LIEBESKÜSSE … AUF VAMPIRART

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Da war von weiter vorn ein Krachen und Donnern zu hören.

»Der Ring!«, sagte Dirk.

Es folgte ein lautes Kreischen, dann noch ein Krachen. Was ging da vor? War Suus in Gefahr?

Sie hörten schrilles Gelächter. Nicht das irre, meckernde Kichern der Hexe, sondern ein helles, glockenreines Lachen, das aber durch und durch böse klang.

»Hi-he-hi-he-hi-he!«, tönte es und wurde als Echo von allen Seiten der Höhle zurückgeworfen.

»Das ist wohl Suus' Version deines ›Muah-hah-haaah‹, glaube ich«, sagte Chris.

»Ja, es klingt so«, nickte Dirk. Er wandte sich zu Chris um. »Du hast recht, Chris. Ich habe dich wirklich nicht gut behandelt. Und ich habe dir eine Menge Probleme und Leid zugefügt. Das tut mir leid.«

Chris schaute ihn ein paar Augenblicke schweigend an. Dann seufzte er tief auf. »Schon okay, Dirk. Ich weiß, du hast es eigentlich nicht so gemeint. Es hat wohl eher damit zu tun, wer du bist … dass du gar nicht anders kannst, glaube ich.«

»Du verzeihst mir also?«, fragte Dirk.

»Ja, okay, und mir tut es leid, dass ich den Trick mit der Essenz … He – warte mal …«, unterbrach er sich. »Du hast dich gerade entschuldigt! Dark Lords entschuldigen sich niemals!«

Dirk schaute verlegen weg. »Ach was, ich bin nicht mehr der Dark Lord, der ich früher mal war, glaube ich. Und manchmal muss man sich eben bei seinen Freunden entschuldigen, oder nicht? Vor allem, wenn es dein Bruder ist.«

Chris lächelte ihn an. Es fühlte sich echt gut an, Dirk so etwas sagen zu hören.

»Na gut, Bruder«, sagte er und klopfte Dirk auf den Rücken. »Schwamm drüber. Wie geht's dem Finger?«

»Tut ein bisschen weh, aber Suus hat recht. Ist nur ein Kratzer.«

Chris hob eine Augenbraue. »Ihr bösen Herrscher seid wirklich seltsame Typen.«

»Da kommt sie.« Dirk nickte zum hinteren Ende der Höhlenhalle. Die Königin der Vampire rauschte daher, mit wehendem rotem Umhang, und ab und zu zischte sie vorwärts wie ein blitzendes Wurfmesser, um dann wieder ein paar Schritte normal zu gehen.

»Gib mir den Kristall!«, sagte Dirk schnell. »Sie glaubt, du hast ihn, aber vielleicht kann ich nahe genug an sie herankommen, um ihn benutzen zu können.«

Chris nickte und gab ihm den Kristall. Doch dann zögerte er. »Und was ist, wenn sie mich irgendwo einsperrt oder so? Wenn ich es nicht schaffe, nah am Kristall zu sein? Dann würde ich ewig hier in den Darklands bleiben müssen, zusammen mit der Hexe!«

»Leuchtet mir ein«, sagte Dirk und fuhr hastig fort: »Wenn das passiert, schreie ich rechtzeitig ›JETZT!‹ und dann rennst du so nahe wie möglich zum Kristall. Keine Angst, ich sorge dafür, dass wir alle drei von ihm mitgenommen werden.«

Suus kam grinsend (also mit gebleckten Reißzähnen) näher. Sie hielt eine kleine, dickbäuchige Flasche in einer Hand und ein Stück abgerissene schwarze Spitze in der anderen. Ein paar Schritte entfernt blieb sie stehen, außerhalb der Reichweite des Kristalls.

»Das hier«, sagte sie und hielt die Flasche hoch, »ist die Träne, mein Lieber!«

»Ist die Hexe tot?«, fragte Dirk.

»Aber nein! Sie ist viel zu hübsch, um getötet zu werden. Und davon abgesehen viel zu nützlich! Nein, wir haben uns … äh, geeinigt.«

»Dann kann ich also die Träne haben«, sagte Dirk und trat vorsichtig einen Schritt näher.

