionen, als es ein Arzt tat. Ein Arzt wusste, dass er jedem Heilungsprozess seine Zeit geben musste, dass die Zeit in den allermeisten Fällen für den Patienten arbeitete. Das war bei polizeilichen Ermittlungen, von Ausnahmen abgesehen, genau andersherum. Die Zeit, die ohne nennenswerte Erkenntnisse verstrich, arbeitete zumeist für den Täter. Die Spuren wurden mit jedem Tag kälter.
»In Ordnung«, sagte er dennoch. Es half ja nichts. Dr. Dane konnte nichts beschleunigen, selbst wenn er ihm jetzt einen Vortrag über Polizeiarbeit hielt. »Danke, Doktor, dass Sie mich verständigt haben. Ich setze mich dann mit den Ärzten in Hull in Verbindung, um auf dem Laufenden gehalten zu werden.«
»Alles klar«, sagte Dane. »Ach, eines noch: Bleibt der Polizeischutz bestehen? Reist der Beamte, der jetzt vor ihrem Zimmer sitzt, morgen mit?«
Robert überlegte. Einen Beamten, der rund um die Uhr auf einem Krankenhausflur herumsaß, war etwas, was sie sich eigentlich angesichts von Personalknappheit und Geldmangel kaum leisten konnten. Dennoch war es ihm hier im Krankenhaus von Scarborough gerechtfertigt erschienen. Die Presse hatte über Sophias schwere Verletzung berichtet, und der Täter hatte sich daher ihren Aufenthaltsort ausrechnen können. Damit war eine Gefahrensituation begründet gewesen. Doch das änderte sich. Der Täter wusste nicht, dass Sophia verlegt werden sollte. Zudem gab es überall Rehakliniken.
Einen Moment lang fragte er sich, wie Caleb entscheiden würde, aber dann schob er diesen Gedanken zur Seite. Er war jetzt der Chef. Er musste sich an sich selbst orientieren – nicht an seinem Vorgänger.
Seinem alkoholkranken Vorgänger, präzisierte er in Gedanken. Es war ja schon lange fraglich gewesen, ob Caleb noch in der Lage war, kluge Entscheidungen zu fällen. Insofern diente er ohnehin nicht als Maßstab.
»Der Beamte bleibt bis morgen«, sagte er, »dann ziehen wir ihn ab. Er begleitet auch den Transport nicht mehr. Aber die Adresse der Rehaklinik muss absolut vertraulich behandelt werden.«
»In Ordnung«, sagte Dane.
Die beiden verabschiedeten sich. Kaum hatte Stewart aufgelegt, klingelte sein Handy. Es sah nicht so aus, als würde es ihm gelingen, in absehbarer Zeit einen Kaffee zu bekommen.
»Ja?«, fragte er ungeduldig.
Es war Kate, die aus Manchester anrief. Sie unterrichtete ihn darüber, was Helen herausgefunden hatte: Dass sich Jacob und Xenia Paget nicht über eine Partnervermittlung kennengelernt hatten, zumindest nicht über die, die von Jacob benannt worden war.
»Ja, und?«, fragte Robert. Er hielt es für unerheblich, wie und wo sich die beiden getroffen hatten. Seiner Ansicht nach maß Kate hier einer Sache Gewicht bei, der nachzugehen reine Zeitverschwendung war.
»Wir sollten überprüfen, weshalb beide hier eine falsche Angabe gemacht haben«, sagte Kate.
»Ja, okay. Hält sie sich noch immer in Ihrem Haus auf?«
»Ja. Ich habe sie allerdings heute früh nicht erreicht, weder auf dem Festnetz noch auf ihrem Handy, aber vielleicht ist sie im Garten und hört es einfach nicht. Könnten Sie eventuell kurz hinfahren?«
»Ich fahre rüber.« Überflüssig. Aber besser, als hier herumzusitzen.
Reiner Aktionismus, dachte er.
»Danke. Ich breche jetzt nach Birmingham auf und versuche, mit Sophia Lewis’ Vater zu sprechen. Auf dem Rückweg mache ich in Leeds Halt und suche noch einmal Jacob Paget auf. Er soll mir erklären, weshalb er mich belogen hat.«
»In Ordnung. Ach, übrigens: Sophia Lewis wird morgen in eine Rehaklinik nach Hull verlegt. Sie ist noch nicht vernehmungsfähig, aber auf einem hoffnungsvollen Weg, meint ihr Arzt.«
»Das ist doch eine gute Nachricht«, sagte Kate.
3
Constance Munroe hatte rot verquollene Augen und ein graues, übernächtigtes Gesicht, als sie Police Constable Mia Cavendish die Wohnungstür öffnete. Es war offensichtlich, dass sie keine Minute in der Nacht geschlafen und stattdessen nur geweint hatte. Mia war am Vorabend bei ihr gewesen und hatte ihr schonend beigebracht, dass ihr Auto leer, offen und mit nicht abgezogenem Zündschlüssel unweit der Stadt Taunton in der Grafschaft Somerset aufgefunden worden war. Constance hatte schockiert und entsetzt reagiert. Mia, obwohl sie gerne in den Feierabend gegangen wäre, hatte zwei Stunden bei ihr verbracht und war erst gegangen, nachdem Constance ein Beruhigungsmittel genommen und sich etwas entspannt hatte. An diesem Morgen hatte Mia beschlossen, noch einmal mit Constance zu sprechen. Es ging dieser Frau wirklich schlecht. Es war ihr eine Beruhigung, noch einmal nach ihr zu sehen.
Constance führte sie in das Wohnzimmer, bot ihr einen Platz auf dem Sofa und eine Tasse Tee an. Ihre Stimme klang zittrig. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Sache noch gut ausgeht, Constable. Ich meine … wer lässt denn sein Auto am Rande einer Landstraße einfach stehen? Offen. Den Schlüssel im Zündschloss! Da stimmt doch etwas nicht. Wohin ist sie denn von dort gegangen?«
»Sie hatte doch sicherlich Gepäck dabei, als sie zu diesem Seminar aufbrach?«
»Ja. Eine Reisetasche mit ein paar Sachen zum Wechseln.«
»Es ist keine Tasche im Auto. Auch keine Handtasche.«
Constance starrte Mia an. »Ja, und?«
»Jemand, der sie ausrauben wollte … der nimmt vielleicht die Handtasche mit, weil er Geld darin zu finden hofft. Aber warum ihr ganzes Gepäck?«
»Wenn jemand sie entführt hat?«
»Warum sollte jemand Alice Coleman entführen?«
»Ich weiß nicht.«
Mia legte ihr vorsichtig die Hand auf den Arm. »Constance, Alice ist doch offensichtlich in eine ganz andere Gegend gefahren, als sie es Ihnen gesagt hat. Das deutet darauf hin, dass sie nie vorhatte, dieses Seminar zu besuchen.«
»Meinen Sie?«
»Es sieht so aus, oder? Vielleicht wurde sie von jemandem mitgenommen. Von jemandem, mit dem sie sich verabredet hatte.«
»Warum sollte sie …?« Constance stockte, bekam große Augen. »Sie meinen, sie hat mich verlassen? Wegen jemand anderem?«
»Wäre das so undenkbar?«
Constance senkte den Kopf. Die Tränen strömten ihr aus den Augen. »Nein«, schluchzte sie, »wir hatten ja nur noch Streit. Wissen Sie, Constable, ich mache mir solche Vorwürfe. Ich habe Alice’ Seelenlage überhaupt nicht erfasst. Ich wusste, dass sie an depressiven Verstimmungen litt, dass sie oft melancholisch war, sie lief ja wohl auch zu all diesen Psychoseminaren und Familienaufstellungen und Selbstfindungsgeschichten, weil sie große Probleme mit sich herumschleppte. Aber was mache ich? Ich mache ihr Vorwürfe, weil sie ständig weg ist und mich alleine lässt. Anstatt den Hilfeschrei hinter alldem zu begreifen!«
»Quälen Sie sich jetzt nicht mit solchen Gedanken. Wir sind alle normale Menschen in einem hektischen Alltag. Im Rückblick sehen wir immer ganz genau, wann wir an welcher Stelle wie hätten agieren müssen. Während man mittendrin steht, ist das viel schwieriger.«
»Mir hätte klar sein müssen … Ach, ich hätte nicht dauernd streiten dürfen …« Constance weinte heftiger.
