DIE HÖHLE DER SCHWARZEN HEXE

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Durch den kleinen Durchgang gelangten die drei in eine geräumige Felsenhöhle, kaum kleiner als eine Halle. Dirk vermutete, dass sie sich nun mitten im Berg befanden. Weit auf der anderen Seite der Höhle blubberten und rülpsten kleine Tümpel von rot glühendem Magma still vor sich hin und warfen einen flackernden roten Schein auf die Felswände, füllten aber zugleich die Höhle mit einer drückenden Hitze, die schlimmer war als alles, was Dirk und seinen Freunden bisher widerfahren war. Uralte, gewaltige Stalagmiten und Stalaktiten schufen ein chaotisches scharfzackiges Panorama. Quarzschichten zogen sich durch die Felswände und glitzerten rötlich wie Rubine.

Die Höhlenhalle hätte wunderschön sein können – wenn sie nicht die Höhle der Schwarzen Hexe gewesen wäre.

Weiter entfernt, jenseits des Waldes aus Tropfsteinen, entdeckten sie eine Art Tür in der Höhlenwand.

Sie rückten vorsichtig darauf zu, spürten aber zugleich, dass sie immer stärker von einem furchtbaren, grausamen Durst geplagt wurden. Dirk ging voran, die Ringhand ausgestreckt, jederzeit bereit, schon beim geringsten Anlass den Wutrasenden Flammenstoß zu entfesseln. Im glühenden Widerschein des Magmas wanden sich die Runen auf dem Ring stärker als jemals zuvor, als ob sie vergeblich versuchten, sich aus der feurigen Hitze zu retten.

Urplötzlich trat eine zerlumpte Gestalt hinter einem dicken Stalagmiten hervor. Die Schwarze Hexe! Sie blieb stehen, die Arme angewinkelt, die Klauen ausgestreckt wie ein sprungbereiter schwarzer Panther – eine Meuchelmörderin, gekleidet in zerschlissene schwarze Spitze, bedrohlicher als der schlimmste Albtraum.

»Oooh, wen haben wir denn da?«, krächzte sie mit knochentrockener Stimme. »Wie schön, dass ihr mich besuchen kommt, meine süßen Kinderchen, wie lieb von euch! Oh, wie wunderbar tief werde ich heute um euch trauern, oh ja!«

Sie schlich sich ein wenig näher heran.

Dirk streckte ihr den Zeigefinger seiner Ringhand entgegen. »Keinen Schritt näher, Lady Gram, denn obwohl ich im Körper eines mickrigen Menschlings gefangen bin, bin ich noch immer der Dark Lord, der Besitzer des Großen Rings der Macht!« Und er entfesselte den Wutrasenden Flammenstoß, der mit gewaltigem Donner aus dem Ring schoss und auf den dicken Stalagmiten prallte, neben dem die Schwarze Hexe stand.

Der Stalagmit zersplitterte in winzige scharfkantige Stücke, die auf die Schwarze Hexe niederprasselten. Sie sprang voller Entsetzen zurück und fiel neben einem weiteren dicken Stalagmiten auf die Knie,

»Mylord!«, kreischte die Hexe. »Haltet ein, zügelt die Schreckenshand, ich flehe Euch an, ich wusste es nicht!« Flehend rang sie die Hände, klickend verschränkten sich die Eisenkrallen zu einem giftigen Stachelgeflecht.

Dirk verschränkte hochmütig die Arme, aber insgeheim erleichtert, dass das gefährliche Abenteuer so glimpflich auszugehen schien. Suus dagegen stützte die Hände in die Hüften, schaute ihn von der Seite an und murmelte: »So ein Macho!« Dirk grinste selbstzufrieden.

»Das ging viel zu leicht, wenn du mich fragst«, sagte Chris zweifelnd.

»Unsinn! Sie hat nur einfach gemerkt, mit wem sie es hier wirklich zu tun hat!«, sagte Dirk verächtlich. »Das habt Ihr doch, Mylady? Endlich wird Euch klargemacht, wo Ihr steht!« Er richtete sich zu voller Größe auf, also nicht sehr groß, aber der mächtige Ring sorgte dafür, dass er viel größer wirkte, und verlieh außerdem seiner Stimme einen herrischen, majestätischen Ton.

Die Schwarze Hexe neigte unterwürfig den Kopf. Dirk warf Chris einen triumphierenden Blick zu, bevor er sich wieder an die kniende Hexe wandte.

»Ich werde dich verschonen, trotz deines Verrats«, verkündete er hoheitsvoll. »Aber nur unter einer Bedingung!«

»Nennt sie, Eure Dunkle Majestät!«, krächzte die Schwarze Hexe und senkte den Kopf noch tiefer.

»Ich brauche ein oder zwei Tränen von Euch, das ist alles«, sagte Dirk.

