I.

DER FREIGEIST – LIBERTÄRE WELTSICHT

I remain committed to the faith of my teenage years: to authentic human freedom as a precondition for the highest good. I stand against confiscatory taxes, totalitarian collectives, and the ideology of the inevitability of the death of every individual. For all these reasons, I still call myself »libertarian«.

Peter Thiel1

Das Libertäre Manifest

Für Peter Thiel ist die persönliche Freiheit das höchste Gut überhaupt. Die Politik und ihre Gesetze sieht er als Bevormundung aufgeklärter, freiheits- und fortschrittsliebender Menschen an. In seinem viel beachteten Essay ›The Education of a Libertarian‹ legte er im Frühjahr 2009 seine ungeschminkte Sichtweise auf die Politik und seine Weltsicht dar.

Er sei, so beginnt der Essay, seinen Ansichten seit seiner Zeit als Teenager treu geblieben. Er stemmt sich gegen Steuererhebungen, die »beschlagnahmenden« Charakter haben, und lehnt totalitäre Systeme, aber auch die »Ideologie von der Unausweichlichkeit des Todes jedes Einzelnen«, ab.

Thiel berichtet von seiner Zeit als Philosophiestudent Ende der 1980er-Jahre, als er sich zu den »Geben-und-Nehmen«-Debatten hingezogen fühlte, mit dem Verlangen, Freiheit durch politische Mittel zu erreichen. Die Gründung der studentischen Stanford Review sollte die vorherrschende Rechtgläubigkeit auf dem Campus herausfordern. Doch selbstkritisch merkt Thiel an, dass er und seine Mitstreiter angesichts des geleisteten Aufwands wenig erreicht hätten. »Viele der Auseinandersetzungen fühlten sich an wie der Grabenkrieg an der Westfront des Ersten Weltkriegs; es gab zahlreiche Gemetzel, aber wir gelangten nicht zum Zentrum der Debatte.«

Während seiner Zeit als Anwalt und Hedgefondsmanager in Manhattan in den 1990er-Jahren begann Thiel zu verstehen, »warum so viele nach dem Studium desillusioniert wurden.« Die Welt erschien vielen als ein »viel zu großer Ort«. »Anstatt gegen die unbarmherzigen Unterschiede des Universums anzukämpfen, haben sich viele meiner gescheiten Gleichgesinnten auf die Pflege ihres kleinen Gartens konzentriert.« Thiel beobachtete, dass mit höherem Intelligenzquotienten die Vorbehalte gegenüber einer freien Marktwirtschaftspolitik wuchsen. Laut seinem Essay manifestierte sich dies bei den gebildetsten Konservativen in Trinksucht, während sich die klügsten Libertäre über den Alkohol hinaus nach Möglichkeiten von Ausflüchten Gedanken machten.

Thiel, der sich selbst als Optimist sieht, zeichnet unter dem Eindruck der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 ein düsteres Bild der Aussichten einer libertären Politik. Das Platzen der Immobilienblase, der Bankrott von Lehman Brothers und die anschließende temporäre Verstaatlichung von Unternehmens-Ikonen wie dem Autobauer General Motors und dem Versicherungsgiganten AIG sind schwer zu schluckende Pillen für jeden libertär Denkenden. Es war die größte Wirtschafts- und Finanzkrise nach 1929 und sie stürzte die Finanzmärkte in den Abgrund. Nur durch massive staatliche Eingriffe just der Parteien, die laut Thiel hauptverantwortlich für die Blase waren, konnte erfolgreich gegengesteuert werden. Allerdings musste dem durch eine massive Ausweitung der Staatsverschuldung und neuen Regularien insbesondere im Banken- und Versicherungssegment Rechnung getragen werden. Verantwortlich für die Krise waren überbordende Schuldenlasten, die noch dazu von Regierungen gestützt und gegen hohe Risiken versichert wurden. Und nun sollte das Problem mittels neuer Schulden und noch mehr staatlicher Eingriffe gelöst werden! »Für diejenigen, die im Jahr 2009 Libertäre sind, kulminiert unsere Ausbildung in der Erkenntnis, dass die breitere Ausbildung des Organs Politik vergebliche Mühe ist.«

Doch noch schlimmer, so Thiel, ist die Erkenntnis, »dass der Trend schon für eine lange Zeit in die falsche Richtung geht.« Immer stärker interveniert der Staat mit seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik und manipuliert damit auch die Finanzmärkte. Unter dem Eindruck der massiven staatlichen Eingriffe und Hilfsmaßnahmen des Winters 2008/09 erwähnt Thiel in seinem Essay die Wirtschaftskrise 1920/21. Damals hat die US-Regierung nicht interveniert, was zu einer kurzen und heftigen Krise im Stile des »Schumpeterschen kreativen Akts der Zerstörung« führte, aber letztlich in ein prosperierendes Jahrzehnt mit den »Roaring 1920s« mündete. Thiel glaubt nicht mehr daran, »dass Freiheit und Demokratie kompatibel sind.« Hauptverantwortlich für den Widerspruch aus Kapitalismus und Demokratie ist für Thiel das seit 1920 zu beobachtende Anwachsen des Wohlfahrtstaats gepaart mit dem Frauenwahlrecht.

