PICKEL NIE AUSDRÜCKEN!

image

 

»Aaauuuaaahhh!«, heulte Dirk. »Das tut sooo weh!«

Die Badezimmertür wurde aufgestoßen und Dirks Pflegebruder Christopher streckte den Kopf herein, schiere Panik im Gesicht. Chris war blauäugig und blond und hätte eigentlich fast als Engel durchgehen können, wenn da nicht die brandrote Narbe gewesen wäre, die sich quer über eine Wange zog.

»Alles okay bei dir, Dirk?«, fragte er besorgt. Dirk drehte sich mit wehleidiger Miene zu ihm um.

»Es geht mir so auf den Geist, ein Menschlingskind zu sein!«, klagte er. »Pickel ausdrücken tut ja so was von weh!«

»Ach du Ärmster!«, spottete Chris. »Ja, klar, das tut weh, stimmt. Aber vielleicht doch nicht so sehr, wie sich die Wange von einem vier Meter großen, bösartigen, gehörnten Dark Lord aufreißen zu lassen, oder?«

Dirk wandte sich wieder ab – er mochte Chris nicht in die Augen sehen. Für einen Moment sah er sogar so aus, als wollte er sich … äh, na ja, entschuldigen. Ausgeschlossen! Niemals würde ein Dark Lord zugeben, dass ihm irgendetwas leidtat. Stattdessen starrte er sein Spiegelbild mit gerunzelter Stirn an und sagte: »Das willst du mir also jedes Mal vorwerfen, sobald wir nur mal kurz miteinander reden, Christopher? Ich bin jetzt nicht mehr … dieses Ding. Ich bin nicht so. Und überhaupt: Ich war das gar nicht!«

»Ich war's nicht! Ich war's nicht!«, höhnte Christopher, während er an der Narbe herumfingerte. »Das ist doch immer deine Ausrede, ob es stimmt oder nicht!«

Wieder wandte sich Dirk zu ihm um und schaute ihn wütend an. »In diesem Ton redest du nicht mit mir! Ich bin kein spießiger kleiner Schuljunge, der ständig Ausreden erfindet, nur weil er Angst vor dem Nachsitzen hat. Ich bin Dirk der Große und in Zukunft wirst du mich mit der Achtung ansprechen, die mir zusteht!«

Christopher verdrehte die Augen, stöhnte »Oooh nein, nicht schon wieder!« und knallte die Tür zu.

Dirk drehte sich wieder zum Spiegel um und studierte das wütende Gesicht, das ihn daraus anstarrte. Und auf einmal sah er dort im Spiegel nicht mehr einen etwas dicklichen Jungen mit dunklen Augen, sondern einen riesigen knochigen Schädel mit Reißzähnen und Hörnern, das Gesicht des Bösen selbst. Aber es verschwand sofort wieder, so schnell, dass Dirk nicht einmal sicher war, ob er es überhaupt gesehen hatte. Vielleicht hatte er es sich nur eingebildet. Er zuckte die Schultern.

»Was kann ein Dark Lord denn schon machen …?«, murmelte er leise vor sich hin, während er sich vorbeugte, die Finger an den lästigen Pickel mit dem schwarzen Punkt legte und sich daranmachte, das hässliche Geschwür auszudrücken.

Schmerzerfüllt verzog er das Gesicht. »Sollte wirklich mal überlegen, ob ich Pickelausdrücken nicht als neue Foltermethode in den Verliesen des Verderbens einführe«, murmelte er weiter.

Plötzlich war ein ekelhaftes Geräusch zu hören, als der Pickel aufplatzte und der Eiter gegen das Spiegelglas klatschte. Dirk rümpfte angewidert die Nase. Wie eklig Menschlingskinder doch waren! Aber dann …

»He, warte mal, das ist doch gar kein Eiter!«, sagte Dirk laut. Und es war auch keiner. Das Zeug war schwarz und glänzte ölig. Und zu seinem Erstaunen bewegte es sich … die Spritzer schleimten sich langsam an einer Stelle zusammen … bis sie einen einzigen glänzenden Tropfen wie aus ebenholzschwarzem Quecksilber bildeten, der wie ein schmarotzendes Ei am Spiegel klebte.