Mia stellte ihre Teetasse ab und legte der anderen Frau mitfühlend den Arm um die Schultern. So saßen sie ein paar Minuten, bis Constance sich etwas beruhigt hatte. Sie kramte ein Taschentuch hervor, putzte sich die Nase und trocknete ihre Augen.
»Für die Polizei ist damit alles erledigt, oder?«, fragte sie.
»Nicht ganz«, sagte Mia. »Ihr Wagen wird noch spurentechnisch untersucht. Allerdings vermute ich nicht, dass wir irgendetwas finden, was uns einen Hinweis gibt.«
»Kann ich die Vermisstenmeldung weiterhin bestehen lassen?«
»Selbstverständlich können Sie das. Aber ich fürchte, man wird nicht nach ihr suchen. Es gibt keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen. Eine erwachsene Frau, die höchstwahrscheinlich beschlossen hat, ein anderes Leben zu führen. Das ist für Sie schrecklich, aber es ist nichts, was eine großangelegte Suche rechtfertigen würde.«
»Dass sie einfach so weggeht. Ich verstehe es nicht. Ich verstehe es einfach nicht!«
»Seit wann sind Sie und Alice ein Paar?«, fragte Mia sanft.
»Seit knapp sieben Jahren.«
»Und davor? Mit wem war Alice davor zusammen?«
»Sie war mit einem Mann verheiratet. Ich weiß gar nicht, wie lange. 2007 wurde die Ehe geschieden. Ich habe Alice oft nach den Gründen gefragt, aber sie hat nie konkret darauf geantwortet. Sie seien einfach nicht glücklich miteinander gewesen. Ich dachte, es lag wahrscheinlich daran, dass Alice langsam herausfand, dass sie sich eher zu Frauen hingezogen fühlt. Vielleicht konnte sie deshalb mit Oliver nicht länger zusammenleben.«
»Oliver war ihr Mann?«
»Oliver Walsh. Ja. Sie hat nicht viel über ihn erzählt, aber das wenige klang nicht hasserfüllt. Sie haben sich wohl in beidseitigem Einvernehmen getrennt, danach aber keinen Kontakt mehr gehabt.«
»Wo lebt er?«
Constance zuckte mit den Schultern. »Sie haben in der Nähe von Nottingham gelebt. In einem Dorf.«
»Und Alice ging nach der Scheidung nach Cornwall?«
»Ja. Nach Truro zunächst. Dann bekam sie eine Stelle in Redruth. Dort haben wir uns dann kennengelernt.«
»Auf welche Weise?«
Constance lächelte schmerzlich. »Wir hatten beide ein Theaterabonnement. Und saßen dabei immer nebeneinander. Schierer Zufall. In den Pausen tranken wir Sekt zusammen und redeten über Gott und die Welt. Und, na ja, irgendwann wurde mehr daraus.«
»Ich verstehe«, sagte Mia. »Alice hat keine Kinder?«
»Nein.«
Mia überlegte. »Wenn sie zu Depressionen neigt … Sie haben doch bestimmt nachgehakt? Versucht zu ergründen, was dahintersteckt?«
»Ja. Aber da kam nicht viel. Sie wusste es vielleicht selbst nicht.«
»Vielleicht ist sie ungewollt kinderlos«, meinte Mia. »Dann das Scheitern ihrer Ehe. Das kann schon reichen.«
»Ja«, sagte Constance, »ich dachte nur, sie sei glücklich mit mir. Trotz allem.«
»Hat Alice noch lebende Verwandte? Eltern? Geschwister?«
»Nein. Geschwister hatte sie nie. Und ihre Eltern leben nicht mehr.«
»Verstehe.« Mia dachte, dass dies tatsächlich kein Fall für die Polizei war. Alice war in ihrer Beziehung nicht mehr glücklich gewesen, hatte sich unverstanden gefühlt. Sie hatte einen Schlussstrich gezogen. Radikal und ohne Rücksicht auf ihre Lebensgefährtin. Auf einer einsamen Landstraße in Somerset. In einer heißen Woche im Juli.
Es wäre interessant zu wissen, was in Alice Colemans Leben so schiefgelaufen war.
Aber wie sie schon zu Constance gesagt hatte: Es war nicht ihre Aufgabe, das herauszufinden.
4
An einem Rastplatz der M6, kurz hinter Stoke-on-Trent und somit ziemlich genau in der Mitte zwischen Manchester und Birmingham, begann sich Kate Sorgen zu machen. Sie hatte angehalten, um auf die Toilette zu gehen und sich einen Kaffee zu holen, und sie hatte, während sie an der Kühlerhaube ihres Autos lehnte und darauf wartete, sich an dem heißen Getränk nicht mehr die Lippen zu verbrennen, mehrfach versucht, Xenia zu erreichen. Auf dem Festnetztelefon ihres eigenen Hauses und auf Xenias Handy. Wie schon am frühen Morgen und dann noch einmal direkt vor ihrem Aufbruch. Aber – nichts. Es sprangen immer nur die Anrufbeantworter an.
Vielleicht ist sie schon in aller Frühe zu einem Spaziergang ans Meer aufgebrochen, dachte sie. Dann könnte sie den Vormittag unterwegs sein.
Von Scalby aus lief man eine gute Dreiviertelstunde zu Fuß, um den Strand der Nordbucht von Scarborough zu erreichen, die ziemlich untrainiert wirkende Xenia braucht vielleicht noch länger. Trotzdem, irgendwie hatte Kate ein dummes Gefühl. Xenia schien so verängstigt zu sein. Sie hätte geschworen, dass sie im Haus blieb und sich nicht für Stunden nach draußen wagte.
Ob sie einkaufte? Aber dann müsste sie eigentlich inzwischen zurück sein.
Kate trank in winzigen Schlucken ihren Kaffee und blickte hinauf in den wolkenverhangenen Himmel. Die Hitze war vorläufig vorbei, aber es war nicht kalt.
Das Handy klingelte, und sie hoffte, es sei Xenia, die zurückrief, aber es war Inspector Stewart. Er klang genervt.
»Ich bin hier vor Ihrem Haus, Sergeant«, sagte er ohne Begrüßung. »Um mit Xenia Paget zu sprechen. Es ist niemand da. Zumindest macht niemand auf.«
»Das ist seltsam. Ich versuche seit Stunden, Xenia anzurufen, aber es ist aussichtslos. Auf meinem Festnetzapparat erreiche ich sie nicht. Aber selbst wenn sie unterwegs wäre – sie hätte doch ihr Handy dabei?«
»Vielleicht ist der Akku leer.«
»Könnten Sie in den Garten gehen?«, bat Kate. »Und einfach schauen, ob alles in Ordnung ist? Auch an der Tür, die von der Terrasse in die Küche führt.«
Robert seufzte. Sie konnte durch das Telefon den Kies unter seinen Schuhen knirschen hören, als er um das Haus herumging. Dann vernahm sie wieder seine Stimme. »Sergeant? Hier scheint alles in Ordnung zu sein. Die Tür ist zu, im Garten ist niemand. In der Küche sitzt eine Katze.«
»Ja, das ist Messy.« Kate überlegte fieberhaft hin und her. Sie hatte den Eindruck, dass Robert wartete, dass sie sagte, was am besten als Nächstes zu tun wäre.
