DIE ELEKTRODÄMONISCHE FUSSFESSEL

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Stell dir mal vor: das Zimmer eines Jungen. Mit all dem üblichen Krempel – Bett, Tisch (beladen mit allem möglichen Kram), Stuhl, großer Kleiderschrank, Buchregale, in der Ecke eine Xbox. Alles total normal. Oder vielleicht doch nicht ganz? Die Bettdecke: schwarz mit bleichen Totenschädeln. Die Vorhänge: schwarz mit bleichen Totenschädeln. Bücher: nicht das normale Zeug, das Jungs in dem Alter sonst lesen – auf den Regalen stehen nur Lexika, Bücher über Maschinenbau, Elektronik für Fachleute, mittelalterliche Foltermethoden, Kriegstaktiken und sogar über den Aufstieg und Untergang von Weltreichen und so weiter. Tisch und Stuhl sehen völlig alltäglich aus, bis man genauer hinschaut: In die Tisch- und Stuhlbeine sind sonderbare Schriftzeichen und Symbole geschnitzt. Mitten auf dem Tisch hockt eine große schwarze Krähe mit roten Augen und einem in schwarzen Schattierungen ölig glänzenden Gefieder. Sie krächzt, ein Ruf, der wie die traurige Klage einer einsamen Möwe auf einer verlassenen, sturmumtosten Klippe über einem von angespülten Leichen übersäten Strand klingt. Vor den Klauen der Krähe liegen zwei Gegenstände: eine Art Handy mit winzigen Totenschädeln an allen vier Ecken und knochigen Armen, die sich an den Seiten entlangstrecken, und einem seltsam milchig-dunklen Display, das schattenhaftdüster glimmt. Es handelt sich um das DarkPhone, das Dirk unter Verwendung von Menschlingselektronik und nekromantischer Magie konstruierte, um mit Suus in den Darklands Kontakt aufnehmen zu können. Daneben liegt der zweite Gegenstand, der offensichtlich dazu bestimmt ist, an einem Armgelenk oder einem Fußknöchel getragen zu werden, nur wird er mit Skeletthänden statt mit einem Riemen befestigt und in der Mitte befindet sich ein kleiner kartoffelförmiger Charlie-Naseweis-Kopf, in den ein Sender eingebaut ist.

Alles klar so weit?

An diesem düsteren Werktag standen drei Kinder – Dirk, Christopher und Suus – um den Tisch und betrachteten die kleine Ausstellung. Suus trug ein Instrument auf dem Rücken, das wie eine große Gitarre aussah und fast so groß war wie sie selbst. Dirk spielte mit dem Ring an seinem Finger. Wann immer Suus' Blick kurz zu dem Ring glitt, blitzte Neid in ihren Augen auf. Denn bei dem Ring handelte es sich um den Großen Ring der Macht; sie hatte ihn einmal selbst getragen und sich seine mächtige Magie zu Nutzen gemacht, als sei sie mit dem Ring am Finger auf die Welt gekommen – damals, als sie Königin der Darklands gewesen war. Hier auf der Erde allerdings hatte der Ring keinerlei Macht. Trotzdem wollte Suus ihn wiederhaben, aber Dirk hatte ihr klargemacht, dass das für ihn so schnell nicht infrage kam. Obwohl er ihr den Ring damals eigentlich geschenkt hatte …

Chris fingerte an der Narbe auf seiner Wange herum. »Das ist … was? Eine Art Zauberfußfessel oder was?«

»Genau«, sagte Dirk. »Durch Einsatz meiner überlegenen Intelligenz und meiner erstaunlichen, universalen Genialität ist es mir gelungen, diese elektronische Fußfessel nachzubauen, aber in meiner eigenen Version. Die Energieversorgung erfolgt durch dunkle Magie. Ich habe das Gerät ›elektrodämonische Fessel‹ getauft.«

»Hey, klingt echt cool«, sagte Suus.

»Wie funktioniert das Ding?«, wollte Chris wissen.

»Passt auf.« Dirk tippte mit dem Zeigefinger auf den kleinen Naseweis-Kartoffelkopf in der Mitte. »An, Charlie, an!«

Die winzigen Augen in dem kleinen Kopf sprangen so plötzlich auf, dass Suus und Chris unwillkürlich zusammenzuckten. Dann öffnete sich der Mund, als ob er schreien wollte. Aber es kam nur ein leises Summen heraus. Der Mund schloss sich wieder. Öffnete sich erneut wie zu einem Schrei – und wieder war nur das leise Summen zu hören. Das ging so weiter, bis Dirk den Kopf erneut antippte. Der Kopf schüttelte sich kurz, als sei er verärgert, und schlief wieder ein.

