Sonntag, 4. August
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Der Tag war so langsam verstrichen, als habe irgendwo jemand beschlossen, dass die Zeit von nun an eingefroren würde, dass sie sich für eine Weile nicht bewegen sollte. Caleb Hale hatte die Wände seines Wohnzimmers angestarrt und sich gefragt, ob er jemals einen sich so quälend und endlos hinziehenden Tag erlebt hatte. Seit seiner Suspendierung war ihm oft die Zeit lang geworden, sein Alltag hatte die Struktur verloren, es war inzwischen egal, wann er morgens aufstand und ob er es überhaupt tat. Es war egal, ob er aß und trank, wann er schlafen ging, ob er duschte, sich rasierte, sich anzog oder ob er einfach den ganzen Tag über in Unterhose und T-Shirt am Wohnzimmertisch saß und vor sich hin starrte. Manchmal, wenn Fußballspiele oder Formel-1-Rennen stattfanden, ließ er den Fernseher laufen. Dann gab es wenigstens Stimmen um ihn herum. Aber wirklich besser hatte er sich damit auch nicht gefühlt.
An diesem Tag war alles anders.
Caleb war noch immer gut vernetzt bei der North Yorkshire Police, er war immer sehr beliebt gewesen, und nicht wenige fanden, dass seine Suspendierung ein mehr als ungerechter Akt war. Caleb wusste inzwischen, dass sogar einige Polizisten, die bei dem tragischen Einsatz in der Nordbucht dabei gewesen waren, geschlossen den Chief Superintendent aufgesucht und Protest gegen die Suspendierung eingelegt hatten. Zwei von ihnen hatten nahe genug bei ihm gestanden, um das Telefonat, das Caleb mit dem durchgeknallten Jayden White geführt hatte, mithören zu können, und sie hatten übereinstimmend bezeugt, dass der Chef absolut vorschriftsmäßig vorgegangen war und keinen Fehler gemacht hatte. Die Situation sei aussichtslos gewesen, und daran trage Caleb keine Schuld. Genützt hatte es nichts: Gegen 0,7 Promille war nicht anzureden.
Noch in der vergangenen Nacht hatten ihn ehemalige Kollegen angerufen und ihm berichtet, dass Robert Stewart tot war, erschossen von einem Schwerkriminellen, dass der Täter flüchtig und Kate Linville, die vermutlich neben Stewart gestanden hatte, als er erschossen wurde, spurlos verschwunden war.
Caleb hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan.
Robert Stewart tot.
Er hatte sich von ihm verraten gefühlt, völlig unerwartet angegriffen und ausgebootet, und er erinnerte sich nur zu gut an den Moment, als er begriffen hatte, wer
ihn angeschwärzt hatte. Ein Mensch, von dem er es nie im Leben erwartet hätte. Fast zwei Jahrzehnte engste Zusammenarbeit – in einem Beruf, in dem unbedingte wechselseitige Verlässlichkeit die wichtigste Grundlage darstellte. Seine Sicherheit, seine Unversehrtheit hatte auch von Robert abgehangen, und die von Robert von ihm. Ohne Vertrauen in den anderen wäre die Tätigkeit nicht auszuüben gewesen.
Dieses Vertrauen hatte Robert zerstört, als er ihn beim Chief Superintendenten gemeldet hatte.
Und dennoch gab es die Jahre des Vertrauens davor, das gemeinsame Bewältigen schwieriger und gefährlicher Situationen, Momente, in denen sie einander nur angesehen und gewusst hatten, was der andere dachte, wortlose Verständigung und Übereinstimmung. Das hundertprozentige Wissen, dass der andere da war, auch in den kritischsten Momenten.
Caleb Hale trauerte. Trotz allem, was am Ende passiert war. Er trauerte um seinen Partner, während er zugleich das Gefühl hatte, in einem bösen Traum zu stecken. Robert Stewart erschossen. Einfach abgeknallt, auf einer Treppe in einem Mietshaus am Stadtrand von Leeds. Es war unfassbar. Es konnte nicht wahr sein. Und doch wusste er, dass er nicht träumte.
Hinzu kam, dass er sich eine stille Trauer, ein sich Zurückziehen in den Schmerz, nicht erlauben konnte. Seine Gedanken rasten wie wild in seinem Kopf: Was war mit Kate geschehen?