Thiel kommt zu dem für ihn resignierenden Schluss, dass im Moment die Politik der Königsweg für die Zukunft unserer Welt ist. »In unserer Zeit besteht die große Aufgabe der Libertären darin, einen Ausweg aus der Politik in all ihren Formen zu finden.« Doch damit ist es nicht genug. Die »Flucht« muss über die Politik hinaus erfolgen, so Thiel. Dazu müssen »unentdeckte Gebiete« erschlossen werden, in denen neue Formen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens ausprobiert werden können. Doch weil praktisch jeder Zentimeter der Erde bereits kartografiert und bekannt ist, konzentriert er seine Anstrengungen auf neue Technologien, die »einen neuen Raum für Freiheit« schaffen sollen.2

Die drei bedeutendsten sind für ihn:

Der Cyberspace

Als Unternehmer und Investor, so Thiel, habe er seine »Anstrengungen auf das Internet fokussiert«. Mit PayPal wollte er eine neue Weltwährung schaffen, die frei von »Regierungskontrolle und Verwässerung ist«, um die bestehende Währungssouveränität der Staaten aufzuheben. Mit dem Facebook-Investment in den 2000er Jahren wurde der Raum geschaffen für neue Formen von Gemeinschaften, die »nicht an Nationalstaaten gebunden« waren. Die neuen virtuellen Welten werden die soziale und politische Ordnung verwandeln. So wurde der US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 bereits maßgeblich durch die sozialen Medien und im Wesentlichen durch den geschickten Einsatz von Facebook und Twitter entschieden. Das vorliegende Buch geht darauf noch ausführlich ein. Festzuhalten bliebt, dass Face-book mit seinen rund zwei Milliarden Mitgliedern inzwischen über eine so große Reichweite verfügt, dass es die von Thiel angesprochene soziale und politische Ordnung erheblich beeinflussen kann. Zwar hat PayPal es nicht geschafft, eine eigenständige Währung einzuführen, doch mit dem Aufkommen der Bitcoins und der damit verbundenen weltweiten Euphorie um das Computergeld zeichnet sich auch hier eine disruptive Veränderung ab, die herkömmliche staatliche Strukturen der Geldpolitik verändern kann.

Der Weltraum

Der Weltraum bietet für Thiel eine »grenzenlose Fluchtmöglichkeit vor der Weltpolitik«. Aber dafür gibt es eine starke Eintrittsbarriere. Die Raketentechnologie hat seit den 1960er-Jahren bis zum Jahr 2009 wenig Fortschritte gemacht, sodass eine Zukunft im All »fast unerreichbar weit weg ist.« Notwendig ist eine »Verdoppelung der Anstrengungen für die kommerzielle Raumfahrt, aber wir müssen auch realistisch sein hinsichtlich der damit verbundenen Zeithorizonte.« Thiel schlussfolgert, dass eine libertäre Zukunft im All, wie sie von dem bekannten amerikanischen Science-Fiction-Autor Robert A. Heinlein skizziert wurde, »nicht vor der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts Realität« würde. Thiel gehört inzwischen mit seinen Risikokapitalfonds zu den großen Finanziers der kommerziellen Raumfahrt. Er hat u. a. massiv in das von seinem PayPal-Kompagnon Elon Musk gegründete Raumfahrtunternehmen SpaceX investiert. SpaceX wurde als Start-up zunächst belächelt, macht aber in der Zwischenzeit den bisherigen Platzhirschen NASA und ESA das Leben schwer, indem es auf ganz neue Technologien und Verfahrensweisen setzt. 2017 gelang es SpaceX als erstem Raumfahrtunternehmen, Bestandteile einer Trägerrakete wiederzuverwenden. Die Kosten für den Transport ins All dramatisch zu drücken und den Mars zu erobern, das ist das erklärte Ziel von SpaceX.3

Das Seasteading

Auf der Achse zwischen den Extremen Cyberspace und dem Weltall liegt für Thiel die Möglichkeit der Besiedelung der Ozeane. Seasteading bedeutet die Schaffung von Stätten mit dauerhaftem Lebensraum auf dem Meer, ohne dass Länder einen Einfluss auf diese Gebiete nehmen können. Bereits im Jahr 2009 hielt Thiel die Technik für ausgereift genug, dass es wirtschaftlich Sinn macht, aber spätestens in naher Zukunft würde es seiner Meinung nach so weit sein. »Es ist ein realistisches Risiko und deshalb unterstütze ich diese Initiative mit großen Erwartungen.« Doch in den letzten Jahren wurde es im Gegensatz zu den beiden erstgenannten Investments Facebook und SpaceX ruhiger um das Seasteading, was Thiel in einem Interview mit der Bloomberg-Journalistin Emily Chang im Jahr 2014 zur Aussage veranlasste, dass es für ihn ein »sehr kleines Nebenprojekt« sei und dass es »sehr weit in der Zukunft läge«.4

