V.

DER AUTOR

Get rid of the word education.

Peter Thiel147

›Zero to One‹ – Der Lehrer

Peter Thiel plante ursprünglich zusammen mit seinen Freunden Max Levchin und Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow ein Buch unter dem Titel »The Blueprint Reviving. Innovation, Rediscovering Risk, and Rescuing the Free Market«. Es sollte darauf aufmerksam machen, dass es einen großen Mangel an echten Innovationen und bahnbrechenden technologischen Durchbrüchen gibt. Das Erscheinen des Buchs war für Juni 2012 angekündigt. Dazu kam es dann leider nicht. Das Buch wurde nie veröffentlicht, da sich die drei Autoren nicht einigen konnten. Der amerikanische Verlag Norton begründete dies wie folgt: »Die drei waren nicht in der Lage, ihre Ideen in eine tragfähige Buchform zu bringen.« Manchmal ist es eben schwer, drei solch herausragende Denker wie Thiel, Levchin und Kasparow unter einen Hut zu bringen.

Thiel hält wenig von dem klassischen Ausbildungssystem. Auf die Frage der Bloomberg-Journalistin Emily Chang, was er denn machen würde, wenn er über seine Ausbildung nochmals neu entscheiden könnte, antwortete er kurz und bündig: »Get rid of the word education.« »Die Ausbildungsstätten stecken im 19. Jahrhundert fest. Ich denke, man muss neue Wege finden, sie individueller zu gestalten, damit unterschiedliche Studenten mit ihrer eigenen Geschwindigkeit lernen können.«148

Mit seiner Thiel Fellowship geht er das klassische Ausbildungssystem frontal an und stellt es weitgehend in Frage. Er finanziert darüber seit 2012 jedes Jahr die Geschäftsideen junger Studenten mit jeweils 100.000 Dollar, wenn sie ihr Studium abbrechen und sich stattdessen auf die Umsetzung ihrer Geschäftsidee konzentrieren. Weite Teile des akademischen Lagers reagierten darauf verschnupft. Auch einem eigenständigen Unterrichtsfach »Entrepreneurship« steht Thiel skeptisch gegenüber. »Ich bin mir nicht sicher, ob man Unternehmertum direkt unterrichten kann; ich bin da zutiefst skeptisch. Aber indirekt kann man Fähigkeiten erwerben, die einem helfen können.« So äußerte sich Thiel 2011 gegenüber dem Magazin Stanford Lawyer.149

Umso erstaunlicher war es, dass Thiel im selben Jahr an der Stanford Universität eine Vorlesungsreihe im Informatik-Grundstudium anbot. Er teilte mit den Studenten seine Sicht auf die Welt und wie sich diese verändert. Blake Masters, ein Student der Rechtswissenschaften, schrieb in den Vorlesungen eifrig mit und veröffentlichte sie im Anschluss auf seinem Tumblr Blog, zunächst ohne Thiels Zustimmung. Masters Blogbeiträge entwickelten sich schnell zu einem Onlinehit. Als der bekannte New York Times-Kolumnist David Brooks die Beiträge auch noch für seine Kolumne aufgriff, nahm Masters Rücksprache mit Thiel. Dieser schrieb ihm per E-Mail zurück: »Mach weiter und nimm weitere Einträge vor.« Der Blog von Masters verzeichnet bis heute mehrere Millionen Seitenabrufe.150

In der Folge entstand die Idee zu einem eigenständigen Buch, in dem die Vorlesung für eine breite Öffentlichkeit aufbereitet werden sollte. Thiel wollte damit eine generelle Diskussion über das Thema Innovation in der Gesellschaft anstoßen, über Stanford, die Hochschulen allgemein und auch über das Silicon Valley hinaus.

Thiels Anspruch mit ›Zero to One‹ ist, vom Silicon Valley zu lernen, »warum und weshalb die meisten wertvollen Unternehmen der Welt die sind, die auf neuen Wegen wirkliche Probleme lösen, anstatt Wettbewerber, die sich auf ausgetretenen Pfaden bewegen«.151

Der dreimonatige Kurs sollte in eine 200-seitige Buchform und in eine organisierte Struktur gebracht werden. Das »Organisieren von Gedanken« ist für Thiel denn auch ein Schlüssel, um großartige Inhalte zu erzeugen.152 Blake Masters, der die Sache über seinen Blog ins Rollen gebracht hatte, wurde Co-Autor.