Toller Chef, dachte sie.
Dann fiel ihr etwas ein. »Klingeln Sie doch bitte bei meiner Nachbarin. Sie ist besser als jeder Wachhund, sie weiß mehr von dem, was bei mir vorgeht als ich selbst. Vielleicht hat sie irgendetwas beobachtet.«
Robert wirkte alles andere als begeistert, versprach aber, diesem Vorschlag zu folgen und sich dann wieder zu melden.
Sie beendeten das Gespräch. Kate trank ihren Kaffee zu Ende und stieg dann in ihr Auto. Mehr denn je wünschte sie, Caleb wäre noch da. Nicht, dass er immer recht gehabt hätte mit seinen Theorien und seinen Ansätzen, und manchmal waren sie einander wegen ihrer verschiedenen Sichtweisen ziemlich in die Haare geraten. Aber er hatte immer eine Idee gehabt, einen Plan, er war vorwärtsgegangen, war aktiv und engagiert gewesen. Robert hingegen kam ihr vor wie eine Schlaftablette. Früher, zusammen mit Caleb, hatte er durchaus Initiative gezeigt, aber nun, in seiner neuen Rolle, schien er wie erstarrt zu sein. Vor lauter Sorge, einen Fehler zu machen, bewegte er sich so gut wie gar nicht mehr.
Sie war zehn Minuten gefahren, da meldete sich Robert erneut. Kate sprach über die Freisprechanlage mit ihm.
»Ja?«
»Ihre Nachbarin ist tatsächlich sehr aufmerksam«, sagte Robert, was eine nette Umschreibung für manchmal ziemlich distanzlos und neugierig war, wie Kate fand. »Gestern waren nacheinander zwei Männer bei Xenia.«
»Zwei Männer?«
»Ja. Von dem ersten konnte sie wenig berichten, aber er sei ihr wütend und entschlossen vorgekommen. Ein unangenehmer Mensch, sagte sie. Ob es sich um Xenias Mann handeln könnte? Jacob Paget?«
»Leider wäre es durchaus möglich, dass Jacob sie aufgespürt und dann versucht hat, sie zurückzuholen. So ein Mist. Ich hätte da sein müssen.«
»Sie können jetzt nicht rund um die Uhr daheim sitzen und Xenia Paget bewachen. Von Anfang an war es keine glückliche Lösung, sie bei Ihnen im Haus unterzubringen.«
Hatten Sie einen besseren Vorschlag?, lag es Kate auf der Zunge zu sagen, aber sie verschluckte diese Bemerkung. Inspector Stewart war ihr Chef.
»Was hat sie über den anderen Mann gesagt?«, fragte sie stattdessen.
»Sie sagte, er war schon manchmal da. Früher, als Sie noch nicht in Scalby wohnten, aber sich dann und wann dort aufhielten. Er kommt aus London, fährt einen blauen Mini und …«
»Colin«, sagte Kate, »das ist Colin. Typisch. Ich hatte ihm geschrieben, dass ich keine Zeit habe, aber er rückt trotzdem an.«
»Ein Freund von Ihnen?«
»Ein Bekannter. Aus London. Er war mit mir in dem Zug nach York, in dem es zu der Schießerei kam.«
»Verstehe. Nun ja, jedenfalls scheint er nicht mehr da zu sein. Sein Auto ist auch nirgends zu sehen.«
»Hat die Nachbarin ihn wegfahren sehen? Alleine oder zusammen mit Xenia?«
»Sie sagt, nein. Der Wagen war gestern noch am späten Abend da, sie hatte den Eindruck, dass der Fahrer in Ihrem Haus übernachtete. Als sie heute früh aufwachte, war das Auto verschwunden. Ihr Bekannter muss sehr spät am Abend oder in aller Frühe aufgebrochen sein.«
Zusammen mit Xenia? Kate überlegte. Im Grunde wäre das eine beruhigende Variante. Colin war eine Nervensäge, aber ein harmloser Mensch. Falls er sich längere Zeit in Kates Haus aufgehalten hatte, hieß das, dass Xenia ihn reingelassen haben musste, denn er besaß selbst keinen Schlüssel. Das wiederum bedeutete, dass es Jacob – wenn es sich bei ihm um den anderen Mann handelte – nicht gelungen war, sie mitzunehmen. Vielleicht hatte sogar Colins Auftauchen dies verhindert. Die Frage war: Wo waren er und Xenia jetzt? Wieso hatten sie Kates Haus verlassen?
»Okay, gut, ich werde versuchen, Colin zu erreichen«, sagte sie. »In einer halben Stunde bin ich in Birmingham. Ich melde mich, wenn das Gespräch mit Sophia Lewis’ Vater etwas ergibt.«
»In Ordnung«, sagte Robert in bemüht geschäftsmäßigem Ton. So, als stünde er am Beginn einer großen To-do-Liste für den heutigen Tag, die er nun schleunigst abarbeiten musste.
Jede Wette, dachte Kate, dass er nicht weiß, was er als Nächstes tun soll?
Sie rief Colin auf dem Handy an. Nach mehrmaligem Klingeln sprang die Mailbox an. Es war nicht zu fassen, auch er war nicht erreichbar.
Sie fragte nach Xenia und bat dringend um Rückruf, mehr konnte sie im Augenblick nicht tun. Sie hoffte, dass er sich melden würde. Im Allgemeinen war er sehr zuverlässig, und zudem wollte er keinen Ärger mit ihr.
Und jetzt blieb ihr nichts übrig, als sich auf das bevorstehende Gespräch mit Sophias Vater zu konzentrieren. Helen hatte seine Adresse ausfindig gemacht, ihn jedoch telefonisch nicht erreicht. Es war zu hoffen, dass er zu Hause war und dass er irgendetwas zu berichten wusste, was zumindest einen Schimmer von Licht in die Aufklärung bringen würde.
Geoffrey Lewis war zu Hause, er freute sich sogar über den unerwarteten Besuch, bat Kate sofort in sein Wohnzimmer und verschwand in der Küche, um einen Kaffee zu machen. Kate war sehr froh über das Navi in ihrem Auto gewesen. Birmingham, nach London die zweitgrößte Stadt Englands, war eine verkehrstechnische und logistische Herausforderung für jeden Autofahrer. Mitten im Black Country gelegen, jenem von Bergwerken durchsetzten Kohleabbaugebiet in den West Midlands, das einst von qualmenden Fabrikschornsteinen geprägt und verunreinigt worden war, hatte sich Birmingham inzwischen zu einer extrem multikulturell geprägten Metropole entwickelt, die immer wieder mit großen sozialen Unruhen zu kämpfen hatte. Geoffrey Lewis lebte im Stadtteil Winson Green, einem eher ärmlichen Viertel, das vor allem als Standort des HM Prison Birmingham, auch Horrorknast genannt, eine landesweite Bekanntheit erlangt hatte. Dem privaten Betreiber des Gefängnisses war im Vorjahr die Lizenz zur Weiterführung entzogen, die Leitung vorläufig vom Staat übernommen worden, nachdem die katastrophalen Bedingungen, unter denen die Insassen dort in überbelegten Zellen und unter unvorstellbaren hygienischen Zuständen hausten, bekannt geworden waren und für Entsetzen gesorgt hatten.