»Bleib, wo du bist!«, bellte die Vampirkönigin. »Ich weiß, dass du den Kristall hast und dass du planst, ihn zu benutzen, ›um mich vor mir selbst zu retten‹ oder aus irgendeinem anderen blödsinnigen Grund!«

»Chris hat den Kristall«, sagte Dirk.

»Ich wette meinen Kopf, dass du lügst, Dirkilein!«

»Nenne mich nicht so!«, fauchte Dirk wütend.

»Dirkilein!« Suus lachte glockenhell, aber böse. »Und nun tut, was ich sage! Chris, mindestens zehn Schritte Abstand hinter Dirk und so weit wie möglich von mir weg! Ihr könnt euch eure Kristall-Tricks sparen!«

Dirk nickte Chris zu und die beiden Jungen wichen auseinander. Vielleicht keine zehn Schritte, aber nicht viel weniger.

»So ist es gut, Dirkilein. Ich hab ihr mehrere Tränen abgenommen, mehr als genug, würde ich denken.« Suus warf Dirk die Flasche zu, der aber nicht schnell genug reagierte. Die Flasche fiel klirrend auf den Boden. Dirk bückte sich und hob sie auf.

»Und jetzt«, fuhr Suus fort, »stellst du dich neben Chris, wirfst den Kristall und ihr beide verschwindet von hier. Mach schnell, Dirkilein, bevor ich es mir anders überlege und dich zum Eisernen Turm mitnehme und in den Kerker werfe, wie du es mit mir gemacht hast!«

Dirk stemmte die Hände in die Hüften. »Alles schön und gut, aber wie willst du selbst hier herauskommen? Du bist jetzt mindestens so groß wie Rufino!«

»Ach, bitte, meinst du nicht, dass ich mir das nicht schon selbst überlegt hätte? Als Gegenleistung, dass ich sie am Leben ließ, hat mir die Schwarze Hexe einen anderen Ausweg gezeigt. Der Berg hat mehr Löcher als ein Schweizer Käse!«

»Und das glaubst du ihr?«, fragte Dirk ironisch.

»Oh ja, ich glaube es ihr. Ich hab so meine Methoden, die Wahrheit zu erfahren. Es ist ihr nämlich vollkommen klar, dass ich sie im Nu aussaugen könnte – als Vampirin bin ich viel, viel schneller als sie und Vampire sind außerdem gegen Gift immun.«

Dirk schaute sie nur an. Kurze Zeit herrschte Stille.

Schließlich sagte Suus: »Mach es dir endlich klar, Dirk: Als Dark Lord bist du erledigt. Du musst nach Hause und ich bleibe hier. He, du musst das auch mal positiv sehen: Mit Lady Grams Tränen hast du eine echte Chance gegen Hasdruban. Und wenn du es nicht schaffst und die Sache vermasselst, werde ich einfach ein Heer von Orks und Kobolden aufstellen und in die Vereinigten Gut-Staaten einfallen. Dann müsste Hasdruban sofort zurückkehren, um sein Land zu verteidigen. Und was dann passiert, ist glasklar: Ich besiege ihn und sauge ihm den letzten Tropfen Blut aus. Vielleicht.«

Dirk und Chris warfen sich einen kurzen Blick zu. Beide waren sehr blass geworden. Es war wirklich entsetzlich, Suus so reden zu hören.

»Und was wird aus Rufino?«, fragte Dirk schließlich.

Suus runzelte die Stirn. »Rufino …«, murmelte sie.

»Du willst ihn doch nicht umbringen!«, rief Chris empört.

»Nein, nein, das kann ich nicht machen. Ach, wahrscheinlich schicke ich ihn ins Exil oder so«, sagte Suus achselzuckend.

Die beiden Jungen starrten in das gierige Gesicht der Vampirkönigin hinauf.