»Im Grunde schreit, äh, sendet er nur immer das gleiche Signal auf derselben Frequenz wie meine richtige Fußfessel«, erklärte Dirk. »Solange Charlie angeschaltet ist, kann ich meine elektronische Fußfessel ausschalten, und niemand wird es bemerken, weil ja die elektrodämonische Fessel weiterhin genau das gleiche Signal sendet. Alle werden denken, dass ich brav in meinem Zimmer sitze!«

»Echt cool«, sagte Chris. »Dann kannst du dich also frei bewegen?«

»Das kann ich nun in der Tat, mein mickriger Menschlingsfreund. Ich denke, es ist höchste Zeit, dass ich den Wald der Dämonen aufsuche, was meint ihr?«

»Zuerst müssen wir im Supermarkt einkaufen – Gargon bekommt nicht mal halb so viel zu essen, wie er braucht!«, sagte Suus.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Dirk jagte die Sturmkrähe zum Fenster hinaus, wo sie sich auf eine kurze Sitzstange hockte, die Dirk an der Hausmauer befestigt hatte, sodass der Vogel vom Zimmer aus nicht zu sehen war. Christopher und Suus schoben rasch das Handy und die Fußfessel in die Tischschublade.

»Hallo, Dirkilein, ich bin's, Hilary«, ertönte vor der Tür eine Stimme. »Darf ich hereinkommen, Schätzchen?«

»Mein Name ist Dirk und ja, Mrs Purjoy, du darfst hereinkommen, wenn es denn sein muss«, antwortete Dirk, wobei er Chris ansah und wegen des unerträglichen »Dirkilein« die Augen verdrehte. Anders als sonst grinste Christopher nicht zurück, was Dirk ein bisschen seltsam vorkam, aber er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken.

Die Tür ging auf und Mrs Purjoy trat ein. Sie war groß, mager und blond und trug die Kleidung einer Vikarin der anglikanischen Kirche (was sie ja auch war). Dirk erinnerte die Kleidung immer an die Kutten des alten Ordens der Meuchelmördermönche von Syndalos, einer Sekte absolut tödlicher Attentäter, mit der er es früher einmal in den Darklands zu tun gehabt hatte.

»Hallo, Mum«, sagte Christopher.

»Hallo, Kinder«, grüßte Mrs Purjoy. »Habt ihr meine Kontaktlinsen gesehen? Sie sind normalerweise in einem kleinen grauen Behälter mit Schraubdeckel.«

Dirk blinzelte schuldbewusst. Sein Blick huschte unwillkürlich zu dem Buch auf dem Regal, hinter dem er den Kontaktlinsenbehälter versteckt hatte. Er hatte völlig vergessen, dass er die Essenz des Bösen dorthinein gefüllt hatte. Und jetzt fiel ihm auch wieder ein, was er mit den Kontaktlinsen selbst gemacht hatte. Was hatte er sich nur dabei gedacht?

Christopher entging Dirks schuldbewusste Miene nicht; er kniff die Augen zusammen und starrte ihn misstrauisch an. Dirk wiederum kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut – er bedeutete: »Was hast du jetzt wieder ausgefressen, du hinterhältiger kleiner Freak?«

Er signalisierte Chris mit dem Schulterzucken der Unschuld, wie er es nannte, dass er völlig unschuldig war. Eigentlich wäre die Bezeichnung Schulterzucken der Vorgetäuschten Unschuld zutreffender gewesen.

»Nein, ich fürchte nicht, Hilary«, sagte Dirk. »Habe die Kontaktlinsen nirgendwo gesehen – aber ich halte ein Auge offen …« Unwillkürlich murmelte er vor sich hin: »Dein Auge – es liegt auf dem Tisch und blickt zu den Leuten auf, ho, ho, ho.«

»Ich auch nicht, Mum«, sagte Chris, ohne Dirk aus den Augen zu lassen. »Ich sag's dir, falls ich sie finde.«

»Ich auch nicht, tut mir leid, Hilary«, fügte Suus hinzu.

»Nun gut, das habe ich mir schon gedacht«, murmelte Mrs Purjoy. »Da werde ich wohl noch im Kühlschrank oder in den Geschirrschränken nachschauen müssen. Ich bin zurzeit immer so zerstreut, wer weiß, wohin ich den Behälter jetzt wieder gelegt habe! Viel Spaß in der Schule, meine Küken!«

»Küken?«, murmelte Dirk und schaute Mrs Purjoy mit gehobenen Augenbrauen nach, als sie aus dem Zimmer ging. Wenn sie nur wüsste …

»Wartet unten auf mich, Leute«, sagte er dann zu Chris und Suus. »Ich muss nur noch schnell die Kon… äh, aufs Klo. Gack-gack!«

Mit diesen Worten lief er ins Bad, während Chris und Suus wegen des idiotischen Gegackers laut aufstöhnten.

Dirk schloss die Badezimmertür hinter sich ab und machte sich daran, den Abfalleimer zu durchsuchen. »Ah, den Dunkelgöttern sei Dank, der Eimer ist noch nicht geleert worden«, murmelte er vor sich hin. Die Kontaktlinsen waren tatsächlich noch da. Vorsichtig nahm er sie heraus, faltete sie in ein Stück Toilettenpapier und brachte sie in sein Zimmer zurück. Später würde er die Essenz des Bösen umfüllen, die Linsen in den Behälter zurücklegen und ihn an irgendeine geeignete Stelle legen, in den Kühlschrank oder so, wo ihn Mrs Purjoy leicht finden würde. Kein Mensch würde misstrauisch werden.

19. November Herzausreißer

Habe mich gerade ins Intranet der Schule gehackt und das Protokoll der letzten Schulbeiratssitzung heruntergeladen. Ist doch interessant, nicht wahr?

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