Bereits der Titel ›Zero to One‹, von Null auf Eins, macht deutlich, was Thiel mit seinem Buch bezwecken möchte. Die Computerwissenschaften fußen auf den mathematischen Zuständen »Null« und »Eins«. Für Thiel bedeutet es, »etwas Neues zu tun. Etwas zu machen, was niemand bisher gemacht hat.« Er ist davon überzeugt, dass wir unsere Gesellschaft nur dann auf die nächsthöhere Ebene bringen können, wenn wir Neues erfinden. Facebook mit seinem sozialen Netzwerk und Google mit seiner Internetsuche sind für ihn Unternehmen, die diesem Anspruch gerecht werden und deshalb aktuell auch so wertvoll sind. Thiel ist davon überzeugt, dass wir als Gesellschaft nicht genug dafür getan haben, um uns weiterzuentwickeln. Für ihn befinden wir uns in einer technologischen Stagnation, geblendet durch unsere modernen Smartphones, die uns vordergründig eine schicke digitale Welt zeigen. Um uns herum ist aber »unsere Umwelt merkwürdig alt und teilweise marode«.153

Thiels Credo lautet, dass Fortschritt in jeder Industrie und in allen Unternehmensbereichen erzielt werden kann. Er fordert von den Unternehmenslenkern die wichtigste Fähigkeit ein, nämlich »selbstständig zu denken«.154

Thiel bringt dies prägnant auf den Punkt: »Der nächste Bill Gates programmiert kein Betriebssystem. Die nächsten Larry Page und Sergey Brin entwickeln keine Suchmaschine. Andere zu kopieren bringt die Welt von 1 auf n, und fügt mehr von etwas Bekanntem hinzu. Aber wenn man etwas Neues macht, geht man von 0 auf 1. Die Gewinner von morgen werden nicht durch rücksichtslosen Wettbewerb auf heutigen Marktplätzen entstehen; sie werden allesamt dem Wettbewerb aus dem Weg gehen, da ihre Geschäfte einzigartig sind.«

Das Buch gibt eine optimistische Sicht auf den zukünftigen Fortschritt in Amerika und einen neuen Denkansatz über das Thema Innovation. Thiel möchte den Leser dazu bringen, Fragen zu stellen, die uns dann zu »unerwarteten« Orten führen, wo wir »Wertvolles« finden. Das Ganze klingt nach Ostereiersuche, doch Thiels klare Botschaft seines Buches ist: »Nur wer an Geheimnisse glaubt und nach ihnen sucht, wird in der Lage sein, jenseits der ausgetretenen Denkpfade neue und offensichtliche Möglichkeiten zu entdecken.«155

Mit seinem Buch ›Zero to One‹ kommt er immer wieder auf seine Frage aller Fragen zurück: »Welche Ihrer Überzeugungen würden nur wenige Menschen mit Ihnen teilen?« Die renommierte Zeitschrift The Atlantic schreibt in einer Rezension, dass »Thiels beste Gedanken sich erfrischend menschlich anfühlen: Erinner dich, dass deine Gründer deine Familie sind, gib großartigen Mitarbeitern exakt definierte Aufgaben, beginne mit ambitiösen, aber kleinen Produkten, die einen Nischenmarkt dominieren, hör auf damit, Vertriebsleute zu hassen und konzentriere dich darauf, Grundsätze oder Geheimnisse zu formulieren, die dich von deinen Rivalen abheben.«156

Schaut man sich die Vorlesungsmitschnitte seines Stanford-Kurses online an und liest sein Buch, wird seine zweite Passion neben der des Technologiegründers und Finanziers deutlich: Thiel hätte einen veritablen Professor oder Lehrer abgegeben, der aufgrund seines breiten Wissens und großen Erfahrungsschatzes, gepaart mit seinem scharfen Intellekt, ganze Studentengenerationen in seinen Bann hätte ziehen können. Auf die Frage Changs, was er denn beruflich gemacht hätte, wenn er nicht in den Tech-Bereich gegangen wäre, antwortete er spontan, er wäre wohl Lehrer geworden.157