»Das war's dann wohl, oder?«, sagte Chris schließlich. »Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, trennen wir uns jetzt einfach als Feinde?«

»Genau. Ist auch besser so. Du weißt doch noch, was passierte, als Dirk der Dunkle Lord war? Genau das passiert auch mit mir, es ist unvermeidlich.«

»Aber … aber …«, stotterte Chris.

»Mach dir bloß um mich keine Sorgen! Ich wollte doch schon immer Vampirin sein, oder nicht?«, sagte Suus.

»Ja, schon, aber doch keine echte, kein solches Monster …«, sagte Chris.

Suus zuckte die Schultern, sodass ihr Fledermausflügelkragen auf und ab flatterte.

»Na gut, so sei es. Komm her, Chris. Nimm den Kristall, nur für uns beide«, sagte Dirk und winkte Chris heran.

Chris zögerte verwirrt. Dirk hatte doch selbst den Kristall …?

»Komm schon, du Idiot! Wir haben nicht mehr viel Zeit und könnten längst unterwegs sein – warum sollen wir unsere Zeit noch an Suus verschwenden, frag ich dich?«

Chris trat einen Schritt näher, völlig verunsichert, was Dirk vorhatte.

»Bleib, wo du bist, Chris. Dirk muss zu dir gehen!«, befahl ihm Suus mit fast hypnotischer Stimme.

Chris erstarrte, als sei er verhext worden. Aber jetzt endlich begriff er. Dirk hatte Suus tatsächlich dazu gebracht zu glauben, dass er, Chris, den Kristall in der Tasche hätte. Clever!

Suus hatte die Hände in die Hüften gestemmt und stampfte nun wütend mit dem schweren Stiefel auf den Felsboden, sodass eine kleine Staubwolke aufstieg.

»Und überhaupt: Was soll das heißen, dass ihr keine Zeit an Suus verschwenden wollt? Ist es das, was du wirklich denkst, Dirk, du böser, mickriger … Junge?«,rief sie und wurde offenbar immer wütender.

»Na ja, du wolltest ja unbedingt Vampirkönigin werden. Mir doch egal. Du bist mir so was von schnurz und piepe«, sagte Dirk verächtlich.

Suus riss die Vampiraugen auf. »Du … du … bist … ooohhh!, du …«, keifte sie außer sich vor Wut, machte einen Schritt auf Dirk zu und ballte die Fäuste. Ihre Augen sprühten förmlich Feuer. »Du bist mir auch total schnurz und piepe, wenn ich dich ausgesaugt habe!«

»Kannst du gar nicht«, sagte Dirk. »Du bringst es nicht fertig, mich zu töten, weil du mich zu sehr liebst, stimmt's?«

»Was?«, fauchte Suus und kam noch näher. »Warum sollte ich ausgerechnet dich lieben …?« Doch als sie das sagte, brach ihr die Stimme. Widersprüchliche Gefühle kämpften in ihr – gute und böse, Liebe und … na ja, eben das übliche Vampirzeug.

Dirk schaute sie an. »Aber das stimmt nicht, du bist mir nicht egal – du würdest mir nämlich sehr fehlen«, sagte er und plötzlich standen Tränen in seinen Augen. »Weil ich dich liebe, Suus.«

Suus Kinnlade fiel herab; ein Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Na gut, was bei Vampiren als Strahlen durchgehen mochte: ein rötlich blasses, geisterhaftes vampirisches Glühen, aber immerhin strahlte da etwas. Ihr roter Mund verzog sich zu einem raubtierhaften Lächeln.

»Oh, Dirk!«, säuselte sie und trat nun dicht zu ihm. »Ich liebe dich doch auch!«

»JETZT, Chris!JETZT!«, schrie Dirk, zog schnell den Kristall aus der Tasche und hielt ihn wurfbereit in der Hand.

Chris' Herz hatte allerdings gerade ein paar heftige Stiche der Eifersucht einstecken müssen, während er dem Liebesgeflüster von Dirk und Suus gelauscht hatte. Deshalb reagierte er ein wenig langsamer als sonst. Doch obwohl er sofort nach vorn schnellte, musste Dirk den Wurf einen Lidschlag lang hinauszögern.