Geoffrey Lewis’ Haus lag in der Green Lane, im ziemlich heruntergekommenen Teil dieser endlos langen Straße. Wenig Grün. Kleine aneinandergereihte Häuser mit niedrigen Decken und engen Fluren, asphaltierte Vorplätze, auf denen Mülltonnen und manchmal eine ausrangierte Spülmaschine oder ein alter Hundekorb herumstanden. Die Bewohner schienen die Lust, wenigstens ihr eigenes Häuschen noch irgendwie zu verschönern, schon vor langer Zeit verloren zu haben.
Das Wohnzimmer von Geoffrey Lewis war so klein, dass man sich kaum rühren konnte, aber Kate fand es nett, dass der alte Mann trotzdem bemüht war, seinen Gast zuvorkommend zu behandeln. Er bot ihr einen Platz in einem Sessel unter dem Fenster an, als er mit dem Kaffee zurückkehrte. Der Sessel hatte kaputte Sprungfedern und sank fast auf den Boden, als Kate sich darin niederließ. Geoffrey schenkte Kaffee in kleine Porzellantassen ein. Kate nahm einen Schluck und musste husten: Sie hatte noch nie so starken Kaffee getrunken. Hätte sie einen Löffel gehabt, er hätte aufrecht in der Tasse stehen können.
»Mr. Geoffrey, ich komme wegen Ihrer Tochter Sophia«, sagte sie.
Er wirkte nicht erschrocken, obwohl sie sich zuvor an der Haustür als Polizistin ausgewiesen hatte.
»Sophia«, sagte er, »wie schön.«
»Sie hatte einen Unfall.«
»Ach …«
Kate begann zu realisieren, dass Geoffrey Lewis auf den ersten Blick wie ein netter älterer Mann wirkte, ein wenig zerstreut und in seiner Einsamkeit nicht an den Umgang mit anderen Menschen gewöhnt. Tatsächlich war er aber geistig bereits ein wenig abgedriftet. Er saß da, lächelte und freute sich, dass er jemanden zum Plaudern hatte, aber er verstand nicht ganz, worum es ging, oder zumindest begriff er Zusammenhänge nur teilweise. Ihre Hoffnung sank. Es würde schwierig werden, aussagekräftige Informationen von ihm zu bekommen.
»Sie liegt noch im Krankenhaus. Es war nicht direkt ein Unfall. Jemand hat absichtlich einen schweren Sturz herbeigeführt.«
Geoffreys Miene spiegelte Verwirrung. »Absichtlich? Das ist nicht freundlich.«
Kate dachte an Sophias lebenslange Querschnittslähmung. »Nein. Das ist wirklich nicht freundlich.«
»Die Welt ist kein schöner Ort«, sagte Geoffrey und trank seinen überstarken Kaffee, als wäre es Wasser.
»Wann haben Sie Sophia zuletzt gesehen?«
Er überlegte. »Ich weiß nicht genau. Es war noch im Winter. Es lag Schnee. Im Februar?«
»Dieses Jahr?«
»Ja. Sie hat mich immer mal besucht. Ich bin sehr alleine, wissen Sie. Meine Frau ist vor neun Jahren gestorben.« Seine Einsamkeit war in diesem Moment so greifbar, als wäre sie ein großer Gegenstand, der sich mitten im Raum befand. Außer seiner Tochter gab es vermutlich keinen Menschen mehr, der sich wenigstens ab und zu um ihn kümmerte. Und diese Tochter würde das von nun an auch nicht mehr tun können. Kate empfand plötzliche eine tiefe, schmerzhafte Traurigkeit. Wer immer Sophia attackiert hatte: Er hatte diesen alten Mann genauso damit getroffen.
»Worüber haben Sie denn gesprochen?« Es half nichts, in Mitgefühl zu versinken. Sie musste professionell bleiben.
Er dachte angestrengt nach. »Über das Wetter, ja. Weil es gerade so kalt war. Richtig eisig.«
»Und sonst? Hat Sophia etwas von sich erzählt? Zum Beispiel, dass sie vor irgendetwas oder irgendjemandem Angst hat?«
»Angst?«
»Ja. Oder ob sie Feinde hat?«
»Sophia hat keine Feinde«, sagte Geoffrey mit Überzeugung. »Jeder mag sie.«
Das war das Bild, das Kate überall gespiegelt bekam: die beliebte Sophia. Gern gesehen, überall. Und doch musste jemand sie hassen. Abgrundtief.
»Jemand hat einen Draht über den Weg gespannt, auf dem sie jeden Morgen mit dem Fahrrad entlangfuhr«, sagte Kate. »Jemand, der sie bestimmt nicht leiden kann.«
»Vielleicht hat der gar nicht Sophia gemeint«, sagte Geoffrey und bewies, dass er durchaus sehr lichte Momente hatte. »Sondern wollte irgendjemanden erwischen. So zum Spaß.«
»Die Möglichkeit besteht, aber sie erscheint uns sehr unwahrscheinlich. Um diese Uhrzeit fuhr dort immer nur Sophia entlang. Viele Leute wussten das. Zudem hat man anschließend noch auf sie geschossen.«
»Ach …«, sagte Geoffrey wieder.
»Man hat sie aber verfehlt.«
»Gut.«
Es war schwierig mit ihm.
»Ist Sophia hier in diesem Haus aufgewachsen?«, fragte Kate. Geoffrey schüttelte den Kopf. »Nein. In West Bromwich. Das ist ein Stück außerhalb von Birmingham.«
»Aha. Und wie war es dort? Ich meine, wie war ihre Jugendzeit? War sie da auch schon so beliebt? Als Teenager?«
»Ja. Sie hatte viele Freunde. Jeder mochte sie. Sie war auch sehr gut im Sport, wissen Sie. Sie hat Handball gespielt und ist viel gelaufen. Sie war in einem Handballverein. Da hat sie auch jeder gemocht.«
Es war zum Verzweifeln. Wann, wie und wo hatte es sich die allseits beliebte Sophia denn so sehr mit jemandem verscherzt, dass sie jetzt bewegungsunfähig im Krankenhaus lag?
»Keine Feinde? Auch früher nicht?«
»In unserer Straße«, sagte Geoffrey. »Da gab es einen, der hat sie immer geärgert. Schon seit er fünf Jahre alt war. Und später war da einer …«
»Ja?«
»Im Handballclub. Er ist ihr ziemlich nachgestiegen. Sie wollte ihn aber nicht.«
»Wurde er unangenehm?«
»Eine Zeit lang hing er ständig vor unserer Haustür herum. Sophia war sehr genervt. Aber irgendwann hat er aufgegeben.«
»Wissen Sie noch, wie er hieß?«
Geoffrey überlegte. »Sam?«, fragte er zögernd.
»Sam? Und weiter?«
Geoffrey schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht einmal, ob er Sam hieß. Aber er zog dann weg, glaube ich.«
Ein Sam, der Handball gespielt und sich in Sophia Lewis verknallt hatte. Der sie gestalkt hatte? Das Problem war, dass selbst behutsames Nachhaken bei Geoffrey sofort dazu führte, dass er völlig verkrampfte. Unwahrscheinlich, dass er sich an den Namen erinnern würde, es sei denn, man ließ ihm viel Zeit und Ruhe. Wobei er dabei vermutlich die Frage wieder aus dem Fokus verlieren würde.
»Der Name des Handballclubs?«, forschte Kate vorsichtig.
Geoffrey legte die Stirn in Falten. »Ich weiß nicht. In West Bromwich jedenfalls.«
So viele Handballvereine würde es dort nicht geben. Immerhin, der ominöse Sam stellte einen Anhaltspunkt dar. Wenngleich er vermutlich ins Leere führte. Ein Junge, der mit einer Zurückweisung nicht klarkam, musste nicht mehr als ein Jahrzehnt später auf eine perfide Rache sinnen.
