DIE SCHATTENBRILLE

image

 

Am selben Abend, nachdem Dirk das unvermeidliche Nachsitzen hinter sich gebracht hatte, ging er in sein Zimmer und machte sich an die Arbeit. Zuerst stellte er eine kleine Dose auf den Tisch, die er vor einer Weile in Chris' Zimmer gefunden hatte, eine Piratendose mit Schädel und gekreuzten Knochen auf dem Deckel. Er hatte sie hinter einem Buch mit dem Titel Wie erobert man die Erde?versteckt gehalten. Ein vielgelesenes Buch, so wie es aussah. Dirk öffnete die Dose vorsichtig. Darin befand sich ein winziger geronnener Klumpen einer schwarzen Substanz – Essenz des Bösen. Dirk war überzeugt, dass Mrs Purjoys Kontaktlinsen von diesem Zeug verunreinigt worden waren, sodass sie in die Darklands hatte blicken können.

So musste es passiert sein. Aber ganz sicher war er sich nicht. Deshalb musste Dirk herausfinden, ob es stimmte oder nicht!

Er nahm eine Brille, die er sich beim Optiker besorgt hatte, mit der geringsten Stärke, die man bekommen konnte. Vorsichtig schmierte er eine äußerst dünne Schicht Essenz des Bösen auf die Brillengläser. Gebannt beobachtete er, wie das Zeug förmlich im Glas versickerte, bis die Gläser einen eigenartigen gräulichen Schimmer angenommen hatten. Zaghaft setzte er die Brille auf. Alles war wie mit einem Grauschleier überzogen. Und still.

Dann erschien etwas mitten im Zimmer! Zuerst nur ein winziger schwarzer Fleck, der eigenartig schillernde Lichtstrahlen aussandte. Der Fleck dehnte sich aus, wuchs immer weiter an.

Dirk lehnte sich zurück; seine Hände verkrampften sich um die Armlehnen des Stuhls. Wie gebannt starrte er den schwarzen Fleck an, der immer größer wurde, bis er die Größe eines großen Fensters hatte. Durch die schwarze Öffnung hindurch wurden undeutliche Umrisse sichtbar, die allmählich klarer zu erkennen waren – ein Hügel … ein hoher Turm … Konnte es sein? Ja! Es war der Eiserne Turm der Verzweiflung! Dirk konzentrierte sich darauf; die Erscheinung kam immer näher. Bald konnte er die Pforten der Verdammnis erkennen, dann sogar die schmiedeeisernen Schädel der nervtötenden Wasserspeier, die nie den Mund halten wollten. Ein paar von ihnen schauten tatsächlich direkt in seine Richtung, als könnten sie irgendwie spüren, dass sie beobachtet wurden. Mit seiner Willenskraft drängte Dirk weiter voran, wollte sich von der Vision in den Turm hineinführen lassen – aber dann merkte er, dass er nicht durch die Pforten der Verdammnis gehen konnte. Natürlich nicht! Sie wurden von einem besonders starken Zauber geschützt. Das hätte er doch wissen müssen, schließlich hatte er selbst vor Jahrhunderten den Schutzbann über die Pforten verhängt. Doch plötzlich setzten sich die riesigen Torflügel knirschend und quietschend in Bewegung und schwangen langsam auf.

image

»Heil dem Regenten Agrasch und dem General Krätze Knallfurz, den Bewahrern des Eisernen Turms, solange sich der Dunkle Lord und seine Lady der Nacht im Exil befinden!«, kreischten mehrere Wasserspeierschädel und schon kamen ein Kobold und ein Ork würdevollen Schrittes durch das Tor – keine anderen als Dirks Kanzler Agrasch Rotztropf und Krätze Knallfurz, der Ork-Hauptmann, der sich anscheinend zum General ernannt hatte.

Dirk wurde richtig aufgeregt, als er die beiden sah. Er beugte sich vor und schrie: »Agrasch, ich bin's, ich, Dirk der Dark Lord!!«, aber sie konnten ihn offenbar nicht hören. Sie gingen einfach weiter, in ein halblautes Gespräch vertieft.

»Nein, wir dürfen sie nicht provozieren, General Knallfurz«, sagte Agrasch gerade, während er sich die Spitze seiner unglaublich langen Nase mit einem äußerst schmutzigen Taschentuch abwischte. »Ein Überfall wäre nun wirklich die miserabelste Idee!«

»Aber der Weiße Zauberer ist gerade nicht zu Hause! Das ist eine günstige Gelegenheit, ihnen mal kräftig eins auf die Nase zu geben!«, widersprach Krätze und kratzte sich mit den schwarz geränderten Fingernägeln seiner warzigen Hand in der Achselhöhle. Na gut, die Hand musste man wohl eher als Klaue bezeichnen.

»Wir sind immer noch zu schwach. Im Moment haben wir wenigstens eine Art Waffenstillstand, auch wenn er ziemlich unsicher ist. Solange der Dark Lord und der Weiße Zauberer nicht da sind, um für Unruhe zu sorgen, sollten wir die Pferde nicht scheu machen.«

Der Ork runzelte die Stirn und blickte sich um. »Welche Pferde denn?«

Sie gingen weiter. Voller Verzweiflung sprang Dirk auf und versuchte, durch die Öffnung zu laufen, aber das war unmöglich. Er prallte gegen das Fenster der Vision wie gegen eine unsichtbare Glasscheibe und fiel auf den Boden, wobei er sich fast die Schulter ausrenkte. Was bildeten sich die beiden überhaupt ein? Den Frieden wollten sie bewahren? Diese Idioten! Sie hatten jetzt doch eine einmalige Gelegenheit, die Festung des Weißen Zauberers zu stürmen!