Das gab Suus gerade genug Zeit zu reagieren. Und sie war schnell, vampirisch schnell. »Du hast mich hereingelegt!«, kreischte sie mit schriller Vampirstimme. Mit einer Hand packte sie Dirk am Handgelenk und riss ihm den Kristall aus den Fingern. Mit der anderen Hand packte sie ihn am Kragen, riss ihn zu sich hoch und fauchte ihm direkt ins Gesicht. »Ich töte dich!«, zischte sie, bleckte ihre Reißzähne und besprühte Dirk mit Vampirspeichel.

»Ich hab's nur für dich getan!«, stieß Dirk verzweifelt hervor. »Nur für dich! Weil ich dich liebe, weil ich dich retten wollte!«

Suus blinzelte einen Augenblick lang verwirrt, nur halb überzeugt. Dirk wischte sich den Vampirspeichel vom Gesicht. Doch dann kniff er die Augen zusammen – ihm war eine Idee gekommen.

Unvermittelt beugte er sich vor und küsste Suus mitten auf den Mund. Sie riss vollkommen überrascht die Augen auf.

Dann begann sie, sich zu wehren, versuchte, sich von dem Kuss zu lösen. Aber nun geschah etwas Seltsames. Suus, die Vampirkönigin, viel stärker, größer, schneller, tödlicher als der kleine Junge Dirk, konnte sich nicht befreien. Eine noch größere Kraft schien sie festzuhalten, die nicht von Dirk ausging.

Und Suus begann zu schrumpfen, wegzuschmelzen. Ihre Blässe verschwand, ihre Gesichtsfarbe wurde wieder gesünder und menschlicher. Gleichzeitig veränderte sich auch Dirk: Er wuchs, sein Körper verwandelte sich in die Gestalt des Dunklen Lords, ein riesiges Geweih wuchs aus seinem Kopf, die Beine wurden zu großen, baumstammdicken Geißbockbeinen, schwarze Krallen sprangen aus seinen Händen, blanke Schädelknochen brachen durch seine Gesichtshaut.

Durch den Kuss konnte die Essenz des Bösen an ihren eigentlichen Ursprungsort zurückkehren: in den Körper des Dark Lords. Denn sie gehörte nun einmal nicht in den Körper einer dreizehnjährigen Schülerin aus einem englischen Provinznest, auch wenn dieses Mädchen das Zeug zu einer echt coolen Vampirin hatte, mit dem Großen Ring der Macht herumfuchteln konnte und einmal sogar als Mondkönigin über die Darklands geherrscht hatte. Nein – die Essenz des Bösen gehörte in den Körper des Dunklen Lords, sie war der Dunkle Lord.

Und Suus war wieder die alte Suus. Schwach, erschöpft und unglücklich ließ sie sich auf den Boden sinken. Chris lief zu ihr, kniete neben ihr nieder und legte ihr den Arm um die Schulter.

Dirk jedoch ragte in seiner vollen Dark-Lord-Gestalt über ihnen empor, legte den Kopf in den Nacken und brüllte: »ICH BIN WIEDER DA!MUAH-HAH-HAAAH!«

Und das große Gelächter des Dark Lord echote wie ein gewaltiger Donner durch die Höhlenhalle.

Suus' Blick wanderte zu ihrer eigenen Hand – in der sie immer noch den Anathema-Kristall hielt. Sie schaute Chris an, der ihr still zunickte. Sie hob die Hand …

»Nein, warte!«, schrie Dirk, als er das sah. »Ich hab's mir überlegt! Ich will doch lieber ein Dark Lord bleiben!«

Suus warf den Kristall auf den Boden. Er zersplitterte in kleinste Stücke und wirbelte eine Staubwolke auf, die wie Tausende winzigster Diamanten glitzerte und Suus, Chris und Dirk einhüllte. Der Dark Lord starrte voller Entsetzen herab.

»AAAAIIIIEEEE!!! Ich hab mich selbst ausgetrickst!«, heulte der Dark Lord auf.

Und alle drei fielen ins Dunkle …