Verschwunden. Spurlos. Kurz zuvor hatte sie noch mit der Dienststelle telefoniert und angekündigt, dass sie und Robert von Birmingham kommend zu einer Befragung nach Leeds unterwegs waren.
Man hatte das ganze Haus durchsucht, jede einzelne Wohnung, in der Hoffnung, Kate habe sich irgendwohin geflüchtet, sich in Sicherheit gebracht, als plötzlich geschossen worden war. Aber nirgends war sie zu finden gewesen. Nicht im Keller, wo man auf ihr kaputtes Handy gestoßen war, nicht auf dem Dachboden, nicht im Garten, nicht in den umliegenden Gärten und Häusern. Es kristallisierte sich tatsächlich immer schärfer die einzige naheliegende Möglichkeit heraus: dass der flüchtige Kriminelle – Ian Slade war sein Name – Kate mitgenommen hatte.
Das bedeutete, Kate befand sich in den Händen eines Psychopathen, eines irren Killers, für den ein Menschenleben keinen Wert besaß. Eine Art Worst-Case-Szenario, bei dem das Allerschlimmste war: die Hilflosigkeit. Kate und ihr Entführer konnten überall sein. Irgendwo in der Nacht. Irgendwo im ersten Licht des heraufdämmernden Tages. Irgendwo in den Stunden dieses quälend dahinschleichenden Sonntags.
Es zerriss Caleb fast, dass er nichts tun konnte. Dass er hier saß.
Dass er nicht länger im Dienst war. Was immer geschah: Er war nicht dabei. Er wusste nicht, was passierte. Ob das Richtige passierte. Der Ermittlungsleiter des Falles war tot, damit derjenige, der die Fäden in den Händen gehalten hatte. Nicht allzu geschickt, wie Kate angedeutet hatte. Aber immerhin. Caleb ahnte, dass im Präsidium nun alle wie aufgescheuchte Hühner herumliefen und gleichzeitig versuchen mussten, sich die Zusammenhänge überhaupt erst einmal wirklich klarzumachen.
Ein Alptraum. Denn Kates Uhr tickte. Unerbittlich.
Den ganzen Tag über widerstand Caleb. Der Flasche. Er hatte den Whisky vor sich auf dem Tisch stehen, er starrte die goldfarbene Flüssigkeit an. Sie versprach Rettung, wenn es unerträglich wurde, sie versprach Umnebelung, Vergessen, ein Abdriften in Gefilde, in denen die Welt an Schärfe und Schrecklichkeit verlor. Aber er würde nur im Notfall davon Gebrauch machen. Zum ersten Mal seit Langem war es ihm wieder wichtig, einen klaren Kopf zu haben.
Er musste präsent sein, wach, glasklar in seinen Gedanken. Er musste Kate helfen. Er wusste nur nicht, wie er das anstellen sollte.
Wahrscheinlich nicht, indem er fast vierundzwanzig Stunden lang an seinem Esstisch saß und eine Flasche betrachtete.
Er stand auf, als die Abenddämmerung kam. Im Spiegel, der an der Wand gegenüber dem Esstisch hing, sah er sich und erschrak. Wahrscheinlich sah er seit vielen Tagen so aus, aber zum ersten Mal betrachtete er sich vollkommen nüchtern. Er sah einen hohlwangigen Mann mit geröteten Augen, struppigen, zu langen Haaren. Graue Bartstoppeln bedeckten sein Gesicht. Er trug ein fleckiges T-Shirt, unter den Ärmeln verliefen dunkle Schweißränder.
Er sah kaputt aus. Und alt. Und absolut nicht wie der Held, der Kate Linville retten würde.
Er zuckte heftig zusammen, als es an seiner Haustür klingelte.
Am liebsten hätte er so getan, als wäre er nicht daheim, aber vielleicht entging ihm dann irgendeine wichtige Information.
Er schlurfte zur Tür – irgendwie fühlten sich seine Gelenke wie eingerostet an – und öffnete. Vor ihm stand Sergeant Helen Bennett. Sie sah erschöpft und mitgenommen aus.
»Guten Abend, Chef«, sagte sie. »Ich muss mit jemandem reden. Haben Sie Zeit?«
»Kommen Sie rein.« Er ging voraus zum Wohnzimmer. Es war ihm peinlich, in welchem Zustand Helen ihn antraf. Verdreckt und verwahrlost. Immerhin nicht betrunken. Er hätte gewettet, dass sie genau davor Angst gehabt hatte und dass sie nun innerlich erleichtert aufatmete. Er lallte und schwankte nicht. Hoffentlich war sie deshalb bereit, über sein unmögliches Äußeres hinwegzusehen.