Lady Gram blickte überrascht auf und stützte sich beim Aufstehen auf den mächtigen Stalagmiten neben ihr. Mit der anderen Eisenkrallenhand machte sie eine zustimmende Geste.

»Ich habe viele Tränen des Grams vergossen …«, sagte sie.

Und blitzschnell stieß sie den Stalagmiten an – und eine Geheimtür sprang auf!

»… und noch viel mehr Tränen werde ich über euren Leichen vergießen!«, kreischte sie und verschwand durch die Geheimtür in dem Stalagmiten, bevor Dirk auch nur reagieren konnte.

Dirk fasste sich sofort wieder und sprang vor, aber es war schon zu spät. Er hörte nur noch ein Klicken, als die Geheimtür zuschlug. Verzweifelt rüttelte er an dem Stalagmiten und suchte nach einem Mechanismus, mit dem sich die Geheimtür öffnen ließ, fand aber nichts.

»Hab dich gewarnt«, kommentierte Chris.

Dirk knurrte wütend, trat einen Schritt zurück und jagte einen Flammenstoß aus dem Ring auf den Stalagmiten. Er explodierte mit einem gewaltigen Donnerschlag, glitzernde Splitter wirbelten durch die Luft und eine Staubwolke stieg auf. Aber von der Schwarzen Hexe war nichts zu sehen.

»He, pass auf!«, rief Suus. »Was ist, wenn sie noch irgendwo da drin ist und du sie gerade gegrillt hast? Wir brauchen sie lebend!«

Dirk schnitt eine Grimasse. »Du hast recht, ich weiß. Bin für einen Moment ausgerastet.«

»Aber wohin ist sie eigentlich verschwunden?«, fragte Chris.

»Keine Ahnung. Geheimgang, denke ich«, antwortete Suus.

»Na gut, gehen wir weiter«, sagte Dirk. »Durch die Tür dort drüben. Ich wette, dahinter liegt ihr inneres Heiligtum. Vielleicht finden wir dort ein paar Tränen.«

Sie zogen los, Dirk voraus, die Ringhand kampfbereit vorgereckt. Sie mussten sich mühsam einen Weg durch den dichten Wald der Tropfsteinsäulen suchen.

Eine Minute verstrich. Sie kamen der Tür immer näher. Noch eine Minute.

Auf einmal klickte es laut – und aus einem anderen Stalagmiten direkt neben ihnen sprang mit einem gewaltigen Satz die Schwarze Hexe. Sie stürzte sich auf Dirk, schrie »Vertrag ist Vertrag!« und riss ihm mit ihren Krallen eine Wunde in den Arm, bevor er auch nur etwas sagen oder ihr ausweichen konnte. Dirk stöhnte auf vor Schmerz und zielte mit dem Ring auf sie, aber schon war sie wieder durch die Geheimtür verschwunden.

Dirk fiel auf die Knie. Brennende Schmerzen zuckten durch den verwundeten Arm. Er hatte gerade noch genug Kraft, den Stalagmiten mit seinem Ring zu sprengen, doch dann brach er auf dem felsigen Boden zusammen und konnte sich kaum noch rühren.

Aus der Ferne war das gackernde Triumphgelächter der Hexe zu hören.

»Dirk! Nein!«, schrie Suus auf und kniete neben ihm nieder. Kreidebleich und verstört stand Chris daneben.

Schon erschien unter Dirks Haut ein dünnes Netz von schwarzen Linien. Schweiß trat auf seine Stirn.

»Lähmung … fängt an … schnell … Gegengift …!«, brachte Dirk mühsam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sein Gesicht war vor Schmerzen verzerrt.

Schnell fummelte Suus in ihrer Tasche herum, zog die kleine Flasche mit dem Elixier heraus, die Dirk ihr gegeben hatte, und träufelte ihm den Inhalt in den Mund.

Dirk rang bereits nach Luft, sein Atem ging stoßweise und keuchend … Suus nahm seine Hand. »Nein, du darfst nicht sterben, Dirk, bitte, stirb nicht!«, flehte sie, die Augen voller Tränen. Dirk schaute zu ihr auf und drückte ihre Hand. Sprechen konnte er nicht mehr.

Doch dann ließen die Schmerzen nach. Er konnte wieder atmen. Das filigrane schwarze Spinnwebmuster, von dem seine Haut überzogen war, verblasste. Suus legte die Hand auf seine Stirn.

»Ich glaube, du kommst durch!«, sagte sie. »Das Gegengift wirkt!«

»Danke, Suus«, flüsterte Dirk.