Thiel, der für sich immer gerne die Rolle als »Public Intellectual« in Anspruch nimmt, hat mit seinem Buch ›Zero to One‹ mehr als eine fundierte Basis dafür geliefert.158 Weltweit wurde er in der Folge an renommierten Hochschulen, wie der London School of Economics oder der LMU in München eingeladen, um öffentliche Vorlesungen zu seinem Buch und seinem Grundanliegen der Innovation zu halten. Für den Rezensenten des Atlantic erscheint Thiels Buch »wie ein Laserbeamer«. Es ist ein »Selbsthilfebuch für Unternehmer«, um sich positiv für die Zukunft aufzuladen, die nur von Start-ups gestaltet werden kann. Für den Atlantic ist es aber »auch eine leuchtende und profunde Ansprache des Kapitalismus und seines Erfolgs im 21. Jahrhundert.«159

Thiels provokante These »Competition is for Losers«, die, wie schon erwähnt, vom Wall Street Journal für eine Kolumne als Überschrift herausgegriffen wurde, sorgt immer noch für Gesprächsstoff, was von Thiel auch so beabsichtigt ist, sieht er doch die Mehrheit der Ökonomen in der falschen Denke verhaftet, wonach Wettbewerb Werte schaffen kann. Seiner Meinung nach ist genau das Gegenteil der Fall: Nur Monopole schaffen überproportionale Gewinne und damit nachhaltig Werte.160

Für die Süddeutsche Zeitung ist Thiel ein »Geschäftsmann mit Tiefgang«, für Mark Zuckerberg liefert ›Zero to One‹ »völlig neue und erfrischende Ideen darüber, wie man in der Welt Wert schöpft.« Der Philosoph und ehemalige Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb, Autor von ›Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse‹ (München 2015), hält das Buch gar für einen Klassiker und empfiehlt, das Buch nicht nur einmal, sondern dreimal zu lesen.161

Ganz anders David Segal, Rezensent der New York Times. Er bemängelt, dass Thiel zu wenig Zeit aufwendet, um den Buchtitel auch wirklich zu rechtfertigen. »Es gibt dem Buch das Gefühl einer Werbebotschaft für einen Mann, der glaubt, er hätte es nicht nötig zu werben«. Für Segal sind Thiels Ratschläge wie »Baue das nächste Google« sowohl unangreifbar als auch komplett nutzlos. Thiel gäbe im Buch zu, dass der Typus Start-up, den er im Buch beschreibt, rar ist, aber der Reichtum, den er mit PayPal und später auch als Investor mit Facebook gemacht hat, hätten ihn darin überzeugt, dass das Außergewöhnliche viel wahrscheinlicher sei, wenn die Leute nur kühner und einfallsreicher wären. Segal vergleicht das Buch mit der Situation einer Dinner Party, wo man neben einem Menschen sitzt, dessen Geld und Übermaß an Ideen ihn davon überzeugt hätten, dass er die gesamte Konversation übernehmen könne.162

Für das Online Portal Tech in Asia ist ›Zero to One‹ »ein dringend notwendiger Atemzug an frischer Luft für alle, die Unternehmerbücher, Studien zur globalen Wirtschaft und intellektuelle Geschäftsphilosophien und Start-ups« zu schätzen wissen. Der Rezensent sieht aber Schwachstellen bei Thiels Aussagen zu Asien, wo er seiner Meinung nach mit zu einfachen Stereotypen arbeitet. Thiel sieht Asien als den pessimistischsten Ort auf der Welt an, doch genau das Gegenteil sei der Fall. Viele der chinesischen Internetunternehmer seien früh zu Reichtum gekommen und damit noch zu jung, um am Strand oder auf dem Golfplatz ihren Vorruhestand zu verbringen. Viele nutzten ihren Reichtum für Philanthropie oder den Umweltschutz, wie der Alibaba Gründer Jack Ma. Die meisten aber würden ihr Glück beim Aufbau eines neuen Start-ups oder in ihrer Finanzierung suchen. Länder wie Indonesien mit ihren aufstrebenden Ökonomien gehörten nach dem Marktforscher Nielsen zu den zuversichtlichsten Märkten überhaupt. Die südostasiatischen Länder gehörten auch zu den Ökonomien mit den höchsten Sparraten. Die höheren verfügbaren Einkommen der Konsumenten dürften zudem in der Folge zu höheren Investitionen führen.163