»Irgendeine Spur von Kate?«, fragte er.
Sie standen einander im Wohnzimmer gegenüber. »Nein«, sagte Helen. »Es ist … es geht nichts voran. Ich habe Angst.«
Er wies auf den Esstisch. »Setzen Sie sich doch. Ich habe leider praktisch nichts im Haus. Selbst der Kaffee ist aus. Ich kann Ihnen nichts anbieten.«
»Kein Problem«, versicherte Helen. Sie nahm am Tisch Platz. Er konnte erkennen, dass sie angestrengt an der Whiskyflasche vorbeischaute, so tat, als sähe sie sie nicht. Unablässig knetete sie die Finger ihrer Hände ineinander.
»Sie wissen, dass DI Stewart tot ist?«, fragte sie leise.
Caleb nickte. Der Satz dröhnte geradezu in seinem Kopf. DI
Stewart ist tot.
Das Unaussprechliche ausgesprochen.
»Ich kann es nicht fassen«, sagte er.
Helens Augen waren erfüllt von Schmerz. »Ich auch nicht. Es ist absolut unwirklich.«
Caleb setzte sich an den Tisch. »Wie ist der Stand der Dinge?«, fragte er, bemüht sachlich. »Ich bin mit den Grundstrukturen des Falles vertraut. Und ich weiß, was in Leeds passiert ist. Dass es sich um zwei Täter handelt. Einer ist tot. Der andere flüchtig.«
Helen nickte. »Ian Slade, mit hoher Wahrscheinlichkeit der Mörder von DI Stewart, hat seinen Kumpel Sascha Walsh erschossen, ehe er die Flucht antrat. Wahrscheinlich, um zu verhindern, dass dieser gegenüber der Polizei eine Aussage macht. Sascha Walsh ist geistig retardiert. Sowohl nach Aussagen von Xenia Paget, die früher sein Kindermädchen war. Und nach der Aussage des Leiters eines staatlichen Erziehungsheimes, in dem Walsh über dreizehn Jahre verbracht hat. Es ist stark anzunehmen, dass er Slades Werkzeug war und nichts von dem, was passiert ist, wirklich wollte.«
»Dann haben Walsh und Slade sich also in dem Heim kennengelernt«, folgerte Caleb. Er hatte damals auf ein Gefängnis getippt. Erziehungsheim war nicht so weit davon entfernt.
Helen nickte. »Ich habe gleich gestern noch mit dem Heimleiter telefoniert. Kate und DI Stewart waren ja bei ihm wegen Ian Slade, aber erst hinterher haben sie von Sascha Walsh erfahren. Tatsächlich waren die beiden in einer Gruppe. Dass sie spezielle Freunde waren, ist niemandem dort aufgefallen, aber Ian Slade war wohl sowieso jemand, dem alle nachliefen. Aus Angst. Es war wichtig, sich mit ihm gutzustellen.«
»Verstehe. Und was war Slades Motiv?«
Helen berichtete von der Geschichte mit dem kleinen Mädchen und dass Kate vermutete, bei der anonymen Anruferin habe es sich um Sophia Lewis gehandelt. »Sie war verantwortlich dafür, dass Ian in ein Erziehungsheim musste.«
»Er wusste, dass sie die Anruferin war?«
Helen zuckte mit den Schultern. »Wenn unsere Theorie stimmt, wusste er es offenbar.«
»Und Walsh?«
»Sascha Walsh ist das russische Adoptivkind der Familie Walsh. Oliver und Alice. Sie haben ihn adoptiert, weil sie keine Kinder bekommen konnten.«
Helen schilderte Caleb so knapp und präzise wie möglich die tragischen Ereignisse, die sich nach der Adoption in der Familie Walsh zugetragen hatten bis zu dem Tod der kleinen Lena.