Thiel kommt in seinem Essay zur Schlussfolgerung, dass wir uns bildlich gesprochen in einem »Todesrennen zwischen Politik und Technologie« befinden. »Die Zukunft wird viel besser oder viel schlechter werden, aber die Frage nach der Zukunft bleibt in der Tat sehr offen.« Im Gegensatz zur Politik könne der Einzelne in der Technologie etwas bewegen und damit den Unterschied ausmachen. Thiel schließt mit der Voraussage, dass das »Schicksal unserer Welt von den Bestrebungen einer einzelnen Person abhängen könne, die eine Maschine der Freiheit herstellt, die die Welt für den Kapitalismus sicher macht.« Rund zehn Jahre nach Thiels Worten dürfen wir uns fragen, ob wir nicht in Person von Mark Zuckerberg und seinem weltumschlingenden Netzwerk Facebook den Erfinder und Retter der »brave new World« gefunden haben? Zuckerberg will uns endgültig in den Cyberspace und damit in die virtuelle Welt überführen, wo alles schöner, moderner und bunter sein soll. Vielleicht löst sich so auf bequeme Art und Weise die Diskrepanz zwischen virtueller und realer Welt, von der Thiel in einem Interview im April 2017 mit der Zeitschrift Bilanz feststellte: »Unsere Smartphones, die uns von unserer Umwelt ablenken, lenken auch davon ab, dass unsere Umwelt merkwürdig alt und teilweise marode ist. Das U-Bahn-Netz in New York ist über 100 Jahre alt, große Teile unserer Infrastruktur wurden nicht modernisiert«.5 Liegt das Ignorieren oder das Lösen der realen Herausforderungen unserer Welt also im digitalen Eskapismus?

Thiel erwartete, dass sein Essay Reaktionen provozieren würde, und er wurde nicht enttäuscht. Allerdings bezogen sich die Rückmeldungen nicht primär auf die erwähnten Themen Cyberspace, Seasteading oder libertäre Politik, sondern hauptsächlich auf das Thema Wahlverhalten im Zusammenhang der Geschlechterkluft. Thiel betont, dass es ihm nicht darum geht, einer Gruppe das Wahlrecht zu entziehen bzw. vorzuenthalten, aber »ich habe wenig Hoffnung, dass Wahlen die Dinge besser machen.« Für ihn mischt sich die Politik in zu viele Bereiche ein, und er versteht nicht, warum Leute wegen des Konsums leichter Drogen eingesperrt, aber gleichzeitig gezwungen werden, »rücksichtslose« Finanzinstitute mit ihren Steuergeldern zu retten.

»Die Politik macht die Leute wütend, zerstört Beziehungen und polarisiert die Visionen von Menschen: Die Welt sind Wir gegen die Anderen; gute Leute gegen die Anderen.« Deshalb, so Thiel, konnten libertär denkende Menschen bislang so wenig in der Politik ausrichten. Er empfiehlt deshalb, die »Energien anderweitig für friedliche Projekte einzusetzen, die allgemein als utopisch angesehen werden.«6

Liest man diese Zeilen acht Jahre später im Jahr 2017, so hat der sonst so Grenzen überwindende und notorisch optimistische Peter Thiel den Meister in sich selbst gefunden. Er hat im Frühjahr 2016 offen für Donald Trump geworben, ihn finanziell unterstützt und auf dem Nominierungsparteitag der Republikaner im Sommer 2016 eine flammende Rede auf ein neues Amerika unter Trump gehalten. Damit gehörte er zu den Siegern und gilt zusammen mit seinen Mitarbeitern in der Zwischenzeit als wichtiger Vertrauensmann und Technologieberater der Trump-Administration in Sachen Wirtschaft, Wissenschaft und Innovation. Ein gewaltiger Sprung aus Sicht der beschriebenen Malaise im Jahr 2009. Auch hier gilt das für Thiel so bekannte Motto aus der Start-up-Welt: Nichts ist unmöglich! Thiel ist nicht nur ein Libertärer, sondern auch ein konträr geprägter Geist. Wer große Risiken eingeht wie er, kann enorme Gewinne einfahren. Für Thiel bietet sich in seiner Rolle als außenstehender Berater Trumps nun eine »once in a lifetime opportunity«, eine einmalige Gelegenheit, um das von ihm so geliebte Amerika wieder auf den Pfad der technologischen Tugend zu bringen und zu einem insgesamt modernen und innovativen Land zu formen.

Das Founders-Fund-Manifest

Um sich unter den Etablierten in der Venture-Capital-Welt abzuheben und sich bei den besten Gründern und Startups mit einem einzigartigen Profil Gehör zu verschaffen, braucht es mehr, als nur Kapitalbeschaffer zu sein. Marc Andreessen, der Erfinder des ersten Webbrowsers, Gründer von Netscape und inzwischen einflussreicher Risikokapitalinvestor bei Andreessen und Horowitz, hat dies mit seinem Essay ›Software is eating the world‹ eindrucksvoll bewiesen. Andreessen legt dar, wie sämtliche Branchen zukünftig durch den Einsatz von Software grundsätzlich neu aufgestellt werden, sich in rapider Geschwindigkeit neue Unternehmen auftun und bestehende marginalisiert werden. Beispiel dafür ist die Software-Dominanz im Mobilfunksektor durch Apple und Google, während der frühere Dominator Nokia keine Bedeutung mehr hat.7 Gleiches gilt für die Segmente Medien, Handel und Logistik, wo softwaregetriebene Plattformen wie Amazon und Netflix etablierten Anbietern die Butter vom Brot nehmen. Andreessens Essay ist auch die Blaupause für Investitionen seines Risikokapitalfonds. Er investiert primär in Start-ups, die softwaregetrieben die Welt verändern und damit etablierten Anbietern das Leben schwermachen oder gar ganz neue Märkte erobern wollen.

