Dirk und Christopher saßen am Frühstückstisch und warteten auf Mr und Mrs Purjoy. Christopher starrte auf die Tischplatte. Dirk, der gerade einen eingebildeten Kampf zwischen dem Pfefferstreuer (dem Dunklen Lord) und dem Salzstreuer (dem Weißen Zauberer) ausgefochten hatte, warf nun das Heilige Schwert (Messer) und den Tödlichen Dreizack der Vernichtung aller Weißen Zauberer (Gabel) verärgert auf den Tisch.
»Was ist nur los mit dir, Christopher?«, fragte er. »Du schmollst herum wie ein beleidigter Wichtel!«
»Nichts«, sagte Chris mürrisch.
»Was soll das heißen, nichts? Schau dich doch nur mal an!«
Chris zuckte bedrückt die Schultern, befingerte geistesabwesend die Narbe und brütete weiter vor sich hin.
Dirk seufzte. Was hatten diese Menschlinge nur? Immer hatten sie irgendwelche seltsamen Gefühlsschwankungen. Mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt. Nicht auszuhalten. Machte null Spaß, mit Chris abzuhängen, solange er diese Launen hatte. Er spielte nicht mal mehr Computerspiele!
Nachdenklich runzelte er die Stirn. Irgendwie musste er Chris aus dieser Stimmung herausreißen, schon deshalb, weil er, Dirk, endlich wieder bei Fantasy Wars oder Blood of Darkness gewinnen wollte. Schließlich hatte er schon seit ewigen Zeiten keinen dieser kümmerlichen Menschlinge mehr vernichtet, und dazu war Chris immer gut zu gebrauchen!
Dirk steckte sich die weiße Serviette in den Kragen und tat so, als hätte er einen weißen Bart. »Stirb, Dark Lord, stirb!«, sagte er, wobei er recht gut den Schulleiter Hasdruban nachahmte. »Und wenn du tot bist, musst du zur Strafe einen Monat lang nachsitzen!«
Das entlockte Chris ein schiefes Grinsen; er musste sogar ein wenig kichern. Dirk fühlte sich zu weiteren komischen Imitationen ermutigt. »Und danach vernichte ich auch deinen nutzlosen Lakaien Christopher!«
Das fand Chris überhaupt nicht lustig. Er starrte Dirk wütend an. Doch dann ließ er den Blick wieder auf die Tischplatte sinken.
»Wie jetzt? Was hab ich denn nun schon wieder gesagt?«, fragte Dirk verblüfft.
In diesem Moment kam Mrs Purjoy ins Esszimmer.
»Meine Kontaktlinsen kommen mir irgendwie ein bisschen dunkler vor, wie eine Sonnenbrille oder so. Ich hab den Behälter übrigens im Kühlschrank gefunden – vielleicht sind sie durch die Kälte dunkler geworden?«, wunderte sie sich.
»Das kann ja wohl nicht sein«, sagte Dirk, während sich seine Gedanken bereits hektisch überschlugen. Dunkler? Er hatte die Kontaktlinsen wieder in den Behälter zurückgelegt, in dem er die paar Pickelspritzer Essenz des Bösen aufbewahrt hatte. Zwar hatte er den Behälter so gründlich wie möglich ausgespült, aber das Zeug haftete an allem fast wie ein Superkleber. War es möglich, dass die Essenz die Linsen irgendwie verunreinigt hatte? Und wenn es so war – würde dann Mrs Purjoy irgendeine Wirkung zu spüren bekommen? Er starrte sie neugierig an – das könnte wirklich sehr interessant werden!
»Und was denkst du, Christopher, mein Liebling?«
Chris schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht«, sagte er knapp.
Mrs Purjoy setzte sich an den Tisch; kurz darauf brachte Dr. Purjoy das Frühstück für die ganze Familie herein. Er hatte rotes Haar, eine rötliche Gesichtsfarbe und sanfte blaue Augen – und er war Arzt. Auch er glaubte nicht, dass die Kontaktlinsen durch die Kälte nachgedunkelt waren. Nach einem kurzen Gebet (Dirk murmelte seine eigene Version leise in sich hinein, bei der jede Erwähnung des Herrn durch das Adjektiv »dunkel« ergänzt wurde) machte sich die Familie über das Frühstück (Ei auf Toast) her.