»Die Tat wurde Sascha in die Schuhe geschoben«, sagte Helen. »Er war ein Kind, damals fast sieben Jahre alt. Stark entwicklungsverzögert oder sogar leicht geistig behindert. Natürlich nicht schuldfähig.«
Caleb starrte sie an. »Das ist wirklich …«
»Ja. Er war völlig wehrlos. Man konnte ihm alles einreden, also glaubte er es wohl selbst. Polizei, Gericht und Jugendamt zweifelten die Darstellung nicht an. Kann sein, dass Sascha sogar geständig war, das muss ich noch klären. Auf jeden Fall kam er ins Heim.«
»Rache«, sagte Caleb. »Das Motiv bei beiden jungen Männern.«
»Ich habe lange mit Xenia Paget gesprochen«, erklärte Helen. »Sie hält es für ausgeschlossen, dass Sascha von echten Rachegedanken beseelt war. Er ist wohl wieder benutzt worden. Von Ian Slade. Der brauchte einen Komplizen, weil er so besser und viel verwirrender agieren konnte. Er hat Sascha eingeredet, er müsse alle zur Rechenschaft ziehen, die damals beteiligt waren. Hat es aber hauptsächlich selbst in die Hand genommen. Er war der Schütze aus dem Zug. Xenia hat ihn erkannt.«
»Die Beteiligten damals«, sagte Caleb, »sind Xenia Paget, Oliver Walsh und seine Frau Alice?«
»Ja. Oliver Walsh und Xenia sind im Moment im Krankenhaus in Leeds. Sie haben Polizeischutz. Oliver und Alice Walsh sind seit Jahren geschieden. Wir versuchen, Alice ausfindig zu machen.«
»Sie ist ebenfalls in Gefahr.«
»Ja. Natürlich.«
»Und Slade hat Sophia Lewis in seiner Gewalt. Und Kate.«
»Ja.«
»Verdammt«, sagte Caleb. Er überlegte. »Er muss ein Auto haben, oder? Anders wäre er da in Leeds nicht weggekommen.«
»Ian Slade ist mit den Papieren und unter der Identität eines gewissen Jack Gregory
aufgetreten. Ein Student aus Manchester, der seit einem Jahr spurlos verschwunden ist. Auch sein Auto ist nie wiederaufgetaucht. Also ist anzunehmen, dass …«
»Slade in Gregorys Auto unterwegs ist.«
»Es läuft eine Fahndung nach dem Wagen. Ein Ford Transit.«
Caleb rieb sich die schmerzenden Schläfen. »Er muss ein Versteck haben. Er muss irgendwo ein Versteck haben, wohin er Sophia Lewis gebracht hat. Und wohin er jetzt Kate bringt. Wenn er …«
»… beide überhaupt am Leben gelassen hat bisher«, vollendete Helen mit düsterer Miene.
Sie sahen einander an. »Unvorstellbar«, sagte Caleb leise. »Unvorstellbar, dass Kate …«
»Wir müssen davon ausgehen, dass sie lebt«, sagte Helen. »Wir müssen.
Nur dann tun wir das Richtige zu ihrer Rettung.«
Das Richtige tun. Überhaupt etwas tun. Wo war der Ansatz?
»Es waren Kollegen in dem früheren Haus der Familie Slade in Bromwich«, erklärte Helen, »und in dem der Familie Walsh nahe Nottingham. Immerhin wäre es eine vage Möglichkeit gewesen, dass es sich um möglicherweise leer stehende Gebäude handelt, die nun als Rückzugsort dienen könnten. Aber leider Fehlanzeige. Im Haus der Slades wohnt inzwischen ein älteres Ehepaar, das den Namen Slade noch nie gehört hat. Die Slades sind vor vielen Jahren weggezogen, niemand weiß, wohin. Und bei den Walshs lebt eine alleinerziehende Frau mit ihren zwei Kindern, auch ohne Kenntnis über die früheren Bewohner. Die Beamten sagten, in beiden Fällen seien sie auf glaubwürdige Ahnungslosigkeit gestoßen und auf das leichte Erschrecken, das das plötzliche Erscheinen von Polizisten immer auslöst. Aber beide Häuser kommen für Slade nicht infrage.«
»Es gibt einen Ort«, sagte Caleb. Er ballte die rechte Hand zur Faust. »Verdammt, er gondelt nicht einfach in der Gegend herum, mit inzwischen zwei
entführten Frauen im Auto, eine davon in hochkritischem gesundheitlichem Zustand. Es gibt einen bestimmten Ort, und Sascha Walsh kannte ihn, und das ist der Grund, weshalb er sterben musste.«
»Das Schlimme ist, dass unsere Abteilung inzwischen so ausgedünnt ist«, sagte Helen. »Sie sind suspendiert. Der leitende Ermittler ist tot. Seine engste Mitarbeiterin verschleppt. Natürlich wird jetzt eine Sonderkommission gebildet, aber das sind alles Kollegen, die mit den Details erst noch vertraut gemacht werden müssen. Ich fühle mich so hilflos. Und das Schlimmste ist, ich habe das Gefühl, dass wir keine Zeit mehr haben. Vielleicht leben Kate und Sophia noch. Aber er wird sie nicht am Leben lassen. Er kann es gar nicht.«
»Helen, ich kann so wenig tun. Ich bin nicht befugt, etwas zu tun.« Aber während er das sagte, musste er intensiv an Kate denken. In zwei Fällen hier in Scarborough hatte sie eigenmächtig ermittelt, ohne jede Befugnis, und es war ihr völlig gleichgültig gewesen. Im ersten Fall war es um ihren Vater gegangen, der nachts in seinem eigenen Haus überfallen und besonders grausam ermordet worden war. Sie hatte sich einen Dreck darum geschert, dass sie bei allen möglichen anderen Menschen deswegen aneckte, allen voran bei ihm, Caleb. Jemand hatte ihren Vater getötet. Man hätte sie fesseln und anketten müssen, um sie daran zu hindern, seinen Mörder zu suchen und zu überführen.
