Am nächsten Tag stand Dirk vor dem Büro des Schulleiters. Bei ihm war Mrs Killroy – sie war es gewesen, die ihn »zu einem Orientierungsgespräch mit dem Rektor begleiten« wollte, weil er seltsame Hausaufgaben abgeliefert hatte (die dieser elende Kobold Aknus für ihn hatte erledigen müssen). Hausaufgaben, die dermaßen ungezogen, frech, unanständig usw. usw. erledigt worden waren, dass sie Dirk den heutigen Termin beim Herrn des Schicksals eingebrockt hatten.
Es würde die letzte große Konfrontation werden. Dirk wusste, was der Schulleiter für ihn vorbereitet hatte – eine Falltür und eine Grube, gespickt mit scharfen Spießen. Aber was Hasdruban nicht wusste, war, dass Dirk die Stromkabel der Falltür umgepolt hatte. Vielleicht wäre der Stromschlag stark genug, um Hasdruban so lange außer Gefecht zu setzen, dass Dirk ihn zwingen konnte, einen Fruchtgummi zu schlucken.
»Na, wir werden ja sehen, wer am Schluss triumphiert«, sagte Dirk und legte die Fingerspitzen vor der Brust aneinander. Er wollte gerade sein »Muah-hah-haaah!« loslassen, als er Mrs Killroys wütenden Blick auffing.
Er lächelte sie an. Sie blickte schnell weg und klopfte an die Tür, die fast sofort geöffnet wurde. Und vor ihnen stand der Schulleiter, in seinem üblichen weißen Anzug, mit langem weißem Bart und unglaublich buschigen weißen Augenbrauen. Und einer dunklen Brille. Mit weißem Gestell.
»Ah, Dr. Hasdruban«, sagte Mrs Killroy. »Ich bringe Ihnen Dirk Lloyd, der gegen die Disziplin der Schule verstoßen hat.«
»Gut, gut«, sagte Hasdruban. »Ich übernehme von hier an, Mrs Killroy. Sie«, setzte er beiläufig hinzu, »können gehen.« Er wedelte sie mit einer Handbewegung weg.
»Ähm … das entspricht eigentlich nicht … den Vorschriften … Ich sollte eigentlich dabei sein …«, stotterte Mrs Killroy.
»Machen Sie sich nur keine Umstände. Ich kümmere mich selbst um die Angelegenheit. Und nun gehen Sie schon, Mrs Killroy«, sagte Hasdruban. »Los, gehen Sie!«
»Aber … aber …«
»Kein Aber, Mrs Killroy! Ich bin hier der Schulleiter, und wenn ich sage, dass ich mich darum kümmere, dann bleibt es dabei!«, sagte Hasdruban scharf, wobei sein Bart vor lauter Macht zitterte.
»Jawohl, Sir«, nickte Mrs. Killroy gehorsam, von so viel Macht eingeschüchtert. So waren Weiße Zauberer eben. Sie schaute kurz auf Dirk hinunter, runzelte die Stirn und ging davon.
»Komm herein … äh, Dirk«, sagte Hasdruban, trat beiseite und wies ihn mit einer lässigen Geste zu dem Besucherstuhl vor seinem mächtigen Eichenschreibtisch.
Dirk lächelte zu ihm auf. »Hallo, Herr … äh … Rektor«, grüßte er artig, schlenderte in den Raum und setzte sich auf den Besucherstuhl. Obwohl der Stuhl eigentlich eine Falle war, freute sich Dirk wie ein Schneekönig, als er sich darauf niederließ. Gleich würde er zu sehen bekommen, wie der Schuss des Weißen Zauberers nach hinten losging!
Hasdruban lächelte, schloss die Tür, ging um den großen Schreibtisch und setzte sich auf den thronartigen Sessel.
»Nun, äh, Dirk«, sagte er, »fangen wir an.« Beiläufig legte er eine Hand in den Schoß, knapp unterhalb der Schreibtischplatte.
Dirk wusste genau, wo sich die Hand befand – sie lag bereit, um den Knopf zu drücken und den Mechanismus auszulösen, durch den der Besucherstuhl nach unten gekippt würde. Dirk würde direkt auf mehrere Reihen geschärfter Holzpfähle stürzen, die auf dem Boden der Fallgrube standen. Dachte Hasdruban.
»Ich bitte darum«, sagte Dirk. »Ein Fruchtgummi?« Er legte die geöffnete Packung vor den Rektor auf den Tisch.