Doch bevor Dirk auch nur den ersten Bissen im Mund hatte, passierte etwas höchst Seltsames. Mrs Purjoy lehnte sich zurück. »Was … was ist das …?«, stieß sie erstaunt hervor. Alle folgten ihrem Blick. Wie entgeistert starrte sie … nun, sie starrte in eine Zimmerecke.
Und plötzlich schrie sie!
»Was ist, meine Liebe, was hast du denn?«, fragte Dr. Purjoy entsetzt, sprang auf und rannte um den Tisch zu ihr. Christopher saß geschockt und mit offenem Mund da. Seine Eltern taten nie etwas Ungewöhnliches und keinesfalls litten sie an Halluzinationen, als hätten sie Drogen oder ähnliches Zeug eingenommen!
»Mum, alles in Ordnung? Mum?«, fragte er besorgt.
»Da ist … eine furchtbare Dunkelheit, trostlos, wüst … Ich sehe … was … wie?«, stammelte sie und starrte weiterhin voller Entsetzen in die Zimmerecke.
»Keine Sorge, Liebling, wir sind bei dir!«, sagte Dr. Purjoy beruhigend und tätschelte ihre Hand, während er überlegte, was ihr wohl fehlen mochte.
»Was genau siehst du, Hilary?«, fragte Dirk interessiert.
»Ich sehe … einen hohen Turm, schwarz … mitten in einer wüsten, trostlosen Landschaft … und kleine … Lebewesen, hässliche, kleine Geschöpfe, die herumhüpfen … Oooh – es ist entsetzlich!«, stieß sie hervor. Sie fummelte wie wild an ihren Augen, riss sich die Kontaktlinsen heraus und schleuderte sie von sich. »Es sind die Linsen … sie sind BÖSE, sage ich euch!«
Alle starrten sie verwundert an. In Chris' Gesicht schlich sich ein misstrauischer Ausdruck und sein Blick glitt langsam zu Dirk hinüber. Doch Dirk antwortete nur mit dem Schulterzucken der Vorgetäuschten Unschuld. Aber davon ließ sich Chris nicht überzeugen; mit zusammengekniffenen Augen schaute er Dirk an.
»Na, na, meine Liebe«, sagte Dr. Purjoy beschwichtigend, »ich glaube nicht, dass Kontaktlinsen böse sein können, oder? Vielleicht hat sich etwas darauf abgelagert, sodass du alles verzerrt siehst.«
Mrs Purjoy blinzelte mehrmals. »Ja … ja, ich glaube, du hast recht, Onkel Doktor. Es geht mir auch schon wieder viel besser, seit ich sie herausgenommen habe.«
»Klar, irgendeine Verunreinigung«, nickte Dirk und tat so, als sei die Sache damit geklärt.
Aber dann stützte er das Kinn in eine Hand und studierte Mrs Purjoy so aufmerksam wie eine Laborratte im Käfig. Anscheinend hatte sie in einer Art Vision die Darklands gesehen. Vielleicht sogar seinen eigenen Eisernen Turm, genauer: den Eisernen Turm der Verzweiflung. Und sie hatte kleine Lebewesen erwähnt … konnte sie seine Goblins und Kobolddiener gemeint haben? Wirklich höchst interessant!
Sie wandten sich wieder dem Frühstück zu. Schon bald schien der kleine Zwischenfall vergessen zu sein und das Gespräch drehte sich wieder um die üblichen lächerlichen Alltagssorgen, mit denen sich die Menschlinge ständig beschäftigten. Dirk blendete das Gespräch vollständig aus; stattdessen dachte er intensiv darüber nach, was gerade geschehen war und was es zu bedeuten hatte. Die Sache mit den Kontaktlinsen brachte ihn auf ein paar richtig nette kleine Ideen.
Der Schulweg dauerte zehn Minuten, die Dirk und Chris wie jeden Tag zu Fuß zurücklegten.
»Also«, begann Chris, »was hast du jetzt wieder angestellt?«
»Ich? Nichts, überhaupt nichts, wie kommst du nur darauf?«
»Komm mir nicht damit! Du hast ihre Kontaktlinsen geklaut, stimmt's? Was hast du damit gemacht?«, wollte Christopher wissen.