Suus tätschelte ihm die Hand. »Ich glaube, wir sollten die Sache abbrechen, höchste Zeit, wieder nach Hause zurückzukehren, meinst du nicht auch?«

Dirk setzte sich hustend auf. »Ah, das ist besser … Nein, wir dürfen jetzt nicht aufgeben. Von dieser garstigen alten Hexe lassen wir uns nicht besiegen!«, sagte er trotzig. »Ich habe immer noch den Ring, oder nicht?«

»Aber es ist so gefährlich«, sagte Chris. »Was ist, wenn ich als Nächster dran bin? Oder Suus?«

»Ich gebe nicht auf, basta!«, sagte Dirk.

Chris schüttelte den Kopf. »Die ganze Sache läuft total aus dem Ruder, Dirk. Wir sind doch noch Kinder!«

Dirk stand auf. »Wie auch immer: Ich gebe nicht auf. Ihr könnt nach Hause gehen, wenn ihr wollt.«

»Aber Chris hat recht, Dirk, sei doch vernünftig! Wir können uns immer noch etwas anderes überlegen, um Hasdruban zu besiegen, wenn wir wieder zu Hause sind. Bei solchen Plänen bist du einfach genial, Dirk, dir fällt ganz bestimmt etwas ein!«

»Wieder einmal muss ich deine Schmeicheltechnik bewundern, mein kleines Goth-Girl, aber nein – wir müssen weiterkämpfen. Das ist unsere beste Chance, und wenn wir ohne die Träne nach Hause gehen … Na, dann wird mich Hasdruban irgendwann kalt erwischen, versteht ihr das denn nicht? Er ist der Schulleiter und er hält die besten Karten in den Händen!«

Chris hatte mit verschränkten Armen zugehört. »Das«, sagte er nachdenklich, »ist kein schlechtes Argument.«

Suus runzelte die Stirn. Dann stand sie auf, drehte Dirk den Rücken zu und wies mit einer leichten Kopfbewegung auf Chris' Rucksack.

Chris schaute sie verständnislos an und hob fragend eine Augenbraue. Sie wies mit dem Kinn noch einmal, aber diesmal deutlicher, auf seinen Rucksack.

»Benutz den Kristall«, flüsterte sie, »los, schnell!«

Dirk hatte noch nichts bemerkt. Er untersuchte gerade die Stalagmiten.

»Bestimmt sind die Stalagmiten von Geheimgängen durchlöchert. Ich könnte vielleicht alle, die an unserem Weg zum Durchgang stehen, wegblasen, dann wäre es sicher«, überlegte er laut. »Wenn ich nur nicht so durstig wäre!«

Chris dachte kurz nach. Dann griff er in seinen Rucksack, nahm aber nicht den Anathema-Kristall heraus, sondern eine Trinkflasche, auf der »Dark Lord« geschrieben stand – die Flasche, die er Dirk schenken wollte.

Einen Augenblick lang zögerte er, doch dann fasste er einen Entschluss. »Durstig? Hier hast du was zu trinken, Dirk – die Flasche habe ich für dich als Geschenk mitgebracht.«

»Bei den Neun Höllen, Chris, ich danke dir!«, sagte Dirk, streckte Suus die Hand hin, damit sie ihm auf die Beine half, und nickte ihr gleichzeitig zu, ihm die Flasche zu reichen.

Suus streckte die Hand aus und nahm die Flasche von Chris entgegen, um sie an Dirk weiterzureichen.

»Trink einen Schluck, Dirk, das wird deinen Durst für eine Weile stillen«, sagte Chris.

Suus hielt mitten in der Bewegung inne. »Gute Idee«, sagte sie. »Ich sterbe auch fast vor Durst. Ich darf mir doch einen Schluck nehmen?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte sie die Flasche an die Lippen.

»NEEEEEEIIIIIIN!«, schrie Chris, so laut er nur konnte. Aber es war schon zu spät: Suus hatte einen kräftigen Schluck getrunken.

Bei Chris' Schrei hatte Suus erschrocken die Augen aufgerissen – instinktiv wollte sie die Flasche von ihrem Mund wegreißen, aber dann schmeckte sie, was sich darin befand. Und konnte nicht mehr widerstehen. Es schmeckte wie … Befreiung. Freiheit. Keine Vorschriften, kein »Benimm-dichanständig« mehr. Nur noch Suus zählte, Suus, die tun und lassen konnte, wie es ihr gefiel. Sie schmatzte genießerisch, setzte die Flasche wieder an die Lippen und trank sie, einen gierigen Schluck nach dem andern, vollständig leer.

»Was ist? Was ist denn?«, rief Dirk völlig verwirrt, während er sich aufrappelte.

Chris schaute Dirk entgeistert an. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Furcht und Entsetzen über das, was er getan hatte. Voller Angst wich er zurück.

»Essenz des Bösen, Dirk«, flüsterte er heiser, »Essenz des Bösen!«