Andererseits hatte Kate in dieser Hinsicht schon viel erlebt.
»Und sonst?«, fragte sie. »Sie hat nichts erwähnt? Bei ihrem letzten Besuch oder bei einem Besuch davor? Irgendetwas, das sie bedrückt oder wovor sie Angst hat? Hat sie irgendeinen Namen genannt?«
Er grübelte. Er war ernsthaft bemüht, ihr zu helfen, aber Kate vermutete, dass sich das Innere seines Kopfes teilweise wie ein undurchdringliches Dickicht anfühlte. Es gab Erinnerungen darin, Bilder, Gedanken, aber es fiel ihm schwer, sie einander richtig zuzuordnen. Er war sicher auch zu viel alleine. Kate ahnte, dass er manchmal über Wochen mit niemandem sprach, vielleicht drei Worte hin und wieder mit der Kassiererin im Supermarkt. Auch das führte dazu, dass das Gehirn einrostete.
Dann hellte sich seine Miene auf. »Ja! Sie hat einen Namen genannt! Von einem Mann. Sie hat viel von ihm gesprochen.«
»Wie war der Name?«
»Nick.«
»Nicolas Gelbero?«
»Ja. Genau. Den Namen hat sie oft genannt.«
»Ihr Exfreund. Gab es Probleme mit ihm?« Nick hatte sowohl ahnungslos als auch entsetzt reagiert, als er von Sophias Unfall erfahren hatte, aber Kate wusste, dass sie ihn nicht völlig ausschließen durfte. Tatsächlich geschahen die meisten Gewaltverbrechen im Umfeld der Familie, besonders in der Partnerschaft. Enttäuschte Liebe, verletzte Gefühle. Nick war von Sophia ziemlich rigoros abserviert worden und das auch noch, ohne dass sie ihm wirkliche Gründe genannt hatte. Dennoch, Kate hatte sich immer recht gut auf ihr Bauchgefühl verlassen können, und das sagte ihr, dass Nick eines Verbrechens nicht fähig war. Er mochte traurig sein und auch immer noch auf eine Rückkehr zu Sophia hoffen, aber er war in der Lage, eine Kränkung zu verarbeiten, ohne ausfallend oder gar kriminell zu werden.
Aber er blieb, wie alle, die in irgendeiner Weise näher mit Sophia Lewis zu tun gehabt hatten, in ihrem Fokus.
Geoffrey sah sie erstaunt an. »Probleme? Warum Probleme?«
Es war nicht viel zu wollen mit ihm. Er begriff eindeutig nicht wirklich, was geschehen war.
Noch eine letzte Frage. »Haben Sie je den Namen Xenia Paget gehört?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nie.«
5
Sie waren nach Whitby hinaufgefahren, befanden sich somit kaum mehr als eine halbe Stunde von Scarborough entfernt, aber Xenia schien trotzdem ruhiger zu werden. Den Rest der Nacht hatten sie im Auto auf einem Parkplatz über dem Meer verbracht. Während Colin in dem unbequemen Sitz kein Auge zugemacht hatte, war Xenia schließlich in einen tiefen, erschöpften Schlaf gefallen. Trotz ihrer nicht unerheblichen Körperfülle war es ihr gelungen, sich zusammenzurollen; sie lag wie ein großer, teigiger Kloß neben Colin und atmete tief. Die Nacht ging in den Tag über, es war wolkig und verhangen, nur gelegentlich brach die Sonne durch. Das Meer schwappte wie eine träge Masse vor sich hin. Colin hatte irgendwann das Auto verlassen, hatte, Schmerzenslaute unterdrückend, seine Glieder gestreckt und war dann ein gutes Stück die Landstraße entlanggelaufen, bis er zu einem Coffeeshop kam, wo er zwei große Becher Kaffee und zwei Käsesandwiches kaufte und damit zum Auto zurückkehrte. Xenia war inzwischen erwacht und ausgestiegen, sie stand am Rande des Parkplatzes und blickte über das Meer. Von Weitem dachte Colin, dass sie wirklich unförmig aussah, und das weite, bodenlange Folklorekleid, mit dem sie ihre Pfunde zu verhüllen suchte, machte es auch nicht besser. Erst im Näherkommen sah man ihr hübsches Gesicht, die schönen großen Augen und ihre glänzenden dunklen Haare.
Fünfzehn Kilo weniger, dachte Colin, und sie wäre eine Schönheit.
Auf einer Bank über dem Meer sitzend, hatten sie einträchtig ihren Kaffee getrunken und ihre Brote gegessen, dann waren sie ein Stück langsam spazieren gegangen. Ihre Handys klingelten immer wieder, aber sie ignorierten es. Sie wussten, dass es Kate war, die anrief, und sie wussten auch, dass sie sich irgendwann würden melden müssen, aber für den Moment hätten sie nicht gewusst, was sie sagen sollten, und so entzogen sie sich ihren Vorwürfen. Colin konnte sich lebhaft vorstellen, wie Kate sein Verhalten beurteilen und welch deutliche Worte sie dafür finden würde, und fast zog er schon im Vorfeld unwillkürlich seinen Kopf ein. Aber er hing jetzt drin in dieser Geschichte. Er konnte Xenia nicht einfach im Stich lassen.
Später waren sie nach Whitby hineingefahren, hatten ein billiges Bed & Breakfast gefunden, das am Rande einer vielbefahrenen Straße lag und von erschlagender Trostlosigkeit war. Sie hatten zwei Zimmer gemietet, aber außer zum Schlafen konnte man sich dort keinesfalls aufhalten, deshalb flohen sie gleich wieder und saßen nun schon seit einer knappen Stunde in einem Pub am Hafen. Es war Mittagszeit, und nach und nach trudelten ein paar Leute ein, die in den Büros ringsum arbeiteten und hier ihren Lunch einnahmen. Xenia und Colin hatten einen Tisch am Fenster gewählt und sich Kaffee bringen lassen, jedoch nichts zum Essen. Beide hatten sie keinen Hunger.
Colin checkte mehrfach sein Handy. Inzwischen waren fünf Anrufe von Kate eingegangen, zweimal hatte sie auf die Mailbox gesprochen, zunehmend gereizt um einen Rückruf gebeten. Außerdem hatte sie inzwischen eine WhatsApp geschickt.
»Falls du mit Xenia unterwegs bist, melde dich bitte umgehend. Das ist kein Spaß. Und kein Abenteuerspiel. Ich muss wissen, wo sie sich aufhält!!«
Abenteuerspiel! Sie behandelte ihn leider oft wie ein Kind. Allerdings wurde es Colin zunehmend mulmig zumute. Er hatte sich da auf etwas eingelassen, was vielleicht eine Nummer zu groß für ihn war.
»Kate?«, fragte Xenia mit Blick auf sein Handy.
Er nickte. »Sie ist, glaube ich, ganz schön sauer. Sie will unbedingt wissen, wo du bist.«
»Woher weiß sie, dass du mit mir zusammen bist?«
Das hatte er sich auch schon gefragt, aber eigentlich war es keine Zauberei. »Ich hatte mein Kommen angekündigt. Und die Nachbarin hat mich wahrscheinlich gesehen, die sieht absolut alles. Kate kann eins und eins zusammenzählen. Sie weiß nicht sicher, dass ich mit dir zusammen bin, aber sie vermutet es, und die Tatsache, dass ich auf ihre Anrufe nicht reagiere, bestärkt sie wahrscheinlich.«
»Mich versucht sie auch zu erreichen.«
Er nickte. »Wir können das so nicht ewig durchziehen, Xenia. Das ist wirklich unfair gegenüber Kate. Und es könnte auch sein, dass wir uns strafbar machen.«
»Strafbar? Wir sind doch freie Menschen. Wir können überall zusammen hinfahren.«
»Ja, aber du bist Teil einer polizeilichen Ermittlung. Außerdem hat Kate dich aufgenommen und dir vertraut. Ich finde es einfach nicht besonders anständig, was wir hier gerade machen.«
»Nein«, gab Xenia zu.