»Essenz des Bösen!«, flüsterte Dirk und starrte den Tropfen fasziniert an. Er konnte mit dem Anstarren gar nicht mehr aufhören. Schließlich streckte er die Hand nach dem glitzernden schwarzen Klecks aus.

Essenz des Bösen! Dann ist also noch ein bisschen davon in mir übrig geblieben, dachte Dirk, aus der Zeit, als ich ein Dark Lord war. Das war ich immerhin – ein ruhmreicher, mächtiger, allmächtiger Dunkler Lord, der mit Zaubersprüchen nur so um sich warf, der Oberbefehlshaber ganzer Armeen von Orks und Goblins und der Herrscher über die Darklands!

image

Seine Hand erstarrte mitten in der Bewegung.

Aber auch egoistisch, grausam, herzlos. Sogar durch und durch widerwärtig, könnte man sagen.

Dirk blinzelte und wachte aus seiner Tagträumerei auf. Nie wieder wollte er dieses Wesen sein. Als Dunkler Lord hatte er seine eigenen Freunde in den Kerker geworfen und hätte sie beinahe vernichtet. Seine Freunde – oder Lakaien und Speichellecker, wie er sie lieber nannte, obwohl er im Grunde seines Herzens wusste, dass sie wirklich seine Freunde waren – waren alles, was er in dieser seltsamen Welt hatte. Und genau genommen auch alles, was er in den Darklands hatte. Er würde es einfach nicht ertragen können, sie zu verlieren, jetzt erst recht nicht, da er wieder Dirk Lloyd, der Menschlingsjunge, war.

Mit einem besonders starken magischen Kristall – einem Anathema-Kristall – hatten es seine Freunde geschafft, sie alle zurück auf die Erde zu bringen, wobei Dirk wieder in einen Jungen verwandelt und die Essenz des Bösen aus ihm herausgesogen worden war. Chris hatte den schwarzen Schleim mit einem Fläschchen aufgenommen und das Zeug irgendwo versteckt, sodass es Dirk nie mehr in die Hände fallen konnte. Und genau das war auch Dirks eigener Wunsch: Er wollte nicht wissen, wo es war, damit er nicht mehr in Versuchung kam, es zu benutzen. Dieses Mal hatte er seine Entscheidung getroffen – in Zukunft wollte er nur noch Dirk, der Junge, sein, der hier in der heutigen, modernen Welt lebte, Freunde hatte und zur Schule ging, ganz normal, wie jeder andere auch. Na gut, jedenfalls vorerst. Vielleicht würde er auch irgendwann wieder in die Darklands zurückkehren und dort wohnen bleiben – er war sich noch nicht sicher. Am wichtigsten war, dass er beschlossen hatte, Dirk zu bleiben. Aber nicht irgendein gewöhnlicher Dirk, bitte schön. Oh nein! Er würde Dirk der Große sein. Das war doch wohl selbstverständlich!

Dirk legte nachdenklich die Hand an sein Kinn. Alles schön und gut, aber was sollte er nun mit dem Klecks Essenz des Bösen aus dem Pickel machen? Zwar war das nicht sehr viel, was da am Spiegel klebte, wahrscheinlich würde es nicht mal ausreichen, um aus jemandem einen auch nur halbwegs bösen Schurken zu machen, aber trotzdem war das Zeug gefährlich. Er würde es wohl irgendwo aufbewahren müssen, bis er sich überlegt hatte, was er damit machen sollte.

Sein Blick fiel auf einen kleinen Behälter, der auf dem Regal vor dem Spiegel lag. Darin bewahrte seine Pflegemutter, Mrs Hilary Purjoy, ihre Kontaktlinsen auf. Ohne lange darüber nachzudenken, nahm Dirk den kleinen Behälter und warf die Kontaktlinsen kurzerhand in den Abfalleimer. Damit seine Hände nicht in Berührung mit der Essenz kamen, benutzte er den kleinen Schraubverschluss, um die gelartige Essenz vom Spiegel zu schaben und in den Behälter zu füllen. Dann schraubte er den Verschluss sehr fest zu, steckte den Behälter in eine Tasche seines schwarzen, mit grinsenden Totenschädeln bedruckten Morgenmantels, den er über seinem mit dem Sensenmann-Logo der Rockband Grim Reaper verzierten Pyjama trug, und verließ das Bad.