»Was? He – ich hab nichts gemacht, echt nicht!«, wehrte sich Dirk empört.
»Ja klar! Sie ist meine Mutter, kapierst du das denn nicht? Du kannst nicht einfach mit ihr herumexperimentieren, wie es dir gefällt!«, schrie Chris, der offenbar immer wütender wurde.
»Meine auch … zwar nur Pflegemutter, aber immerhin!«, gab Dirk zurück.
»Was ist sie für dich? Dir sind doch alle anderen Menschen völlig egal! Was du da sagst, macht mich nur noch misstrauischer!«
»Komm schon, Chris, so schlimm bin ich doch gar nicht, das würde ich doch nicht … ich meine, ich habe das nicht getan, ich war's nicht!«, versuchte sich Dirk herauszuwinden.
Chris blieb abrupt stehen. Dirk ebenfalls. Chris runzelte die Stirn und befingerte die Narbe auf der Wange. »Warte mal kurz, Kumpel. Was meinst du damit, dass du das nicht getan hast? Was hast du nicht getan?«
Dirk verdrehte die Augen. »Ich hab's nicht getan – oder jedenfalls nicht absichtlich.«
»Aha!«, rief Chris. »Jetzt kommen wir der Sache schon näher.«
Dirk seufzte. »Der Pickel, erinnerst du dich? Der mir so wehgetan hat?«
»Ja – was ist damit?«
»Na ja, das war irgendwie … ein Dark-Lord-Pickel, sozusagen«, gestand Dirk widerstrebend.
Chris verdrehte seufzend die Augen. »Ein Dark-Lord-Pickel? Was ist denn das nun wieder?«
»Hmmm … statt Eiter war ein bisschen … ein bisschen Essenz des Bösen drin«, sagte Dirk zögernd.
»Was?«, rief Chris entsetzt. »Ich dachte, die Anathema-Kristalle im Kerker des Eisernen Turms hätten dafür gesorgt, dass sie restlos aus dir herausfloss, während du auf die Erde zurückgefallen bist? Und als wir hier ankamen, habe ich sie vollständig in die Flasche gefüllt. Da war rein gar nichts mehr übrig!«
»Und die Flasche hast du vor mir versteckt, wie wir vereinbart hatten, ich weiß, ich weiß«, nickte Dirk.
»Wenn das wieder einer deiner Tricks ist, damit ich dir verrate, wo ich das Zeug versteckt habe, dann kannst du das vergessen, Dirk! Wir werden dich nicht mehr auch nur in die Nähe der Essenz kommen lassen, nicht nach allem, was letztes Mal passiert ist! Nie mehr!«, sagte Chris wütend.
»Ich weiß! Und ich sehe es ja auch ein, das brauchst du mir nicht zu sagen! Aber in mir muss ein winziger Rest übrig geblieben sein, der dann irgendwann an die Oberfläche kam. Das war der Pickel. Ich habe ihn ausgedrückt und dann … Ich musste es doch irgendwohin tun, oder nicht?«
»Ah, jetzt verstehe ich endlich!«, rief Chris. »Du hast also den Klecks Essenz des Bösen aus deinem Pickel in Mums Kontaktlinsenbehälter getan und ihn in deinem Zimmer versteckt!«
Dirk nickte beschämt. Na gut, fast beschämt.
»Du bist ein gigantischer Hornochse, Dirk. Wie konntest du nur? Dieses Zeug ist echt gefährlich!«
»Ich hab einfach nicht richtig nachgedacht«, gab Dirk zu. Chris schüttelte nur verzweifelt den Kopf.
»Ich hab doch versucht, die Sache wieder in Ordnung zu bringen«, verteidigte sich Dirk. »Den Behälter habe ich sehr gründlich ausgewaschen, aber du weißt doch, wie zäh dieses Zeug ist. Ein winziges bisschen davon muss trotzdem auf ihre Linsen geraten sein, das würde erklären, warum sie diese eigenartigen Visionen bekam – aber das ist alles, es ist ja kein Schaden entstanden, nur eine einmalige seltsame Vision!«
»Soweit wir bisher wissen«, murmelte Chris. Aber es kam auch ihm nicht so vor, als hätte seine Mutter einen bleibenden Schaden davongetragen. Unverschmutzte Ersatzlinsen würde sie leicht wieder beschaffen können und die verunreinigten hatte sie bereits weggeworfen.