Er lehnte sich vor. »Du hast versprochen, mir zu erklären, was los ist. Warum hast du Angst vor der Polizei? Was hat dein Mann gegen dich in der Hand?«
Sie blickte ausweichend zur Seite. »Das willst du gar nicht wissen.«
»Doch. Deshalb frage ich.«
»Warum sollte ich dir das erzählen? Ich kenne dich kaum.«
»Du bist mit mir zusammen aus Kates Haus geflohen. Du hast mich um Hilfe gebeten. Deinetwegen werde ich ganz schönen Ärger mit dem einzigen Menschen bekommen, den ich als Freund oder in diesem Fall als Freundin bezeichnen kann. Ich möchte zumindest wissen, warum ich das alles mache.«
Sie seufzte. Er konnte an ihrem Gesicht sehen, wie heftig sie mit sich rang.
Schließlich sagte sie leise. »In Ordnung. Aber es ist … es ist eine schreckliche Geschichte. Wahrscheinlich hasst du mich danach.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Colin.
Xenia blickte sich um. Niemand saß nah genug, um zuhören zu können. Dann holte sie tief Luft.
»Also …«, begann sie.
6
Kate wusste nicht genau, weshalb sie nach West Bromwich gefahren war, um sich das Haus anzusehen, in dem Sophia aufgewachsen war. Der Ort lag auf ihrem Weg nach Leeds, wo sie Jacob erneut aufsuchen und wegen der falschen Angaben, was die Agentur betraf, ansprechen wollte, und, einer Eingebung folgend, war sie abgebogen. Geoffrey hatte ihr die Adresse aus dem Gedächtnis genannt. Sein Gehirn arbeitete partiell sehr zuverlässig.
Kate hatte schon in der Zeit bei Scotland Yard die Angewohnheit gehabt, auch Orte, die bei einer Ermittlung auf den ersten Blick keine Relevanz hatten, aufzusuchen und atmosphärisch auf sich wirken zu lassen. Manchmal brachte das überhaupt nichts, aber ab und zu hatte es ihr ermöglicht, eine größere Nähe zu bestimmten Personen zu entwickeln, Menschen besser zu verstehen, ein Gefühl für ihr Leben zu bekommen. Ihr Chef damals hatte sie deswegen verspottet, zumal sie selten mit einer konkreten Erkenntnis zurückgekehrt war. Aber es veränderte etwas an ihrer Intuition, und Kate war in schwierigen Fällen häufig über intuitive Eingebungen weitergekommen oder hatte sogar den Durchbruch erzielt. Das hatte in ihrem Umfeld eher für Kopfschütteln und eine nur ziemlich widerstrebend bezeugte Anerkennung gesorgt.
Diesmal jedoch, als sie vor Sophias einstigem Elternhaus stand, musste sie zugeben, dass solche Besuche tatsächlich nicht immer etwas brachten. Genau wie der heutige Wohnsitz ihres Vaters lag auch dieses Haus, ein niedriges, sehr schmales Reihenhaus, in einer ärmlichen Gegend. Der Putz an der Fassade blätterte stellenweise ab, und die Dachrinne war durchgerostet und in der Mitte zerbrochen. Bei Regen musste das Wasser direkt vor den Fenstern hinunterlaufen, bei starkem Regen vermutlich fast wie ein Wasserfall.
Eines allerdings verriet das Haus Kate: Sophia hatte sich aus sehr kleinen Verhältnissen erstaunlich weit nach oben gearbeitet. Sie war alles andere als mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Sie musste in der Schule Ehrgeiz und Fleiß bewiesen haben, und sie hatte mit ihren Erfolgen im Sport gezeigt, zu wie viel Disziplin sie fähig war. Kate dachte an das hübsche Haus in Stainton Dale, in dem sie zuletzt gewohnt hatte, an ihre Beliebtheit bei Kollegen und Schülern. Sophia hatte eine Menge aus ihrem Leben gemacht, sie war, was in dieser Gegend auch leicht hätte passieren können, nicht in die Drogenszene abgerutscht oder in schlechte Gesellschaft geraten.
Schlechte Gesellschaft.
Ein Junge aus der Nachbarschaft, der sie geärgert hatte, ein anderer, der später in sie verliebt gewesen und womöglich etwas lästig geworden war. Ließ sich daraus etwas machen?
Das hilflose Greifen nach allem, dachte sie, auch nach noch so weit hergeholten Möglichkeiten, nach jeder Faser, wie absurd es auch sein mag … Das klassische Zeichen dafür, dass eine Ermittlung komplett im Dunklen tappt. Dass man sich durch den Nebel tastet. Ohne große Hoffnung.
Sie ging zum Auto zurück. Sie humpelte inzwischen leicht. Bei jeder etwas längeren Strecke fing das Bein mit der Schussverletzung an zu schmerzen. Wie eine Mahnung: Sie hatten es mit einem gefährlichen Täter zu tun. Sie würde jetzt erneut dem unsympathischen Jacob Paget auf die Pelle rücken. Er musste, verdammt noch mal, endlich erklären, wo er Xenia Paget wirklich kennengelernt hatte. Und weshalb er in diesem Punkt gelogen hatte.
Unterwegs versuchte sie noch mehrere Male, entweder Xenia oder Colin zu erreichen.
Mailbox. Immer nur die Mailbox.
Jacob Paget gab sich nicht mehr ganz so arrogant und überheblich wie am Vortag. Er war zu Hause, als Kate in Leeds ankam, er führte sie mürrisch in sein Wohnzimmer und knurrte: »Was denn jetzt noch?«
Als er erfuhr, worum es ging, knickte er etwas ein und wurde verlegen.
»Xenia Sidorowa war nie bei HappyEnd registriert«, sagte Kate. »Und die sind dort sehr gründlich und seriös.«
»Natürlich sind die seriös«, plusterte sich Jacob auf, »sonst hätte ich mich ja dort nicht angemeldet.«
Sie sah ihn mit unbewegter Miene an. »Wo haben Sie Ihre Frau kennengelernt, Mr. Paget?«
»Ist das wichtig?«
»Ja.«
Er fuchtelte mit beiden Armen. »Ich habe sie eben kennengelernt.«
»Wo, Mr. Paget? Offensichtlich nicht über die Agentur HappyEnd. Bei der Sie eifriger Kunde waren und etliche Kontaktversuche unternommen haben. Xenia Sidorowa jedoch gehörte definitiv nicht zu der Klientel.«
Er funkelte sie an. »Das habe ich kapiert!«
»Also?«
»Wir sind uns zufällig begegnet«, erklärte er schließlich widerwillig. »Ich mache ja die Hausverwaltung für eine Immobiliengesellschaft in Leeds, Bradford und York. In einem der Häuser …«
Er stockte.
»Ja?«, hakte Kate nach.
»Ein Neubau. Ich war dort für die Abnahme verschiedener Einbauten zuständig. Wir haben sie in einer Souterrainwohnung entdeckt. Sie kampierte auf einer Decke, hatte einen Gaskocher aufgebaut, hauste unter unsäglichen Umständen. Sie sah ziemlich verwahrlost aus. Die Leute von der Baufirma wollten gleich die Polizei rufen, aber ich sagte, das sollten sie mal bleiben lassen, ich würde mich um alles kümmern.«
Das konnte sich Kate nur zu gut vorstellen. Jacob, seit Langem auf der Suche nach einer Frau, hatte seine Chance vermutlich sofort erkannt. Eine Frau, die er buchstäblich aus der Gosse zog, die in ihm einen Retter sehen und ihm zu Dankbarkeit verpflichtet sein würde – was konnte er sich Besseres vorstellen? Freiwillig blieb keine Frau bei ihm, aber wenn eine nichts und niemand anderen als ihn hatte, sah die Lage gleich anders aus.