Entschlossenen Schrittes kehrte er in sein Zimmer zurück (eigentlich lief Dirk fast immer mit entschlossenen Schritten herum). Das Fenster stand offen und auf dem Sims hockte ein glänzender kohlrabenschwarzer Vogel und krächzte ihn an.

»Oh, hallo, Dave, wie geht's?«, begrüßte ihn Dirk. Dave die Sturmkrähe war eigentlich nur ein ganz gewöhnlicher Spatz, aber nachdem er ein bisschen von der Essenz des Bösen genascht hatte, war er in eine Sturmkrähe verwandelt worden und sah nun mit seinen rot leuchtenden Augen und den schwarzen Federn wie ein wahrer Vorbote des Unheils aus. Der Vogel hüpfte auf Dirks Schulter und Dirk streichelte geistesabwesend Daves schöne, glänzende Federn. Na ja, Dirk jedenfalls hielt sie für schön, aber andere Leute waren nicht unbedingt derselben Meinung … Okay, niemand war derselben Meinung. Außer vielleicht seiner Freundin Suus, aber die fuhr ja auch auf alles ab, was irgendwie gruftig oder »Goth« war, wie sie es nannte.

Dirk versteckte den Kontaktlinsenbehälter auf dem Regal hinter einem Buch. Jetzt war erst mal Schule angesagt. Unsäglich nervtötend, dachte Dirk. Nervtötend – und sehr gefährlich, seit sein Erzfeind, der Weiße Zauberer Hasdruban, Schulleiter geworden war. Und heute war der Tag, an dem sie herausfinden würden, wie das laufen würde. Denn heute sollte eine Vollversammlung der Schule stattfinden, bei der Hasdruban eine ganz besondere Rede halten würde. Die ganze Sache trieb allmählich auf den Höhepunkt zu – einen Kampf zwischen dem Weißen Zauberer und dem Dark Lord. Und am Ende konnte es nur einen Sieger geben: Hasdruban oder Dirk.

Dirk zog seine Schuluniform an. Es fiel ihm schwer, die Hose über die Fußfessel zu ziehen. Die Fußfessel hatte ein kleinlicher, rachsüchtiger Richter angeordnet, als man Dirk vor ein »Jugendgericht« gestellt hatte, wie es die Menschlinge nannten. Und dieses Gericht sollte etwas mit »Gerechtigkeit« zu tun haben? Lächerlich. In Wirklichkeit hatte es sich um einen düsteren Saal gehandelt, in dem ein paar verknöcherte alte Knacker beisammenhockten, mit denen man kein vernünftiges Wort reden konnte. Jedenfalls nicht, seit Dirk seine Zauberkräfte verloren hatte. Hätte er noch seine Darklands-Zauberkraft besessen, hätte er ihnen schon ein paar vernünftige Flötentöne beigebracht, aber ganz sicher!

Unwillkürlich fiel Dirk wieder ein, wie er zu der Fußfessel gekommen war. Suus war in ein anderes Land gebeamt worden und Dirk und Christopher waren ihr gefolgt – in das Land der Orks und Ritter, der Drachen und Adlerreiter, ein Land jenseits von Zeit und Raum – die Darklands.

Dort hatte Dirk früher als Dunkler Lord geherrscht und seit Urzeiten einen erbitterten Kampf gegen die Vereinigten Gut-Staaten ausgefochten. Und vor allem gegen ihre Anführer, die Weißen Zauberer, von denen es im Laufe der Jahrhunderte ziemlich viele gegeben hatte. Dirk, Suus und Chris waren eine ganze Weile weg gewesen, während sie ihre Abenteuer in den Darklands erlebten. Unterdessen hatten ihre Eltern, die Polizei und die gesamte Schule hier auf der Erde verzweifelt nach ihnen gesucht und schon das Schlimmste befürchtet.