Hasdruban warf einen verächtlichen Blick darauf. »Ha! Du glaubst doch nicht, dass ich ein Geschenk des Großen Bösen unbesehen annehmen würde? Du hältst mich wohl für einen Narren?«
Dirk zuckte die Schultern. Natürlich hatte er nicht erwartet, dass dieser Trick funktionieren würde, aber er hatte es wenigstens versuchen wollen. Die Sache mit dem Stromschlag hatte ohnehin viel bessere Chancen.
»Nun, Sir«, sagte Dirk, »ich möchte mich für die mangelnde Qualität meiner Hausaufgaben entschuldigen. Ich habe mich Mrs Killroy gegenüber sehr ungezogen und frech benommen.«
Dr. Hasdruban warf den Kopf zurück und brüllte vor Lachen. »Köstlich, Dunkler, ab-so-lut köstlich! Wen, frage ich dich, interessiert die alte Schachtel schon, diese ausgetrocknete alte Hexe?«
»Aber, aber«, sagte Dirk. »Sie sollten wirklich nicht so schlecht über Ihre Lehrerinnen reden, nicht wahr, Sir? Sollte Mrs Killroy davon erfahren, könnte sie auf die Idee kommen, Sie beim Arbeitsgericht anzuzeigen, Sir, wenn Sie nicht vorsichtig sind!«
»In der Tat!«, lachte Hasdruban herzlich. »Die spinnen doch alle, dieses Menschlinge, meinst du nicht auch? Sind verrückter als eine Bande Kobolde, wenn sie hundert Liter gegorenes Zuckerwasser getrunken haben. Wie dein eigener Kobold … wie heißt er noch mal? Akne oder so ähnlich? Ich nehme doch an, dass er die Hausaufgaben für dich erledigen musste?«
Dirk nickte.
»Die waren schon immer deine größte Schwäche, deine Lakaien«, belehrte ihn Hasdruban. »Deine Orks und Goblins – allesamt hoffnungslos unzuverlässig!«
»Kann schon sein. Aber was ist mit Orks als Panzerbesatzungen? Schon mal daran gedacht?«
Hasdrubans Augen wurden schmal. »Habe ich, in der Tat. Das ist auch der Grund, warum ich dich hier nicht lebend gehen lassen kann, das verstehst du doch bestimmt?«
»Klar verstehe ich das«, sagte Dirk, dem allmählich dämmerte, aus welchem Grund Hasdruban ihn so unversöhnlich verfolgte – Angst. Hätte er eigentlich längst merken müssen, schließlich fürchteten sich alle vor ihm, dem Dark Lord, diesem großartigen, listigen, verschlagenen, bösen Universalgenie!
Dirk legte die Fingerspitzen aneinander und lächelte sein fiesestes Lächeln. »Zu Hause ist doch alles viel klarer und einfacher, nicht wahr?«
»Richtig«, nickte Hasdruban. »Hier ist alles so … kompliziert … Für alles und jedes gibt's hier Vorschriften, Regeln, Gesetze und sonstigen Unfug!«
Der Weiße Zauberer und der Dunkle Lord saßen eine Weile schweigend da und schauten sich an.
»Nun gut«, sagte Hasdruban schließlich, »immer wieder nett, in Erinnerungen zu schwelgen. Aber leider, leider! muss ich jetzt mit meinen Plänen weitermachen.«
Dirk nickte. »In der Tat. Verstehe ich vollkommen.«
Hasdruban machte eine leichte Kopfbewegung zur Seite und rollte auch die Augen in diese Richtung. Dirk verstand nicht, was er damit sagen wollte, und runzelte die Stirn. Hasdruban nickte noch einmal, aber deutlicher, zu einer Zimmerecke hinüber. Dirk drehte sich um und blickte in die Ecke. In der obersten rechten Ecke sah er etwas schwach blinken … ein kleines rotes Licht.
Dann dämmerte es ihm. Heiß und kalt jagten Schauder über seinen Rücken. Eine Überwachungskamera! Das hieß doch … Hasdruban hatte alles beobachtet! Hatte gesehen, wie er sich in das Büro schlich, die Axt versteckte, wie er auf seinem Thron saß – und wie er die Kabel der Falltür umpolte! Er wusste es … Dirk zuckte herum, sah Hasdrubans triumphierendes Grinsen …
»Neeeiiin!«, brüllte er und wollte aufspringen, aber im selben Augenblick drückte Hasdruban auf den Knopf und löste die Sicherung der Falltür. Der Boden unter Dirks Füßen sackte urplötzlich nach unten; verzweifelt versuchte Dirk, sich noch seitwärts aus dem Stuhl zu werfen, aber da war es schon zu spät! Er stürzte in die Grube.