Der Atlantic sieht Thiels Buch sowohl als Inspiration für Unternehmer als auch für die Gattung selbst. Unter vergleichbaren Wirtschaftsbüchern habe sich ›Zero to One‹ ein Monopol geschaffen.164 Die Zahlen belegen dies. Thiels Buch entwickelte sich sowohl zum New York Times-als auch zu einem internationalen Bestseller. Auch in China stößt Thiel mit seinem Buch auf großes Interesse. Laut Thiel verkauft er in China mehr Bücher als in allen anderen Ländern zusammen.165

The Diversity Myth‹ – Der Anwalt

Nicht nur bei Politikern werden von Journalisten und Medienschaffenden zu bestimmten Zeiten »Leichen« aus dem Keller geholt. Als Thiels Wahlkampfspende für Trump in Höhe von 1,25 Millionen Dollar im Oktober 2016 bekannt wurde, brachte die Presse wieder ein Buch von Thiel und Sacks ins Spiel, das die beiden unter dem Eindruck ihres Studiums kurz nach ihrem Examen im Jahr 1995 veröffentlicht hatten. Der Titel lautet ›The Diversity Myth – Multiculturalism and Politicial Intolerance on Campus‹. Im Mittelpunkt steht nicht irgendein Campus, sondern der Campus der Stanford University. Thiel und Sacks, die beide Chefredakteur und Herausgeber der Stanford Review gewesen sind, sahen sich vor über 20 Jahren berufen, ein Buch über die Veränderung des Wertekanons an der Universität zu schreiben. Ihrer Meinung nach war seit 1986 eine konzertierte Aktion aus Verwaltung, Lehrkörper und Studenten damit beschäftigt, Stanford in die erste multikulturelle Fakultät der USA zu verwandeln. Beide zitieren in ihrem Buch den damaligen Rektor Donald Kennedy, der den neu angekommenen Studenten 1989 gleich mit auf den Weg gab, dass das multikulturelle Vorhaben »ein mutiges Experiment sei, das Erfolg haben müsse«. Die 25.000 Personen an der Stanford wurden damit Teil des Kennedyschen Experiments. Gegenstand waren Änderungen an den Lehrplänen, Veränderung der studentischen Wahrnehmung und die Einführung eines neuen Verhaltenskodex. Kennedy, der davor als Biologieprofessor in Stanford lehrte, konnte nun an lebenden Objekten auf seinem Campus sehen, wie seine Neuerungen griffen. »Wenn wir es hier nicht schaffen«, so Kennedy, »schaffen wir es nirgendwo.« Die Abwandlung des berühmten New-York-Zitats »If I can make it there, I’ll make it anywhere« von Frank Sinatra war für ihn die Richtschnur für die weitere Umsetzung. Doch Kennedy musste im Sommer 1992 seinen Hut nehmen, nachdem seine Verstrickung in einen Finanzskandal publik wurde.

Insbesondere der Stiftungsrat, Kongressabgeordnete, Absolventen, aber auch die allgemeine Öffentlichkeit hätten, so Thiel und Sacks, in der Folge schnell begriffen, dass das »große multikulturelle Experiment« genau das Gegenteil dessen gebracht hat, was man sich von einer höheren Ausbildung versprach. Die beiden beschreiben Einschränkungen der Redefreiheit sowie »eine neue Form der Intoleranz, bekannt auch als political correctness, einen hysterischen antiwestlichen Lehrplan, ein Anwachsen der Politisierung des studentischen Lebens und die Polarisierung verschiedener Rassen und Ethnien« als negative Begleiterscheinungen auf dem Stanford Campus. Sie vergleichen diesen Ausflug ins Multikulturelle mit den Entdeckungsreisen des Christopher Columbus, der mit Begeisterung aufgebrochen und dann desillusioniert zurückgekommen war. Genauso erging es nach Meinung von Thiel und Sacks den Beteiligten der Stanford University. Nichtsdestotrotz hat der Multikulturalismus bereits auf eine »ganze Generation amerikanischer Führungskräfte« ausgestrahlt, denen weitere Absolventen folgen, die planen, multikulturelle Regeln in der Gesellschaft zu verankern.