Der Founders Fund, gegründet von Thiel und seinen PayPal-Kollegen Ken Howery und Luke Nosek, steht dem in nichts nach. Sie veröffentlichten auf der Founders-Fund-Website im Jahr 2011 das Manifest ›What happened to the future?‹. Richtig bekannt wurde allerdings der Untertitel »We wanted flying cars, instead we got 140 characters«. Er basiert auf dem von Thiel immer wieder vorgetragenen Manko, dass sich der technologische Fortschritt deutlich verlangsamt hat und es in den vergangenen Jahrzehnten, mit Ausnahme der Computer- und Internetindustrie, nur zu wenigen Innovationssprüngen gekommen ist. Seiner Meinung nach braucht es viel mehr ambitionierte Gründer, die sich den wirklichen technologischen Herausforderungen stellen, statt das 20. Social-Media-Start-up zu gründen. Der Ausspruch wendet sich nicht gegen das Unternehmen Twitter an sich, wie Thiel gegenüber der Zeitschrift Bilanz betont: »Twitter ist ein erfolgreiches Unternehmen, Facebook erst recht. Aber das alleine reicht wahrscheinlich nicht aus, um unsere Zivilisation auf die nächste Stufe zu heben. Technik sorgt für Veränderungen, aber heutzutage ist Technik gleichbedeutend mit Informationstechnik, also Internet, Computer, Smartphone und mobiles Internet. Ich fürchte, diese Einengung des technischen Horizonts reicht nicht aus, um unsere Gesellschaft entscheidend voranzubringen«.8 Wo liegt der tiefere Sinn, der von Thiel und seinen Kollegen angesprochenen Systemkritik, eine Kritik, die auch die Geldgeber, also die Risikokapitalinvestoren ausdrücklich einschließt.

Ausgangspunkt des Manifests ist die These, dass es für den Founders Fund, stellvertretend für andere Risikokapitalinvestoren, zwei primäre und miteinander korrelierende Interessen gibt:

Den technologischen Fortschritt als den Treiber des Wachstums in der industrialisierten Welt zu unterstützen und damit außergewöhnliche Ergebnisse für Investoren zu erzielen, genau dies ist der Kern des Begriffs »Risikokapitalinvestitionen« in seiner ursprünglichen Form.

Zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren war diese Paarung ein großer Erfolg. In den 1960er-Jahren konzentrierten sich die Investitionen in die neu entstehende Halbleiterindustrie mit Intel an der Spitze. In den 1970er-Jahren folgten dann Unternehmen der Hardware- und Software-Industrie, gefolgt in den 1980er-Jahren von Unternehmen der Biotechnologie, Mobilkommunikation sowie von Netzwerkunternehmen. Schließlich kamen die Internetunternehmen in den 1990er-Jahren dazu. Gemein war allen Technologien, dass es sich um hohe technologische wie auch wirtschaftliche Risiken gehandelt hat. Vielfach zweifelten die Firmen selbst am Erfolg ihrer Produkte, wie die früheren Aussagen der Vorstände der Computerkonzerne IBM und Digital Equipment zeigten, die nur ein begrenztes Absatzpotenzial für Computer sahen und auf gar keinen Fall eine massenhafte Durchdringung in jeden einzelnen Haushalt. Nicht nur die Unternehmen der Halbleiterindustrie, auch die Unternehmen der aufstrebenden PC-Industrie, wie Apple und Microsoft, waren in ihren Anfängen alles andere als sichere Wetten auf einen hohen Ertrag für Risikokapitalinvestoren. Es galt aber das ungeschriebene Gesetz, dass herausragende Ingenieurskunst und Investieren eins sind.

Doch in den späten 1990er-Jahren drehte sich das Bild. Viele Risikokapitalportfolios, so das Founders-Fund-Manifest, waren nicht mehr auf Unternehmen ausgerichtet, die technologische Durchbrüche im Fokus hatten, sondern auf solche, die lediglich inkrementelle Fortschritte boten oder sogar nur Scheinlösungen. In der Aktienblase um die Jahrtausendwende gewannen praktisch alle Technologieaktien deutlich an Wert, ohne genaue Prüfung auf Qualität und zukünftigem wirtschaftlichen Erfolg. Und genau das ist nach Auffassung des Founders Fund der Grund, warum viele Risikokapitalfonds für ihre Anleger kein Geld verdienen und die Branche mehr oder weniger »kaputt« ist.

Der Founders Fund plädiert in seinem Manifest deshalb für Investitionen in Unternehmen mit fundierten Technologiegrundlagen und Alleinstellungsmerkmalen, die damit auch nachhaltige Erträge liefern, unabhängig von den volatilen Kapitalmärkten. Beispiele sind für den Founders Fund Unternehmen wie Amazon und Facebook. Während Amazon Innovationen wie Kundenempfehlungen und Logistik revolutioniert hat, ist Facebooks Alleinstellungsmerkmal eine skalierbare und hochleistungsfähige Netzwerk-Plattform für die Pflege von sozialen Kontakten für rund zwei Milliarden Menschen im Live-Betrieb.

Doch wo bleiben die Visionen und der Glaube an echte technologische Durchbrüche?

Nicht ohne Grund stellt das Manifest die rhetorische Frage »Gibt es noch wirkliche Technologien, die noch unentdeckt sind? Oder haben wir die Ziellinie erreicht, eine Art von technologischem Ende der Geschichte?« Früher gab es diese großen Ideen und Visionen. Das Manifest nennt dazu als Beispiele die Konzeptstudie aus den 1950er-Jahren über ein atomgetriebenes Automobil und den britischen Physiker und Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke, der 1968 die baldige Aufnahme kommerzieller Reisen in den Weltraum und die Nutzung künstlicher Intelligenz voraussah.