Hasdruban krähte vor Freude.
Doch im letzten Augenblick bekam Dirk die Armlehne des Stuhls zu fassen, der an der Falltür festgeschraubt war. Mit knapper Not klammerte er sich daran fest – sein Leben hing praktisch nur noch an einem seidenen Faden!
Ein Blick nach unten: Die Holzpfähle ragten ihm scharf und tödlich entgegen – fast glaubte er zu hören, wie sie ihn anflehten, doch loszulassen und sich ihren spitzen Zärtlichkeiten hinzugeben. Aber Dirk krallte sich an den Stuhl. Er blickte hinauf.
Hasdruban stand am Rand der Grube und starrte auf ihn hinunter. Dirk schluckte heftig. Er würde sich nicht mehr lange halten können. Und Hasdruban musste ihn nur ein wenig mit dem Fuß kicken oder mit der Stockspitze auf die Hände stoßen, dann würde er ins Verderben stürzen.
Dirk war ihm völlig hilflos ausgeliefert.
Hasdruban schlug voller Schadenfreude die Hände zusammen. »Oh Freude, schönster Götterfunke! Wie lange habe ich auf diesen Augenblick warten müssen und wie wunderbar, wie perfekt ist er nun! Man wird meiner als dem größten Weißen Zauberer aller Zeiten gedenken, man wird mich verehren, ich werde in die Geschichte eingehen, als Held, der endlich, endlich!den Dark Lord vernichtete!«
Dirk schaute hilflos zu ihm hinauf; seine Gedanken überschlugen sich förmlich, während er nach einem Ausweg, irgendeiner Rettung suchte …
Aber da war nichts mehr. Das war es. Das war das Ende. Jetzt würde er doch noch sterben müssen.
Hasdruban lehnte sich an seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme. »Das macht einfach zu viel Spaß«, sagte er und grinste wie ein Idiot auf Dirk hinunter, »ich bringe es einfach nicht über mich, die Sache jetzt schon zu Ende zu bringen!«
Dirks Griff an der Stuhllehne wurde schwächer. Viel länger würde er sich nicht mehr festhalten können.
»Du willst mir doch bestimmt keinen Vorwurf machen, dass ich diesen köstlichen Augenblick noch länger hinauszögern will, nicht wahr? Nicht nach all den Jahren!«, sagte Hasdruban genüsslich.
Geistesabwesend griff er nach der Tüte und warf sich ein Fruchtgummi in den Mund. Er kicherte irre und begann zu kauen.
Nach ein paar Augenblicken veränderte sich seine Miene. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Der Kopf begann, so heftig zu zucken, dass ihm die Brille von der Nase geschleudert wurde. Seine vollkommen schwarzen Augen kamen zum Vorschein. Er stieß einen unartikulierten, wilden Schrei aus und schlug sich die Hände vors Gesicht. Eine schwarze, gelartige Substanz quoll zwischen seinen Fingern hervor, rann über die Hände und befleckte die Ärmel seines bisher makellos weißen Anzugs.
Dirk blieb buchstäblich der Mund offen stehen. Er hatte nicht erwartet, dass die Tränen so radikal wirken würden!
»Was geschieht mir?«, schrie der Weiße Zauberer und fiel auf die Knie, Hände und Ärmel, nun übersät mit dunklen Streifen und Flecken, als hätte er ein Pultfass schwarze Tinte verschüttet. Erschüttert und vollkommen erschöpft ließ er die Hände vom Gesicht fallen. Und seine Augen wurden sichtbar.
Helle blaue Augen. Schöne, vollkommen menschliche Augen.
»Oh mein Gott! Mein armer, armer Junge!«, rief Hasdruban, als er Dirk hilflos am Stuhl hängen sah. Schnell streckte er ihm die Hand hin und zog ihn aus der Grube. »So, schon besser, nicht wahr, mein Junge? Wie konnte denn das … Alles in Ordnung, mein Sohn?«
»Viel besser – ja, alles in Ordnung, danke!«, sagte Dirk. Innerlich jubelte er: Sein Plan war doch noch aufgegangen – Hasdruban hatte die Träne geschluckt und konnte nun Mitgefühl und Fürsorge für andere Menschen empfinden. Sogar für ihn, den Dark Lord!
Er legte die Fingerspitzen aneinander und lachte.
»Muah-hah-haaah!«