Stanford als Vorhut, der Amerika im Allgemeinen mit einem Abstand von rund acht Jahren folge, sei ein »großes Warnsignal« für die »Versuchungen«, aber auch für die »Gefahren«, die mit einer multikulturellen Zukunft verbunden sind. Wenn nicht an der Stanford mit ihren intelligenten Menschen, einer friedlichen kleinstädtischen Umgebung und den großen finanziellen Ressourcen, wo sonst sollte dem Multikulturalismus der Weg geebnet werden? Für Thiel und Sacks war die renommierte Stanford University durch diese Veränderungen abgewertet. Sie ziehen den wenig schmeichelhaften Vergleich mit einem Drittweltstaat, wo Untergebene von einer korrupten Ideologenkaste regiert werden. Abschließend geben sie den dringenden Ratschlag an die amerikanische Nation, bezüglich der weiteren Umsetzung multikultureller Ansätze innezuhalten.166

Doch für die Presse und dabei insbesondere den Guardian, der im Oktober 2016 das Buch von Thiel und Sacks wieder ans Licht der Öffentlichkeit brachte, waren andere Passagen im Buch als Aufhänger viel medienwirksamer. Der Guardian titelte denn auch: »Peter Thiel, der Trump 1,25 Millionen Dollar gab, bezeichnete Vergewaltigung während einer Verabredung als ›verspätete Rache‹.« Eine Anspielung auf einen Fall aus dem Jahr 1991, als eine 17-jährige Studentin, die neu an der Stanford University war, in betrunkenem Zustand in einem Studentenwohnheim vergewaltigt wurde. »Auch wenn der mutmaßliche Vergewaltiger klar schuldig war, einer minderjährigen Frau Alkohol anzubieten und einen Vorteil aus ihrem resultierenden Mangel an Urteilsvermögen zog, war es kein sexueller Angriff… Verständlicherweise bedauerte die Frau jedoch anschließend den ganzen Zwischenfall.167«

Beide verurteilten zwar grundsätzlich sexuelle Übergriffe durch Gewalt oder Zwang, auch unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol, als »absolut inakzeptabel für die Stanford University«, aber gleichzeitig schrieben die beiden, wonach es »grotesk zu glauben ist, dass jemand, der unter Gewalteinfluss verletzt wurde, nicht auch physische Spuren tragen würde.«

Unter den Umständen, dass »eine Frau die vielleicht am nächsten Tag oder sogar viele Tage später ›erkennt‹, dass sie ›vergewaltigt‹ wurde«, ist es unklar, wer dafür verantwortlich gemacht werden sollte. Hat der Alkohol beide in Bereitschaft für den Geschlechtsverkehr gesetzt, ist es für Thiel und Sacks nicht verständlich, warum die Vorwürfe immer nur gegen den Mann gerichtet werden. Thiel und Sacks schlussfolgern: »Die tatsächlichen Opfer der Bewegung für ein Ende sexueller Übergriffe sind die Männer.168«

Für die Presse waren diese mehr als 20 Jahre alten Aussagen natürlich ein gefundenes Fressen, um Thiels und Sacks Worte in Zusammenhang mit Trumps Aussagen zu Frauen zu bringen.

Thiel hatte bereits in einem längeren Interview mit dem New Yorker im Jahr 2011 bedauert, dass er sich über den Vorfall von seinem Freund Keith Rabois an der Stanford geäußert hat. Dieser skandierte vor dem Haus eines Universitätsmitarbeiters »Faggot! Faggot! Hope you die of Aids!« Rabois, der mit seiner Aktion eine Debatte über die freie Meinungsäußerung anstoßen wollte, wurde in der Folge von der Universität verwiesen.