»Warum versteckte sie sich in dieser leeren Neubauwohnung?«, fragte Kate. »Und wann genau war das?«
»2006. Im Februar. Und sie versteckte sich nicht. Sie brauchte ein Dach über dem Kopf.«
»Was war geschehen? Wie war sie nach England gekommen? Offensichtlich hatte sie keine Arbeit?«
»Sie war mit einem Touristenvisum gekommen und dann geblieben. Sie wollte nicht zurück. Sie sah keine Perspektive in Russland.«
»Und was genau hat sie in England gemacht? Die Wohnsituation, die Sie geschildert haben, klingt nicht gerade nach einer wirklich gelungenen Alternative zu Russland.«
»Sie wusste nicht recht, was sie wollte. Außer, dass eine Rückkehr nach Russland nicht in Frage kam.«
»Sprach sie bereits Englisch?«
»Nicht so gut wie heute. Aber ganz okay.«
»Wovon lebte sie?«
Er zuckte mit den Schultern.
Gelegenheitsjobs, dachte Kate. Oder hatte sie gebettelt? Geklaut? Hat sie deshalb derart panische Angst vor der Polizei? Weil sie vielleicht vor über zehn Jahren ein paar Lebensmittel in Supermärkten hatte mitgehen lassen? Oder weil sie vorübergehend in einem unbewohnten Neubau illegal campiert hatte?
Das schien ihr ziemlich weit hergeholt. Xenia war nicht dumm. Sie würde sich von einem Mann wie Jacob nicht drangsalieren lassen, weil dieser derartige Lappalien über sie wusste.
»Weshalb«, fragte sie, »haben Sie mich und andere Beamte der Polizei über die Umstände Ihres Kennenlernens belogen?«
Er sah noch mürrischer drein als sonst. »Weil es besser klang. Weil ich nicht sagen wollte, dass ich meine Frau als eine Art Streunerin aus einer Rohbauwohnung gefischt habe.«
»Das glaube ich Ihnen nicht«, sagte Kate. »Ich glaube vielmehr, dass vorher etwas in Xenias Leben passiert ist, irgendetwas, das im Zusammenhang damit steht, dass sie derart den Boden unter den Füßen verloren hatte und mehr oder weniger auf der Straße lebte. Sie wissen davon. Sie haben deshalb versucht, die Umstände des Kennenlernens zu verschleiern. Ich bin sicher, Sie sagen auch jetzt keineswegs die ganze Wahrheit. Und Sie üben wegen dieser Geschichte damals, was immer das auch war, Druck auf Ihre Frau aus.«
Er verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen. »Das behaupten Sie einfach so!«
»Auf Ihre Frau wurde ein Mordanschlag verübt. Ich habe das hautnah miterlebt. Der Täter läuft noch immer frei herum. Wir wissen nichts über seine Identität. Wenn sich herausstellt, dass Sie von Dingen wussten, die damit in einem Zusammenhang stehen könnten, dann wird Ihr Schweigen als eine Behinderung der Polizeiarbeit gewertet. Damit machen Sie sich strafbar.«
»Was ich weiß, habe ich gesagt. Keine Ahnung, warum jemand auf Xenia geschossen hat. Vielleicht war es ein Russe, und es hat etwas mit ihrer Vorgeschichte zu tun.«
»Sie sind seit dreizehn Jahren mit Xenia zusammen. Sie hat Ihnen doch bestimmt einiges über ihre Vorgeschichte erzählt.«
»Nichts, weshalb ich denken würde, dass jemand sie ermorden will.«
Er würde nichts sagen. Kate war absolut sicher, dass er etwas wusste, aber Jacob Paget würde nichts preisgeben. Konnte sein, dass er Xenia wirklich in einer leeren Wohnung vorgefunden hatte, es konnte aber auch ganz anders sein. Die Frage war, wie weit Jacob selbst an irgendetwas Illegalem beteiligt war. Oder hatte er sich durch die lange Zeit der Mitwisserschaft zu sehr in etwas verstrickt, um jetzt noch offen sprechen zu können?
»Gut«, sagte sie, »Sie wollen nicht kooperieren. Vielleicht überlegen Sie es sich noch anders, es wäre von Vorteil für Sie. Sie können mich jederzeit anrufen.«
Sie hatte ihm ihre Karte schon beim letzten Besuch gegeben, reichte ihm jetzt jedoch eine zweite. Er nahm sie, legte sie wortlos auf den Tisch neben sich.
»Wann kommt meine Frau nach Hause?«
»Das müssen Sie Ihre Frau fragen«, sagte Kate und ging zur Haustür. Wie immer in der Nähe dieses Mannes fühlte sie nichts als den Wunsch, so schnell wie möglich zu verschwinden.
Wie hat Xenia das so lange ausgehalten?, fragte sie sich.
Irgendwann würde sie die Antwort bekommen.
Unsere Tochter Lena wurde im Mai 2003 geboren. Nach all dem, was Alice hinter sich hatte, verlief die Schwangerschaft erstaunlich problemlos. Es gab keinerlei Komplikationen, wie ich insgeheim gefürchtet hatte. Alice aber blieb all die Monate hindurch in einer schwermütigen Stimmung. Sie war endlich schwanger, aber es schien, als könne sie mittlerweile nicht wirklich an ein gutes Ende glauben.
»Wahrscheinlich geht es schief«, sagte sie ziemlich oft, und dabei starrte sie vor sich hin, in den Augen diesen Ausdruck von Verzweiflung, von dem ich so sehr gehofft hatte, dass er endlich verschwand. Sie ging zu ihren Untersuchungen, trank keinen Alkohol, ernährte sich vernünftig, ging viel spazieren. Sie kümmerte sich um Sascha, der im Herbst eingeschult werden sollte, ein Vorhaben, dem ich mit einiger Spannung entgegensah. Saschas geistige Retardierung wurde spürbarer, je älter er wurde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er in einer ganz normalen Schule würde mithalten können. Sein kleiner Kopf fiel verstärkt auf, außerdem der unstete Blick seiner Augen und ein ungewöhnlicher Zustand des In-sich-gekehrt-Seins. Er schien einerseits alles verstehen zu wollen, was um ihn herum geschah, denn seine Blicke flatterten hin und her, als wollten sie einfangen, was passierte, um dann in Ruhe darüber nachdenken zu können. Gleichzeitig aber schien er in sich hineinzuhören, so als suche er dort etwas, was er brauchte, um die Außenwelt zu begreifen. Manchmal sprach er stundenlang kein Wort. Dann sagte er plötzlich etwas, was im ersten Moment keinen Sinn machte, aber meist stellte sich heraus, dass es sich um einen durchaus klugen Kommentar zu einer Situation handelte, die einige Stunden zuvor bestanden hatte. Sein Wortschatz entsprach nicht ganz dem Durchschnitt, war aber auch nicht besorgniserregend gering. Sascha balancierte irgendwie auf einer seltsamen Linie zwischen Behinderung, Verzögerung und dann wieder einer überraschend ausgeprägten Intelligenz. Ich kam nicht hinter das Geheimnis seines Daseins. Neurologen und Psychologen auch nicht.