Schließlich waren die drei Kinder wieder wohlbehalten zurückgekehrt, aber wie hätten sie das alles erklären sollen? Dass sie sich in einer anderen Dimension aufgehalten hatten? Wo Suus als Dunkle Mondkönigin regiert und Dirk sich in einen monströsen, dämonisch-bösen Herrscher verwandelt hatte? Nein, das hätte ihnen bestimmt niemand abgenommen. Deshalb hatten sie eine andere Erklärung erfunden: Sie hätten im nahe gelegenen Wald bei einem »Liverollenspiel« Überlebenstechniken trainiert, sich dabei hoffnungslos verirrt und die ganze Zeit im Wald kampieren müssen. Aber auch das glaubte ihnen eigentlich niemand.

Natürlich hatten sie Dirk für fast alles die Schuld zugewiesen und ihn als »Rädelsführer« bezeichnet. Zur Strafe hatten schließlich diese Gutmenschlinge vom Jugendgericht, die sich in alles einmischen mussten, ein Plastikband an seinem Knöchel befestigt, das sie Fußfessel nannten. Seither musste er immer um soundsoviel Uhr zu Hause sein und sich wieder von den beiden hirnlosen Kinderpsychologen Wings und Randle »behandeln« lassen! Aber das alles war immer noch besser, als in eine Heilanstalt eingesperrt zu werden, was man ganz bestimmt mit ihm gemacht hätte, wenn er die Wahrheit gesagt hätte! Und was die Fußfessel anging …

Okay, mir wird schon noch einfallen, wie ich das Ding austricksen kann, dachte Dirk.

Einmal, vor langer Zeit, war er im hintersten, düstersten Winkel seines eigenen Landes von den sogenannten Mächten der Rechtschaffenheit in Ketten gelegt worden. Hunderte Jahre hatte er angekettet im Kerker geschmachtet, bis es ihm eines Tages gelungen war zu fliehen. Dirk war sich deshalb ziemlich sicher, dass er auch einen Weg finden würde, diese lächerliche elektronische »Hundemarke« loszuwerden. Schon bei dem bloßen Gedanken schwoll ihm die Brust vor Empörung und finsterer Entschlossenheit; mit herrischer Stimme verkündete er: »Ich werde mich befreien!« Und schon konnte er sich nicht mehr bremsen: Er stand auf, legte die Fingerspitzen vor der Brust aneinander (eine Geste, die er »Zeichen der Herrschaft« nannte) und stieß sein bestes, sein absolut furchtbarstes böses Lachen aus.

»Muah-hah-haaah!«

»Guten Morgen, Dirk! Du bist also schon auf!«, rief eine Stimme durch die Zimmertür. Eine freundliche, fürsorgliche Stimme, die seiner Pflegemutter, der Vikarin Purjoy, gehörte.

Dirk seufzte. »Hoffentlich wartet sie nicht vor der Tür auf mich«, sagte er zu Dave der Sturmkrähe, die mit rot glühenden Augen zurückblinzelte. »Sie will bestimmt … bei den Neun Höllen! … umarmt werden oder so was Ähnliches!«

Aber es war höchste Zeit für die Schule; ihm blieb keine andere Wahl. Vorsichtig legte er die Hand an den Türknauf, drehte ihn … langsam … zog vorsichtig die Tür auf – und da stand Mrs Purjoy im vollen Ornat einer Vikarin, nichts als Nächstenliebe und Fürsorglichkeit strahlte aus ihren weit aufgerissenen Augen und noch weiter waren ihre Arme geöffnet, bereit für die morgendliche Umarmung!

»Neeeiiin!«, kreischte Dirk.

image

17. November Herzausreißer

Grausammer? Aus gesundheitlichen Gründen? Auf diesen Schwindel fällt doch wohl niemand herein – schließlich wissen alle, dass der Mann in letzter Zeit nicht mehr ganz dicht war. Und was Hasdruban angeht – na, wir werden ja sehen!