Thiel betonte gegenüber dem New Yorker, dass er heute ein »viel nuancierteres« Verständnis politischer Identitäten habe. Dazu gehört auch die Überzeugung, dass Frauen, Homosexuelle und Schwarze »bedeutend differenziertere« Erfahrungen teilen.169

In Folge der Berichterstattung der Medien über ›The Diversity Myth‹ im Oktober 2016 äußerte sich Thiel darauf umgehend gegenüber Forbes, dass er diese Ansichten bedauere. »Vor mehr als zwei Jahrzehnten schrieb ich als Co-Autor ein Buch, das mehrere unsensible und gemeine Aussagen enthält. Wie ich schon zuvor sagte, wünschte ich mir, ich hätte diese Dinge nicht geschrieben. Ich bedauere es. Vergewaltigungen in all ihren Ausprägungen sind Straftaten.« Thiel bedauert zudem, Passagen geschrieben zu haben, die geeignet sind, einen anderen Eindruck zu erwecken. Am selben Tag, noch vor Thiels Bedauern, äußerte sich Co-Autor David Sacks gegenüber dem Technologie-Newsportal Recode und entschuldigte sich für das Buch und die Aussagen. »Es stellt mich nicht dar, wer ich heute bin oder an was ich glaube.« Er bezeichnete das Buch als »College-Journalismus, geschrieben vor über 20 Jahren. Ich bin beschämt über einige meiner früheren Ansichten und bedauere es, sie geschrieben zu haben.« Sacks hatte zudem im zurückliegenden Präsidentschaftswahlkampf rund 70.000 Dollar für Hillary Clinton gespendet und verfolgt damit eine andere politische Richtung als sein früherer Autorenkollege Thiel.170

Doch es wäre zu kurz gegriffen, das Buch auf die von der Presse aufgegriffenen Passagen zu reduzieren. Sacks und Thiel sprachen bereits Mitte der 1990er-Jahre den heute so omnipräsenten »Clash of Cultures« an. Normalerweise fände die multikulturelle Debatte zwischen Konservativen und Liberalen statt, präziser ausgedrückt »zwischen wütenden weißen konservativen Männern und allen anderen.« Ein Satz der aktueller denn je ist: Haben uns nicht die Medien nach dem Sieg von Donald Trump gebetsmühlenartig klarmachen wollen, dass exakt diese Zielgruppe das Zünglein an der Waage war?

Thiel und Sacks sind schon vor mehr als 20 Jahren der Meinung gewesen, dass man bei der Diskussion um Vielfalt bzw. Diversität nicht die Augen vor der Realität verschließen sollte. Betrachtet man den Aspekt der ökonomischen Vielfalt, so gilt es zu bedenken, dass das amerikanische Ausbildungssystem mit hohen Studiengebühren verbunden ist. Meist erfordert es einen sechsstelligen finanziellen Aufwand, um ein Studium erfolgreich abschließen zu können. Ein finanzieller Kraftakt, den sich viele Familien gar nicht leisten können. Entsprechend kommt es so vorab zu Selektionen. Geld ist also immer noch eine entscheidende Mitgift für den Zugang zu gehobener Bildung.

Auch die politische Vielfalt, so Thiel und Sacks, ist häufig nicht gegeben. Sie betonen, dass zum Zeitpunkt des Erscheinens von ›The Diversity Myth‹, also um 1995, rund 80 Prozent der Fakultätsmitglieder der Universität derselben Partei angehörten, nämlich den Demokraten.