Die etwas ketzerische Antwort des Founders Fund dazu lautet: »Die Zukunft, auf die die Leute in den 1960er-Jahren gewartet haben, ist immer noch die Zukunft, auf die wir heute, ein halbes Jahrhundert später, warten. Statt Captain Kirk und der USS Enterprise haben wir den Preisvergleicher Priceline und günstige Flüge nach Cabo (Cabo San Lucas liegt auf der zu Mexiko gehörenden Halbinsel Niederkalifornien)«.

Folgerichtig fußen die Investmentprinzipien des Founders Fund auf folgenden Segmenten:

– Luft- und Raumfahrt sowie der Transportsektor

– Biotechnologie

– Analytik und Software

– Energie

– Internet

Doch auch die genannten Segmente sind nicht sakrosankt, denn, so der Founders Fund weiter: »Die besten Unternehmen schaffen sich ihre eigenen Märkte.« Das ist ganz nach dem Geschmack von Thiel, der für seine Investments nach monopolistisch geprägten Technologieunternehmen sucht.9

Wir halten also fest: Während weite Teile der Risikokapitalunternehmen sich eher auf risikoärmere Investitionen konzentrieren, suchen Founders Fund und Thiel nach Unternehmen und Unternehmern, die mit revolutionären Technologien die Welt zum Besseren verändern wollen. Das Manifest des Founders Fund ist eine klare Botschaft hin zu einer technologiegetriebenen Investitionspolitik und unterscheidet sich damit erheblich von dem weitverbreiteten Financial Engineering der Wall Street und weiten Teilen des Silicon Valley, bei dem Investitionsentscheidungen meist nur auf Basis von Excel-Datenblättern anstatt auf einer technologischen Expertise des Investitionsprodukts getroffen werden.

Das intellektuelle Rückgrat

Peter Thiel ist ein Intellektueller mit einem sehr fundierten Wissen über Politik, Philosophie, Ökonomie und Technologie. Im Gegensatz zu vielen anderen Persönlichkeiten des Silicon Valley basiert seine Weltsicht nicht eindimensional auf technologischen Spezifika. Thiel hat immer das große Ganze im Blick. Seine Investments unterliegen einem festen Prinzipienfundament, das er sich über Jahrzehnte aufgebaut hat. Er ähnelt dabei den Investorenlegenden Warren Buffett und Charlie Munger. Allen gemein ist ihre Vorliebe für Bücher. Während Buffett auf das Buch seines Lehrmeisters Benjamin Graham, »Security Analysis«, schwört, sind es für Thiel die Bücher des französischen Philosophen und Stanford-Professors René Girard. Thiel hält Girard, den er als Philosophiestudent im Grundstudium an der Stanford Universität kennengelernt hat, für einen der letzten Universalgelehrten.10

Das Buch mit dem Titel »Things Hidden since the Foundation of the Wold« (Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Erkundungen zu Mimesis und Gewalt mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort. Herder, Freiburg 2009) ist für Thiel Girards Meisterwerk. Selbst für den philosophisch beschlagenen Thiel ist das Buch keine leichte Kost. »Es ist nicht undurchsichtig, es ist nur dicht bepackt.« Man solle am besten über die Kultur zu lesen beginnen, die man am interessantesten findet, so Thiel in einem Interview für Business Insider.11 Girard macht es dem Leser auch nicht leicht. Schon auf der ersten Seite warnt er, dass er »absichtlich alle Zugeständnisse dem Leser überlassen habe«. Girards Schlüsselkonzept ist die sogenannte Nachahmungstheorie (»mimetic theory«). Seiner Meinung nach basiert der Großteil des menschlichen Verhaltens auf Nachahmung. Gemäß Girard ist Nachahmung unausweichlich. Es gilt der Grundsatz, dass wir das, was wir tun, deshalb tun, weil es andere Leute ebenfalls tun. Die Konsequenz daraus ist, so Thiel, »dass wir alle um dieselben Dinge konkurrieren, also um dieselben Schulen, Arbeitsplätze und Märkte.«12 In der Wirtschaft, so Thiel »verwässert« der Wettbewerb die Gewinne. Daraus entstand Thiels provokante These »Competition is for Losers«.13

Das Werk von Girard kreist um Nachahmung und Wettbewerb. Das Buch ist im Konversationsstil verfasst. Girard antwortet auf die Fragen zweier Psychiater. Dabei spannen sie einen weiten Bogen um die Themenfelder Anthropologie, Religion, Literatur und die Psychoanalyse. Aber auch moderne Theorien zu Gesellschaft und Kultur werden behandelt. Der Wettbewerb führt aber auch zu gesellschaftlichen Konflikten und Gewalt. Für das renommierte Wissenschaftsjournal ›Philosophy and Literature‹ gehört René Girard zu »einer Handvoll von Wissenschaftlern unserer Zeit, die unser Denken darüber veränderten, wer wir sind und woher wir kommen«.14

Auf ›Things Hidden since the Foundation of the World‹ wird ausführlich in dem Kapitel ›Stanford University‹ eingegangen, an der Thiel das Buch zum ersten Mal in seinem Grundstudium der Philosophie las.

