Dirk, Suus und Chris saßen auf einem Baumstamm, der auf einer Lichtung tief im Weidenwald lag. Vor ihnen standen ein mehr als zwei Meter großer geflügelter Dämon aus einer anderen Welt und ein groß gewachsener, schlanker, durchtrainierter Ritter. Doch der Mensch schien sich ebenso fehl am Platz zu fühlen wie der seltsame, riesige Dämon neben ihm, denn er blickte sich ständig mit besorgter Miene um. Hinter ihnen befanden sich zwei Zelte, das eine in normaler Größe, das andere viel höher und breiter. In der Nähe hatte man aus ein paar Ästen und einer wasserdichten Plane einen notdürftigen Regenschutz errichtet, unter dem ein paar Trommeln auf ihren Einsatz warteten. Chris und Suus hatten gerade eine Menge Lebensmittel und Ausrüstungsgegenstände herbeigeschafft: mehrere Sechserpacks Wasser, Wolldecken, Dosennahrung, Campinggas und so weiter – sogar einen kleinen dieselgetriebenen Generator.
Der Mann deutete auf die Zelte und sagte: »Wir können nicht ewig hierbleiben, Dirk. Jetzt ist es Herbst; wenn der Winter kommt, werden wir erfrieren.«
»Gargon hasst kalt!«, verkündete der riesige Dämon.
Dirk strich sich nachdenklich über das Kinn. »Ich weiß, ich weiß! Aber wohin mit euch beiden?«
»Gargon ist so auffällig wie … wie ein bunter Hund, um es mal milde auszudrücken«, sagte Chris.
»Das gilt auch für dich, Rufino«, fügte Suus hinzu. »Bitte entschuldige, aber du siehst nun mal … na ja, du passt nicht so ganz in die moderne Zeit. Aber ich habe mir dazu ein paar echt gute Ideen einfallen lassen.«
»Oje. Deine echt guten Ideen sind meistens ziemlich verrückt«, sagte Dirk.
Suus achtete nicht auf ihn. Das war recht seltsam – normalerweise achtete sie immer auf ihn! Was war da los?
»Wie läuft's mit den Trommeln?«, fragte Suus und deutete auf die Instrumente unter der Wetterplane.
»Gut!«, antwortete Rufino begeistert. »Ich bin erfreut, dass Ihr sie hergeschafft habt, meine Dunkle Lady! Diese modernen irdischen Trommeln erfreuen mein Gemüt, ist doch ihr Klang angenehmer als jener der Zimbeln, Tamburen und ledernen Trommeln meiner Heimat!«
»Gargon mag auch Lärm von Rufino mit Trommeln – er ziemlich gut!«, sagte Gargon mit seiner Reibeisenstimme.
»Rufino mag früher ein guter Troubadour gewesen sein, aber wir befinden uns jetzt im 21. Jahrhundert – deshalb ist dein Einfall mit der Boygroup keine Idee, sondern eine Idiotie«, sagte Dirk, »und überhaupt total kaka.«
»Es heißt nicht kaka, Dirk, sondern gaga«, sagte Chris und hob die Augenbrauen.
»Ach so, ja, natürlich. Gaga. Du bist gaga, Suus«, sagte Dirk, »gaga!«
»Danke für deine hilfreiche Unterstützung, Dirk. Mehr kann ich im Moment von dir wohl nicht erwarten«, gab Suus giftig zurück. Dirk runzelte die Stirn; Suus' Vorwurf verschlug ihm erst einmal die Sprache. Christopher schickte ihm ein spöttisches Halbgrinsen, worüber sich Dirk noch mehr wunderte.
»Jedenfalls«, fuhr Suus fort, »habe ich dir das hier mitgebracht, Gargon.« Sie reichte ihm die ungewöhnlich große Gitarre, die sie auf dem Rücken getragen hatte. »Es ist eine extra große Gitarre für Leute mit extra großen Händen. Ich denke, deine Krallen funktionieren mindestens so gut wie eine ganze Handvoll Plektrons. Du wirst einen echt coolen Leadgitarristen abgeben!«
Gargon betrachtete seine enormen Krallenhände. »Plek… Plek… was?«, krächzte er.
»Ist jetzt nicht so wichtig«, sagte Suus. »Nimm einfach die Gitarre und spiel darauf. Ich habe dir auch ein Lehrbuch mitgebracht. Damit kannst du dir selbst das Gitarrespielen beibringen.«
»Hahaha!« Dirk krümmte sich vor Lachen. »Hallo, das ist Gargon, um Hölles willen! Der kann nicht mal lesen, vom Gitarrelernen will ich gar nicht erst reden!«
Gargon blinzelte verlegen. Er hasste es, wenn darüber gespottet wurde, dass er nicht lesen konnte.
»Na, darum kümmern wir uns schon noch, Dirk Lloyd!«, gab Suus schnippisch zurück. »Ich glaube nämlich, dass Gargon musikalisch begabt ist, nur hat das noch niemand bemerkt!« Sie drehte sich zu Gargon um und nahm seine riesige Klaue in beide Hände. »Ganz bestimmt bist du begabt, mein lieber alter Gargy!«, hauchte sie.