Schließlich behandeln die beiden auch die Vielfalt und den Umgang mit verschiedenen Ethnien auf dem Campus. Thiel und Sacks führen Universitäten wie Cornell, Berkeley oder Stanford auf, die Studenten nach ihren Herkunftsregionen wie Afro-Amerikaner, Latino-Amerikaner, Asiatische-Amerikaner und einheimische Amerikaner einteilen und ihnen entsprechend ihrer Herkunft Studentenwohnheime zuteilen. Sie schlussfolgern: »Das Resultat dieser Ghettoisierung ist, eine große Zahl von studentischen Minderheiten vom restlichen Campus fernzuhalten und Diversität und Austausch zu begrenzen«.171

Auch wenn Thiel und Sacks sich in der Zwischenzeit zurecht von Passagen des Buchs distanzieren und es in zahlreichen Passagen den Charakter einer Abrechnung mit ihrer früheren Alma Mater hat, ergreifen sie doch Partei, die Diskussion um Multikulturalismus und Vielfalt offener, ja offensiver zu führen und wegzukommen von gesellschaftlicher Etikette und political correctness, die es nicht mehr zulässt, bestimmte Dinge beim Namen zu nennen.

Über 20 Jahre später ist das Thema Diversität aktueller denn je. Die großen Tech-Konzerne wie Alphabet und Facebook scheinen zwar in allen Belangen unserer Zeit und weiten Teilen der Gesellschaft enteilt zu sein. Die Stichworte Digitalisierung und Disruption sind allgegenwärtig. Doch in ihrem Innersten scheinen die Unternehmen von einem konservativen Kern zusammengehalten zu werden, der wenig mit Diversität gemein hat.

»Google ist auf der Suche nach seiner Seele«, so titelte Fortune in seiner Geschichte über die Initiativen von Google im Bereich Diversität Anfang 2017. Rund 80 Prozent aller weltweiten Suchanfragen finden über Google statt. Anfragen, die von unterschiedlichen Ethnien und Rassen stammen. Diese erwarten, dass sie zu ihren Fragen die passenden Suchergebnisse geliefert bekommen. Doch Google hat erkannt, dass die eigenen Mitarbeiter zumindest ein Stück weit Abbild der weltweiten Nutzer sein müssen, um sinnhafte Resultate zu liefern und die Anwender damit zufriedenzustellen. Auch Investoren schauen zunehmend auf den Aspekt Diversität. Thomson Reuters kreierte erstmalig im Jahr 2016 einen Diversitäts- und Inklusions-Index (D&I). Der Finanzdatenanbieter analysierte über 5000 Unternehmen. Thomson Reuters fand heraus, dass Unternehmen, die Diversität ernst nehmen, eine größere Zahl an innovativen Produkten herstellen, zufriedenere Kunden haben und bessere finanzielle Ergebnisse erzielen. Zu den Top-25-Unternehmen gehören multinationale US-Unternehmen wie Procter & Gamble, Johnson & Johnson, Microsoft und Cisco, die es alle in die Top 25 geschafft haben. Nicht aber Google und Facebook. Für Eingeweihte war dies auch keine Überraschung. Als Google erstmals 2014 seinen Widerstand aufgab und die Herkunft der Mitarbeiter publizierte, waren die Zahlen ernüchternd. Gemäß den Zahlen aus dem Jahr 2016 sind 71 Prozent der ungefähr 46.000 US-Angestellten Männer und 57 Prozent haben weiße Hautfarbe. Der Großteil der Führungspositionen wird von Männern besetzt. Asiaten machen immerhin ein Drittel der Arbeitskräfte aus. Latinos sind lediglich mit 5,2 Prozent und Schwarze mit 2,4 Prozent vertreten.172

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Quelle: Google, Bureau of Labor Statistics

Bei Facebook sind die Ausprägungen noch deutlicher. Lediglich 17 Prozent der Mitarbeiter sind Frauen, drei Prozent sind hispanischer und nur ein Prozent ist schwarzer Herkunft. Facebook versucht nun gegenzusteuern und wendet dabei laut Berichten des Wall Street Journal und Bloomberg im Rahmen von Pilotprojekten einen digitalen Fragebogen an, der Personalchefs mit einer doppelt so hohen Punktzahl belohnt, wenn sie einen Entwickler einstellen, der eine Frau ist, schwarz ist oder einen hispanischen Hintergrund hat.173