Jetzt steckte Caleb in einer vergleichbaren Situation und erwog ernsthaft, den Schwanz einzuziehen und sich den Bestimmungen unterzuordnen? Sollten er und Kate sich je wieder gegenüberstehen – was würde sie von ihm denken?
Helen erhob sich. Ihre Bewegungen wirkten müde, ihr Gesichtsausdruck verriet ihre Verstörtheit und ihren Kummer. Kates ungewisses Schicksal bedrückte sie, aber sie kannte Kate noch nicht lange. Es war sicher der Tod Robert Stewarts, der ihr am meisten zu schaffen machte. Auch sie hatte jahrelang mit ihm zusammengearbeitet. Genau wie Caleb konnte sie noch nicht wirklich fassen, was passiert war.
»Tut mir leid, Chef«, sagte sie, »ich weiß ja, dass Sie nichts tun können. Nichts tun dürfen. Ich musste nur mit jemandem reden, ich dachte, ich werde sonst wahnsinnig.«
Auch Caleb stand auf, begleitete Helen zur Tür. »Ich bin mit im Boot«, sagte er. »Ich weiß noch nicht, wie, aber ich bin dabei. Irgendwie.«
Sie sah ihn fragend an. Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe noch keinen Plan. Aber irgendetwas wird mir einfallen.«
Zum ersten Mal an diesem Abend war so etwas wie der Anflug eines Lächelns auf Helens Gesicht zu sehen. »Ich weiß«, sagte sie leise, »irgendetwas ist Ihnen eigentlich immer eingefallen.«
Das war ein Vertrauensvorschuss, der Caleb schon fast wieder überforderte. Dennoch sagte er: »Ja. So ist es. Und deshalb wird es auch jetzt so sein.«
Selbst wenn das Kate konkret noch nichts brachte, tat er dennoch ein paar wichtige Dinge, nachdem Helen gegangen war. Er ging hinauf in sein Bad, duschte lange und ausgiebig. Rasierte sich. Zog saubere Sachen an, stopfte alle seine verdreckten Klamotten in die Waschmaschine. Er würde an diesem Abend nichts mehr unternehmen können, aber es brachte ihm ein Gefühl von Kraft und Selbstvertrauen zurück, sich wieder in einen Menschen zurückzuverwandeln. Nicht länger eine vegetierende Hülle zu sein.
Er ging ins Wohnzimmer hinunter, nahm die Flasche vom Tisch und kippte den Whisky in den Ausguss in der Spüle. Der Geruch des Alkohols ließ ihn schwindelig werden. Gott, wie er sich danach sehnte. Überall an seinem nach Seife duftenden frisch gewaschenen Körper brach der Schweiß aus. Er sah der goldgelben Flüssigkeit nach, wie sie leise gluckernd verschwand.
Er atmete tief durch.
Kate brauchte ihn jetzt nüchtern. Sie brauchte hundert Prozent seines Verstandes und seiner Einsatzfähigkeit.
Und sie hatte es verdient, dass er nicht einmal einen Fingerbreit unterhalb seiner Fähigkeiten blieb.