»Aber an der Sache ist nicht alles schlecht«, sagte Dirk. »Sie hat mich auf eine Idee gebracht – ich glaube nämlich, dass sie die Darklands gesehen hat. Vielleicht kann ich so etwas auch einmal ausprobieren, nur um nachzuschauen, was dort im Moment los ist, oder vielleicht sogar eine Botschaft hinschicken.«
»Hallo, Dirk, das Zeug ist gefährlich!«, rief Chris frustriert. »Vor allem für dich! Ich meine, du solltest mir den Tropfen übergeben, damit ich ihn mit dem ganzen Rest verstecke.«
»Nein, nein, Chris, ich muss das ausprobieren. Vielleicht ist das eine neue Möglichkeit, in die Darklands zu kommen. Dann könnten wir Gargon und Rufino zurückschicken, vielleicht sogar Hasdruban!«
Aber so leicht ließ sich Chris nicht überzeugen. »Echt? Kommt mir ziemlich weit hergeholt vor, wenn du mich fragst. Bist du sicher, dass dir die Essenz nicht böse Gedanken einflößt?«
»Nein, nein, das kann nicht sein, der Tropfen ist zu winzig. Man hat dabei nicht das Gefühl, dass einen das bisschen Essenz beherrschen könnte oder so. Du hast natürlich recht, es ist eine sehr vage Vermutung, aber mehr haben wir im Moment eben nicht.«
Das musste auch Chris zugeben. »Na gut, das ist deine Sache, denke ich.« Nach kurzem Zögern fügte er mit sarkastischem Unterton hinzu: »Schließlich bin ich ja nur ein nutzloser Lakai, nicht wahr.«
»Genau – und deshalb darfst du mich auch nicht einen gigantischen Hornochsen nennen!«, herrschte Dirk ihn an. »Hast du das denn immer noch nicht kapiert, seit du es das letzte Mal versucht hast?«
Christopher runzelte wütend die Stirn. Aber Dirk bemerkte natürlich wieder mal nichts und ging einfach weiter, ohne seinen Monolog zu unterbrechen, dass er der Dark Lord sei und dass man ihm mehr Respekt entgegenbringen müsse und dass Leute, die ihn beleidigten, eben selbst schuld seien, wenn sie irgendwann in rosa Unterhosen herumlaufen müssten und mit stinkendem Wirrnuss-Butterschleim eingeschmiert würden.
Chris stöhnte entnervt auf. Doch dann fiel ihm ganz in der Nähe ein Mann mittleren Alters auf, der Wanderkleidung trug und über einer Landkarte brütete. Der Mann hatte Dirks lautstark vorgetragene Behauptungen gehört und blickte den beiden Jungen überrascht entgegen. Seine Miene zeigte solche Verblüffung, dass Chris sich nicht mehr beherrschen konnte und laut loslachte.
»Was?«, fragte Dirk gereizt. Aber im selben Augenblick kam der Wanderer bereits auf die beiden Jungen zu.
»Hallo, Jungs, könnt ihr mir vielleicht helfen? Ich glaube, ich habe mich ein wenig verlaufen. Wie komme ich zur St.-Marien-Kirche, das ist die Kirche mit den berühmten Glasmalereien? Soll hier in der Nähe sein.«
»Das stimmt«, sagte Dirk. »Nur die Straße geradeaus, dann rechts, noch mal hundert Meter weiter, dann links in die Castellani-Straße, dann sehen Sie die Kirche direkt vor sich.«
»Ah – danke!«, sagte der Mann und ging davon.
Auch Dirk und Chris setzten ihren Weg fort, aber nach ein paar Schritten blieb Chris unvermittelt stehen. »He, warte mal – das stimmt doch überhaupt nicht! Du hast ihn genau in die entgegengesetzte Richtung geschickt!«
Dirk blieb ebenfalls stehen. »Hm. Stimmt, du hast recht!«, sagte er und sah selbst völlig überrascht aus.
»Aber warum?«
Dirk zuckte die Schultern. »War ein Dark-Lord-Anfall, denke ich mal. Manchmal kann ich einfach nicht anders.«