Gargon blickte liebevoll auf Suus hinab, mit einem Gesichtsausdruck, der in keiner Weise zu seiner Erscheinung passte – also zu seinen riesigen lederartigen Fledermausflügeln, den gewaltigen Klauen, den scharfen Krallen, der grünen Echsenschuppenhaut.
»Gargon versucht, meine Königin, Gargon versucht sein Bestes!«, krächzte er.
»Also wirklich, das ist doch lächerlich!«, protestierte Dirk. »Und überhaupt möchte ich wissen, womit ihr beide die Lebensmittel und die Geräte und die Maschine dort drüben, diesen Generator, bezahlt habt?«
Suus und Chris warfen sich rasch leicht verlegene Blicke zu.
»Gold«, sagte Chris schließlich widerwillig.
»Gold? Was soll das heißen, Gold?«, fragte Dirk verblüfft.
»Als wir aus den Darklands zurückkamen, hatten wir rein zufällig noch ein paar Goldmünzen in den Taschen – du weißt doch, Golddirks.« (Als Dirk noch in seiner Dark-Lord-Gestalt in den Darklands herrschte, hatte er eine neue Währung eingeführt – Golddirks, Silbersuus und Kupferchristophers.)
»Die waren hier auf der Erde ziemlich viel wert«, erklärte Chris.
»Ah, ich verstehe. Und hättet ihr mir auch davon erzählt, wenn ich nicht gefragt hätte?«, fragte Dirk mit säuerlicher Miene.
»Wir … wir dachten uns, dass du dich bestimmt geweigert hättest, das Geld für … äh, Musikinstrumente und all den Rest hier auszugeben«, sagte Suus.
»Und ob ich mich geweigert hätte! Was für eine Geldverschwendung! Waffen! Die brauchen wir! Waffen – oder sogar Panzer! Für unseren Krieg gegen den Schulleiter!«
»Alles schön und gut, Dirk, aber wir leben hier in England. Hier kannst du nicht einfach in einen Laden spazieren und Waffen kaufen!«, sagte Suus scharf.
»Und schon gar nicht, solange du ein kleiner Junge bist!«, ergänzte Chris lachend. »Panzer! Ich krieg mich nicht mehr!«
Dirk verschränkte beleidigt die Arme. Wäre echt cool gewesen, mit einem Panzer das Rektorat plattzumachen. Aber natürlich hatten sie recht, leider.
»Pah! Genug davon«, sagte er hochmütig. »Ich beschäftige mich lieber mit der einzigen vernünftigen Lösung – die beiden hier in die Darklands zurückzuschaffen. Los kommt, Kumpels, wir gehen. Später bringen wir noch eine weitere Ladung Lebensmittel.«
»Ihr könnt gehen, wenn ihr wollt«, sagte Suus. »Ich bleibe hier und bringe Gargon ein paar Akkorde bei.«
»Ich bleibe auch«, fügte Chris hinzu.
Dirk stand einen Augenblick ratlos da. Wollten sie nicht mehr mit ihm abhängen oder wie? Er verspürte tatsächlich einen kleinen Stich – fühlte sich verletzt und ein wenig traurig, aber nicht lange. Schon stieg stille Wut in ihm hoch. Seit der Sache mit Hasdruban und dem weißen Transporter schienen sie irgendwie sauer auf ihn zu sein. Na gut, da konnte man nichts machen. Schließlich hatte er tausend Jahre oder länger einsam und ohne Freunde überlebt, bevor er diese beiden Menschlinge kennengelernt hatte – er würde auch weiterhin allein leben können! Er brauchte sie nicht, sie waren sowieso völlig nutzlos. Jetzt musste er erst einmal nach Hause und die Kontaktlinsensache in Ordnung bringen und dabei konnte er die beiden ohnehin nicht gebrauchen.
Damit drehte er sich um und verließ die Lichtung. Er folgte dem Pfad durch den Wald, den sie markiert hatten – als Markierungspunkte hatte Dirk orkische Symbole mit schwarzer Farbe an die Bäume gepinselt. Gewöhnliche Menschlinge würden nicht erraten, was sie bedeuteten, seine Freunde ausgenommen. Nein, nicht Freunde, sondern Lakaien waren sie. Noch dazu ungehorsame Lakaien.
Nach einer Weile gelangte Dirk an den Waldrand und ging querfeldein über einen Acker, der zur Brücke am Stadtrand von Weißschilding führte. Von dort war es nicht mehr weit bis zur Bushaltestelle.
Ein Stück weit entfernt stand ein Transporter. Darin war undeutlich eine weiß gekleidete Gestalt zu erkennen, die den Jungen nicht aus den Augen ließ, als er den niedrigen Hügel hinauf zur Stadt trottete …
20. November Herzausreißer
Der Newsletter der WeißschildingSchule ist so was von langweilig und bescheuert, dass ich beschlossen habe, meine eigene kleine Schülerzeitung herauszugeben. Ich werde sie in der ganzen Schule verteilen. Ich habe mich für den Namen Dunkle Zeiten entschieden.