Gegenüber www.reddit.com äußerte sich Thiel über seine favorisierten Bücher. Seine Vorliebe gilt »dem Genre von Büchern aus der Vergangenheit, die über die Zukunft schreiben«.15 Die folgenden vier Bücher haben es ihm besonders angetan:

The New Atlantis von Francis Bacon

Es wurde 1627, ein Jahr nach seinem Tod, veröffentlicht. Bei ›The New Atlantis‹ handelt es sich um ein fragmentarisches Werk. Bacon spielte eine führende Rolle beim Aufbau englischer Kolonien in Virginia, Neufundland und im Nordosten von Kanada. Das Buch dürfte um 1623 entstanden sein, nachdem sich Bacons politische Karriere bereits im Niedergang befand. In dem Fragment beschreibt er eine mystische Insel mit dem Namen Bensalem, die von der gestrandeten Besatzung eines europäischen Schiffs auf dem Pazifik westlich von Peru entdeckt wurde. Die Einwohner von Bensalem werden als Menschen mit einer hohen Moralvorstellung und großer Aufrichtigkeit beschrieben. Kein Offizieller in Behörden verlangt Geld für Dienstleistungen. Es herrscht Religionsfreiheit, und großen Wert legt Bensalem auf das staatlich geförderte Wissenschaftsinstitut Salomons House. Die Großzügigkeit, die Aufgeklärtheit, die Würde und der Glanz, aber auch die Religiosität und öffentliche Stimmung zeichnen das idealisierte Bild, das Bacon sich als Staatsmann von seinem Heimatland wünschte. Mit der Beschreibung des Salomons House legt er einen Plan und eine Organisationsform für die moderne forschungsgetriebene Universität vor, wie wir sie heute kennen, und beschreibt eine Vielzahl neuester Erfindungen und Entdeckungen. Die Gründung der renommierten englischen Wissenschaftsvereinigung Royal Society soll auf ›New Atlantis‹ und weitere Schriften Bacons zurückgehen.16

Die amerikanische Herausforderung von Jean-Jacques Servan-Schreiber

»Die Zeichen und Instrumente der Macht sind nicht mehr bewaffnete Legionen oder Rohstoffe oder Kapital … Der Wohlstand, nach dem wir streben, liegt nicht in der Erde oder in der Anzahl von Menschen oder in Maschinen, sondern im menschlichen Geist. Und insbesondere in der Fähigkeit der Menschen zu denken und zu gestalten.« Die Worte von Jean-Jacques Servan-Schreiber, dem Autor des Bestsellers ›Die amerikanische Herausforderung‹ sind aktueller denn je. Servan-Schreiber, der im Zweiten Weltkrieg Kampfpilot in der französischen Armee von Charles de Gaulle war, arbeitete nach dem Krieg zunächst als außenpolitischer Redakteur für die Pariser Tageszeitung Le Monde. Im Anschluss gründete er den L’Express, ein moderat linksgerichtetes Nachrichtenmagazin nach dem Vorbild des Time Magazin.17 In ›Die amerikanische Herausforderung‹ warnte Servan-Schreiber bereits 1967 Europa davor, zu einer bloßen Kolonie der USA zu verkommen. Eine Erkenntnis, die europäischen Politikern im Jahr 2017 unter dem neuen Politikstil von Donald Trump schmerzlich bewusst wird. Viel zu lange hat sich Europa durch kleinkarierte Streitereien klein gemacht und dabei immer auf die Hilfe des großen Bruders USA gezählt.

Das Buch von ihm wurde umgehend zum Bestseller. Allein in Frankreich wurden unter dem Originaltitel ›Le Défi américain‹ mehr als zwei Millionen Exemplare verkauft. Weltweit wurde das Buch in 16 Sprachen übersetzt und zehn Millionen mal in insgesamt 26 Ländern verkauft. Servan-Schreiber war mit diesem Buch seiner Zeit voraus. Seine Aussagen zu Europa, der Industrialisierung und Digitalisierung der globalisierten Wirtschaft sind bis hin zu der aktuellen politischen Situation in Frankreich aktueller und lesenswerter denn je. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Professor Paul Krugman bezeichnete das Buch in seinem Vorwort für die eBook-Ausgabe als »prägend für eine ganze Generation«. Wir würden heute in einer Welt leben, »die ganz der Welt entspricht, wie sie sich Servan-Schreiber vorgestellt hat.« Für den Gründer des Weltwirtschaftsforums (WEF), Klaus Schwab, war das Buch nicht nur ein »Game Changer für die Europa-Amerika-Beziehungen, es bot auch eine neue und innovative Konzeption nationaler Wettbewerbsfähigkeit.« Für Schwab war es schlussendlich auch ein »Katalysator für die Schaffung des Weltwirtschaftsforums«.