Auf einmal klopfte es an der Tür. »Alles in Ordnung bei dir, mein Lieber?«, fragte jemand. Natürlich schlich wieder einmal Mrs Purjoy herum!

»Alles bestens«, rief Dirk zurück und riss sich die Brille von der Nase. Es machte leise Plopp!,das dunkle Fenster blitzte kurz auf und verschwand. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und Mrs Purjoy streckte den Kopf herein.

Dirk saß auf seinem Stuhl. Die Hand mit der Brille baumelte hinter der Stuhllehne herab. Mrs Purjoy schaute ihn einen Augenblick lang an, wahrscheinlich überlegte sie, was für schlimme Dinge er nun jetzt wieder plante. Wird wohl besser sein, wenn ich gar nicht erst frage, dachte sie.

»Ach so, gut. Es ist sowieso Zeit fürs Bett. Schlafanzug, Zähne putzen!«, sagte sie und lächelte ihm liebevoll zu.

Dirk verdrehte die Augen. Es war nicht zu fassen! Eben noch hatte er den Eisernen Turm der Verzweiflung gesehen, wo sein Goblin-Kanzler und der Hauptmann seiner Orkhorden über Angriffspläne diskutierten, und schon Sekunden später musste er sich befehlen lassen, den Schlafanzug anzuziehen und sich die Zähne zu putzen!

Eine Stunde später lag ein immer noch aufgeregter Dirk im Bett. Zuvor hatte er die übliche widerliche Tortur – einen Gutenachtkuss und eine Umarmung – über sich ergehen lassen müssen. Er griff nach seiner ganz besonderen Brille – der Ausdruck »dunkle Brillengläser« hatte nun eine völlig neue Bedeutung bekommen. Oder vielleicht sollte er sie einfach »Dunkelgestell« nennen. Oder »Mondglotzer«? Nein, »Schattenbrille« passte besser.

Vorsichtig setzte er sie auf. Wieder erschien die Vision der Darklands, mittendrin sein Eiserner Turm, der einen unheilvollen Schatten über die Ebene warf, während weit dahinter am Horizont die Sonne unterging. Dirk starrte die Szene sehnsüchtig an. Es musste doch eine Möglichkeit geben, sich die Visionen irgendwie zunutze zu machen!

Dave die Sturmkrähe krächzte leise, als er durch das offene Fenster ins Zimmer flatterte und elegant auf seiner Schulter landete. Dirk tätschelte dem glänzenden schwarzen Vogel abwesend den Kopf, ohne den Blick von den Darklands abzuwenden. Dort schien alles ruhig und friedlich zu sein.

Dave hüpfte auf den unteren Rand des dunklen Lochs, das zu einer anderen Welt führte – er saß nun praktisch auf der Grenze zwischen dieser und der fernen, anderen Welt. Saß da und starrte mit seinen rot glühenden Augen den Turm an. Und dann krächzte er, als ob er den Turm wiedererkannt hätte.

Dirk setzte sich ruckartig auf, verblüfft und geschockt zugleich. Wieso konnte der Vogel auf dem Rand des Visionsfensters wie auf einem Fenstersims sitzen? Es sollte doch gar keinen Sims geben, denn nichts konnte durch die Öffnung dringen, nur der Blick und Geräusche, und selbst diese anscheinend nur in eine Richtung. Dirk trat schnell näher und betrachtete die Sache aus der Nähe. Kein Zweifel: Dave hockte halb in den Darklands! Dirk streckte die Hand aus, bekam aber keinen »Sims« zu fassen. Für ihn existierte kein »greifbares« Fenster, wohl aber für Dave die Sturmkrähe.

Natürlich!, dachte Dirk aufgeregt. Dave war doch eine Sturmkrähe – eine Art magischer Herold oder Vorbote des Unheils! Daher war es durchaus logisch, dass ein magischer Bote leicht zwischen den Welten hin und her reisen konnte, jedenfalls leichter als ein Mensch oder gar ein Dunkler Lord, denn dazu waren Sturmkrähen schließlich da. In Dirks Kopf jagten sich die Gedanken. Jetzt konnte er Botschaften in die Darklands schicken und seine Untertanen wissen lassen, dass er lebte und dass es ihm gut ging! Dass sie die Stellung halten sollten, bis er sich einen Weg ausgedacht hatte, wie er Gargon und Rufino wieder nach Hause zurückschicken konnte – und ob er gleich selbst mitgehen sollte oder nicht. Den Brief konnte er an Daves Bein binden, wie die Menschlinge das mit ihren Brieftauben machten. Und dann musste er Dave nur noch befehlen, ihn zu Agrasch zu bringen!

»JAAAA!«, schrie Dirk, sprang auf, legte die Fingerspitzen vor der Brust zusammen und lachte sein dämonischhämisches Lachen. »MUAH-HAH-HAAAH!!!«

»Nun sei endlich still und geh schlafen!«, rief Mrs Purjoy scharf – direkt vor seiner Zimmertür.