»Nehmen Sie ihn, wie er ist«, sagte einer der Ärzte. »Üben Sie keinen Druck auf ihn aus. Er entwickelt sich. Irgendwie. Lassen Sie ihm die Zeit, die er braucht.«
Lena kam zur Welt, und die ersten Untersuchungen gleich nach der Geburt ergaben, dass alles bei ihr in Ordnung war. Ich war tief erleichtert, obwohl es eigentlich auch gar keinen Grund zu der Befürchtung gegeben hatte, irgendetwas könne nicht stimmen. Auch während der ersten Wochen und Monate zeichnete sich ab, dass wir ein gesundes Kind hatten. Sie schrie nur sehr viel.
»Ein Schreikind«, sagte der Kinderarzt mitleidig, als wir ihn auf das Problem ansprachen. Er betrachtete unsere müden Gesichter, die tiefen Ringe unter unseren Augen. »Sie schlafen kaum, oder?«
Wir nickten beide. Lena brüllte halbe Nächte durch, und wir verbrachten Stunden damit, sie im Haus herumzutragen und beruhigend auf sie einzureden. Ohne den geringsten Erfolg. Irgendwann schlief sie dann ganz von selbst ein, wachte aber oft nach einer Stunde wieder auf und plärrte erneut. Wir waren so müde, dass wir zunehmend wie Gespenster aussahen. Ich wurde zweimal von meiner Sekretärin schlafend am Schreibtisch ertappt. Wenn ich abends nach Hause kam, taumelte Alice mir mehr entgegen, als dass sie lief.
Andererseits gab es auch entspannte Stunden. Ich kuschelte ganze Abende lang mit Lena auf dem Sofa. Sie strahlte mich an, und unwillkürlich musste ich auch lächeln. Sah man von ihren Schreiattacken ab, war sie ein fröhliches Baby. Und sie sah so hübsch aus. Eigentlich hatten sich unsere Träume erfüllt. Wir waren eine richtige vierköpfige Familie. Mit einem entwicklungsverzögerten Adoptivkind und einer gesunden Tochter, die ein bisschen viel schrie. Was absolut nicht ungewöhnlich war, wie der Kinderarzt beteuerte.
»Manche Kinder sind einfach so. Irgendwann ist das überstanden. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Im Januar des darauffolgenden Jahres, Lena war acht Monate alt, war die Kondition von uns allen an einem kritischen Punkt angelangt. Alice wirkte vollkommen überfordert. Der Schlafmangel, das Rotieren um das Baby, dazu Sascha, der zwar endlich in die Schule ging, aber natürlich mit den Schulaufgaben nicht zurechtkam. Alice versuchte, ihm beim Lesen und Schreiben zu helfen und gleichzeitig Lena irgendwie ruhig zu halten, und sie hatte zunehmend in ihrem Ausdruck und in ihren Bewegungen etwas von einem Roboter, der funktioniert, jedoch langsam den Bezug zu sich selbst verliert.
»Wir brauchen ein Kindermädchen«, sagte ich zu einem Kollegen, mit dem ich mich an einem verschneiten Januarabend auf ein Bier getroffen hatte, um den Zeitpunkt hinauszuzögern, da ich nach Hause gehen musste. Ich hatte natürlich ein schlechtes Gewissen deswegen. »Eine Nanny. Sie müsste bei uns wohnen und Alice rund um die Uhr entlasten.«
»Habt ihr denn genug Platz?«, fragte der Kollege.
»Wir haben noch das kleine Gästezimmer«, sagte ich zögernd. Eigentlich handelte es sich eher um eine Art Abstellkammer, gleich neben der Küche gelegen, aber immerhin mit einem Fenster. Bislang räumten wir alles dort hinein, wovon wir nicht wussten, wohin wir es tun sollten. »Vielleicht neun Quadratmeter.«
»Das ist nicht viel«, sagte der Kollege. »Und eine Nanny rund um die Uhr … Das ist teuer. Sehr teuer.«
Ich seufzte. Ich fragte mich, ob überhaupt irgendein englisches Mädchen in diese Kammer in unserem abseits gelegenen Haus einziehen würde. Es gab nicht einmal eine Heizung darin, der Raum wurde allerdings einigermaßen von der Küche aus mitgeheizt und war, weil er so klein war, erträglich warm. Dennoch schien das alles absolut nicht optimal.
»Du müsstest jemanden aus dem Ausland einstellen«, sagte mein Kollege. »Aus dem Osten. Die sind viel anspruchsloser.«
Ich überlegte. Der Gedanke war nicht dumm. Ich hatte nicht viel Geld zur Verfügung. Ich ernährte ganz alleine eine vierköpfige Familie, und der Stress machte auch vor mir nicht halt. Ich fand keine Kraft, neue Klienten aktiv zu akquirieren, wie ich das früher immer wieder getan hatte. Dazu gehörte auch die Teilnahme an einem gesellschaftlichen Leben, und dazu fehlte mir inzwischen jegliche Energie. Es stand nicht besorgniserregend schlecht um unsere Finanzen, noch nicht, aber zu verschenken hatten wir, weiß Gott, auch nichts.
»Ihr habt euren Sohn doch aus Russland«, meinte der Kollege. »Gibt es da noch Kontakte?«
»Zu der Dolmetscherin. Sie hat uns ja während des Adoptionsverfahrens und auch in der Verhandlung begleitet. Wir schreiben uns E-Mails zu Weihnachten. Mehr ist da nicht.«
»Frag sie doch mal. Vielleicht kennt sie jemanden, der Lust auf einen solchen Job bei euch hat. Für sie wie für euch könnte das funktionieren. Eine klare Win-win-Situation.«
Ich war noch nicht überzeugt – wollte ich wirklich eine Fremde bei uns wohnen haben?
Aber dann kam ich spät am Abend nach Hause und fand Alice mit Lena im Arm auf dem Sofa im Wohnzimmer vor. Beide schliefen, erfreulicherweise auch Lena. Ich betrachtete Alice. Ihr Kopf war an die Sofalehne gesunken. Sie atmete tief und gleichmäßig. Ich konnte die bläulichen Schatten unter ihren Augen sehen, die Wangenknochen, die spitz emporstachen. Alice hatte ungesund viel Gewicht verloren seit der Geburt unserer Tochter. Dass sie zu schnell zu viel abnahm, war mir zwar schon die ganze Zeit über aufgefallen, aber erstmals erkannte ich jetzt, wie abgemagert sie tatsächlich war. Sie sah erbärmlich aus. Die vielen Versuche einer künstlichen Befruchtung, das Adoptionsverfahren, die Probleme mit Sascha, die Sorgen, die sie sich seinetwegen machte … Alice lief seit Langem schon nur noch auf Reserve. Sollte sie nicht in einen dramatischen Burn-out stürzen, musste ich die Notbremse ziehen.
Gleich am nächsten Morgen im Büro schrieb ich eine E-Mail an Tatjana, unsere Dolmetscherin im fernen Kirov. Ich schilderte unsere Situation und fragte, ob sie vielleicht jemanden kannte, der jemanden kannte, der …
Sie antwortete am Abend desselben Tages. Sie habe eine Freundin, schrieb sie. Schon lange spiele diese mit dem Gedanken, Russland zu verlassen und in den Westen zu gehen, aber bisher habe sie noch keinen rechten Weg für sich gesehen. Mit ihr wolle sie sprechen.
Es vergingen drei Tage. Dann hatte ich eines Morgens erneut eine Mail von Tatjana im Postfach.
Die Freundin sei begeistert. Lieber heute als morgen. Sie liebe Kinder und sei sich auch sonst für keine Arbeit zu schade. Wir müssten nun nur noch das genaue Procedere abstimmen.
Und so trat Xenia Sidorowa in unser Leben.