»Servan-Schreiber beschrieb zuerst seine kühne Vision eines beschleunigenden amerikanischen Wohlstands. Während dieser Ausgang zu jener Zeit unausweichlich schien, haben wir ein halbes Jahrhundert später diese Zukunft weit unterschritten. Die Wiederveröffentlichung seines bahnbrechenden Buchs dient als deutlicher Aufruf an unsere stagnierende Gesellschaft, Wege zurück zu der optimistischen Zukunft der 1960er Jahre zu finden« so Peter Thiel.18

Auch Donald Trump hat in seinem Präsidentschaftswahlkampf immer wieder an die glorreichen Zeiten der 1960er-Jahre erinnert, als Amerika vor Kraft strotzte, es der breiten Mittelschicht immer besser ging und die Zukunftsaussichten rosig erschienen. Thiel sieht diese Zeit wegen der breiten technologischen Aufbruchsstimmung sehr positiv. Visionen wie die Mondlandung wurden in den 1960er-Jahren von John F. Kennedy geboren und noch vor dem Ende desselbigen Jahrzehnts mit dem Betreten des Monds von Neil Armstrong und Buzz Aldrin in die Tat umgesetzt. Mitverantwortlich dafür waren die damals großen Fortschritte in der Raumfahrttechnik mit dem Apollo-Raketenprogramm und der Halbleiter- und Computerindustrie, ohne die eine so komplexe Mission nicht möglich gewesen wäre.19

Erwähnt sei, dass die deutsche Ausgabe 1968 mit einem Vorwort von Franz Josef Strauß erschien. Servan-Schreiber revanchierte sich im Gegenzug bei Strauß im selben Jahr mit einem Vorwort zu dessen Buch »Herausforderung und Antwort. Ein Programm für Europa«. Strauß war zu dieser Zeit Bundesfinanzminister.

›The Great Illusion. A Study of the Relation of Military Power to National Advantage‹
von Norman Angell

Blickt man auf das 20. Jahrhundert zurück, das in der ersten Hälfte von zwei blutigen Weltkriegen geprägt wurde, die Europa in Schutt und Asche legten und den Kontinent über mehrere Jahrzehnte durch den eisernen Vorhang trennten, gleicht es einer geradezu prophetischen Entdeckung, wenn man ›The Great Illusion. A Study of the Relation of Military Power to National Advantage‹ von Norman Angell in Händen hält und seinen Ansichten folgt. Angell schrieb das Buch um 1910, also unter dem Eindruck der um die Deutungshoheit in Europa rivalisierenden Mächte England und Deutschland. Beide lieferten sich einen Rüstungswettlauf, insbesondere in der Aufrüstung ihrer jeweiligen Kriegsmarine. Die Regierenden und Politiker verfolgten eine Blut-und-Boden-Doktrin, die vorsah, neue Ländereien weltweit zu unterjochen, um so ihrer wachsenden Bevölkerung neuen Lebensraum und Wohlstand zu verschaffen. Das englische Königreich mit seiner weltumspannenden Kolonialmacht galt Deutschland als Vorbild. Norman Angell, der sich als Journalist, Autor und Parlamentsabgeordneter der Labour Party einen Namen gemacht hatte, verfolgte dem Zeitgeist konträre, geradezu disruptive Vorstellungen, und dies am Vorabend des Ersten Weltkriegs.

Seiner Meinung nach unterlagen die Regierenden mit ihrer Doktrin, wonach nur eine starke Militärmacht der Bevölkerung zukünftigen Wohlstand verschaffen kann, einem kompletten Irrglauben. Er sah in der Eroberung neuer Ländereien keinen Gewinn für die Bevölkerungen der siegreichen Länder. Für ihn war dies ein Nullsummenspiel. Krieg kennt für ihn nur Verlierer. Angell gab schon zum damaligen Zeitpunkt zu bedenken, dass Wirtschaft und Finanzindustrie über Ländergrenzen hinweg stark vernetzt und international so verwoben sind, dass ein kriegerischer Eingriff einer der Großmächte zu einem erheblichen wirtschaftlichen Kollateralschaden führen würde. Angell warnte in seinem bemerkenswerten und weitsichtigen Buch, dass die USA von einem europäischen Konflikt ebenfalls stark betroffen wären, da sie enge wirtschaftliche und finanzielle Beziehungen mit den europäischen Nationen pflegten, also schon damals.

Und in der Tat befand sich die Weltwirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg in einem großen Globalisierungsschub. Junge Unternehmen, heute würde man sie Start-ups nennen, wie Siemens in der Elektrizität, Mannesmann beim Bau nahtloser Röhren und BASF mit ihren chemischen Produkten waren auf dem Sprung zu Weltkonzernen und nutzten wie selbstverständlich sich bietende Chancen der Internationalisierung und gründeten weltweit Tochterunternehmen für den Ausbau ihrer Geschäfte. Das Buch von Angell avancierte umgehend zu einem Bestseller. Nicht nur in England, auch in Amerika, Frankreich und Belgien, selbst im deutschen Kaiserreich. Liest man die Rezensionen der zu seiner Zeit führenden Zeitungen, ob in England, Amerika oder Deutschland, so überschlugen sich die politischen Kommentatoren der damaligen Zeit mit Huldigungen der Aussagen von Angell. Umso erstaunlicher ist es deshalb für uns heute, dass dieselbe Presse nur wenige Jahre später die Kriegstreiberei in den Ersten Weltkrieg mit euphorischen Fanfaren begleitete. Angell erhielt, nachdem das Buch 1933 wieder aufgelegt wurde, den Friedensnobelpreis. ›The Great Illusion‹ ist heute, über 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung, lesenswerter denn je. Angell gibt uns die wichtige Botschaft mit auf den Weg, dass es in unserer globalisierten und vernetzten Welt eigentlich keinen Platz mehr für kriegerische Auseinandersetzungen gibt. Wären die Regierenden vor 100 Jahren Angells Ratschlägen gefolgt, wäre den Menschen viel Leid und Unheil erspart geblieben.20

›The Diamond Age: Or, a Young Lady’s Illustrated Primer‹
von Neal Stephenson

Bei ›The Diamond Age‹ (deutscher Titel ›Die Grenzwelt‹) handelt es sich um einen Science-Fiction Roman des Schriftstellers Neal Stephenson. In dem Roman beschreibt er seine Zukunftsvision der Auswirkungen eines fortgeschrittenen Informationszeitalters. Im Mittelpunkt stehen Eigentumsrechte in Form von Bauplänen. Sie stellen Informationen dar für die Compilierung von Gütern. Der Ausdruck »Compilierung« stammt aus der Informatik und bedeutet die Übersetzung von Programmcode in für den Computer ausführbare maschinenlesbare Befehle. Eine funktionale Rolle spielt im Buch die Nanotechnologie, die das Wissen und die Eigentumsrechte der Informationsinfrastruktur auf die Welt der materiellen Güter überträgt.

Stephenson beschreibt eine Zukunft, in der die Nationalstaaten praktisch keine Rolle mehr spielen. Die Nanotechnologie ermöglicht durch die sogenannten Materie-Compiler die ortsunabhängige Herstellung von allen erdenklichen Produkten. Gleichzeitig sorgt ein weltumspannendes Informationsnetzwerk dafür, dass die Finanzströme und Transaktionen frei vom Zugriff der Staaten fließen und diesen damit auch die Hoheit über die Erhebung von Steuern abhanden gekommen ist.

Bedenkt man, dass das Buch 1995 erstmalig erschien, also zu einem Zeitpunkt, als mit Netscape das erste Internetunternehmen an die Börse ging und das uns bekannte World Wide Web gerade den Kinderschuhen entschlüpfte, könnte es für Peter Thiel eine Inspiration für die drei Jahre später erfolgte Gründung von PayPal gewesen sein. Die große Vision von PayPal war die Schaffung einer neuen elektronischen Währung unabhängig vom Zugriff der Staaten. Auch die von Stephenson propagierte ortsunabhängige Güterproduktion rückt im Jahr 2017 in Reichweite. Technologien wie 3D-Druck und Automatisierungs- und Robotiklösungen, gemeinhin als Industrie 4.0 betitelt, schaffen die technologischen Voraussetzungen. »Manufacturing-as-a-Service« also die Produktion als Dienstleistung wird Realität. In der Folge verlagern immer mehr Unternehmen ihre Fabrikation zurück in ihre Heimatmärkte und damit nahe an ihre Kunden. Neue Produktionsverfahren gekoppelt mit Logistiklösungen, wie die von Amazon bereits in Testfeldern eingesetzte Warenlieferung per Drohne, führen dazu, dass Kunden zukünftig ihre gewünschte Ware in Realzeit produziert und dann umgehend auch geliefert bekommen. Zwar gelang es Peter Thiel mit PayPal nicht, eine eigenständige Währung zu etablieren, doch mit der Cryptowährung Bitcoin ist inzwischen ein veritables Investitionsvehikel entstanden.

Die im Buchtitel angesprochene illustrierte Fibel fällt einer jungen Dame mit Namen Nell in die Hände. Sie kommt aus der Unterschicht. Mit der Fibel erhält sie nun Zugang zu Informationen und kann damit auch am sozialen Aufstieg partizipieren. Stephenson prägt in seinem Buch weitere Begriffe, die heute in der Internetökonomie Allgemeinplätze und von großer Bedeutung sind. Mit der »Technologie der Saat« beschreibt er die Grundzüge der OpenSource Bewegung, also das freie Teilen und den freien Zugriff auf Informationen unabhängig von Eigentumsrechten. Peter Thiels PayPal Partner und Freund Elon Musk, Gründer des Elektroautobauers Tesla und der Raumfahrtfirma SpaceX, hat bereits im Jahr 2014 in einem aufsehenerregenden Vorgang sämtliche Patente von Tesla als OpenSource veröffentlicht. »Alle unsere Patente gehören euch«, so Musk in einem Blog-Beitrag.21 Er verfolgt die Philosophie, dass die weltweite Technologiegemeinschaft durch die Zurverfügungstellung seiner technologischen Entwicklungen die Elektromobilität schneller voranbringen und damit die etablierten Automobilbauer stärker unter Druck setzen kann. Der Zugang zu Wissen und die Bereitschaft, Wissen zu teilen, führt für Musk zu schnelleren Innovationszyklen und damit zu einem Win-win für Alle.

Eine wichtige Rolle spielen in Stephensons Buch auch sogenannte Enklaven. Die zwei wichtigsten tragen die Namen New Atlantis und Nippon. Unschwer zu erraten, wer sich dahinter verbirgt. New Atlantis steht für eine angelsächsisch geprägte wirtschaftliche Elite, sogenannte Dividenen-Lords, die die Rolle der alten Aristokratie eingenommen haben. Auch hier nimmt Stephenson die wachsende Ungleichheit der Vermögensverteilung vorweg, die durch die sich bietenden Geschäftsmöglichkeiten dank neuer Technologien des Internets und der Digitalisierung seit dem Erscheinen der Erstausgabe Mitte der 1990er Jahre noch deutlich zugenommen haben.22