Daran erkennt man, welch weiten Weg die Technologiekonzerne noch vor sich haben. Auch Thiels Unternehmen Palantir gehört zu denen, die offiziell eingestehen mussten, dass man beim Thema Diversität noch Nachholbedarf hat. Im April 2017 einigte man sich auf eine Zahlung von 1,6 Millionen Dollar, um ein Gerichtsverfahren mit dem Arbeitsministerium der Vereinigten Staaten beizulegen. Palantir wurde beschuldigt, Bewerber mit asiatischem Hintergrund bei telefonischen Bewerberinterviews »routinemäßig auszusortieren«, was Palantir bestritt. Ein negativer Gerichtsentscheid hätte für Palantir erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen haben können. Es bestand die Gefahr, dass Palantir als Lieferant für den Bund ausgeschlossen worden wäre. Damit hätte Palantir keinen Zugang mehr zu den lukrativen Aufträgen der US-Behörden gehabt, die für Palantir von großer Bedeutung sind.174

Als Mitte der 1990er-Jahre das Internet für die Allgemeinheit zugänglich wurde, dachte jeder, es würde zu einer Demokratisierung von Wissen führen. »Das Leben im Cyberspace scheint sich so vielversprechend zu entwickeln, exakt wie Thomas Jefferson das gewollt hätte: Gegründet auf dem Primat der individuellen Freiheit ist es ein Versprechen für Pluralismus, Diversität und Gemeinschaft.«175 Die Worte stammen von jemandem, der es wissen muss und nicht leichtfertig mit seinen Worten umgeht: Mitch Kapor ist der Gründer der Softwarefirma Lotus und der Erfinder der Tabellenkalkulation, die eine der Killerapplikationen für die weitverbreitete Nutzung von Personal Computern in Büros wurde. Kapor gehört heute mit seiner Risikokapitalgesellschaft Kapor Capital zu den einflussreichen Investoren im Valley und hat sich auch als Philanthrop profiliert.

Max Levchin gab gegenüber einer Klasse an der Stanford auch unumwunden zu, was die Ursache für die fehlende Diversität ist: »Weil PayPal nur ein Haufen von Nerds war! Sie hatten nie mit Frauen gesprochen. Wie sollten Sie dann in der Lage sein, mit ihnen zu interagieren und sie einzustellen?« Doch damit nicht genug. Levchin betonte, dass die Vorstellung, dass Diversität in einem jungen Team wichtig oder gut ist, komplett falsch sei. »Je diverser eine frühe Gruppe, umso schwerer ist es für die Leute, eine gemeinsame Basis zu finden.« In einem Start-up, wo es auf jede Minute und manchmal auch Sekunde ankommt und Zeit neben Geld meist der limitierendste Faktor ist, müssen alle bedingungslos an einem Strang ziehen. Lange Diskussionen und Uneinigkeit haben schon viele erfolgversprechende Start-ups vom Weg abgebracht. »Wenn eine Leistungsgesellschaft irgendwo auf der Welt existiert, dann im Silicon Valley« so David Sacks.176

Haben die Medien das Buch »Diversity Myth« vermutlich nur primär deshalb in den Zusammenhang um die Aussagen zum Thema sexueller Übergriffe gebracht, um im Kontext von Trump und Thiel Aufmerksamkeit zu erzielen, so gibt es doch generell im Silicon Valley dazu einigen Nachholbedarf und einiges aufzuarbeiten. Denn in den letzten Jahren drangen immer wieder sexuelle Übergriffe bei prominenten Silicon-Valley-Start-ups an die Öffentlichkeit, ob beim Programmierportal Github, bei dem Anbieter für Personalwirtschaftssoftware Zenefits oder beim Transportdienst Uber. Bei Github und bei Zenefits mussten zwar in der Folge jeweils die Mitgründer das Unternehmen verlassen und man gelobte Besserung, doch es bedarf hierzu nach Meinung von betroffenen Frauen einer generellen Vereinbarung mit den Mitarbeitern. David Sacks selbst war bei Zenefits als zwischenzeitlicher CEO mit der Aufarbeitung diverser Skandale beschäftigt.

Susan Fowler, eine ehemalige Mitarbeiterin von Uber, ging mit ihren Erfahrungen im Frühjahr 2017 an die Öffentlichkeit. Sie fordert von den Tech-Unternehmen eine Selbstverpflichtung, »dass sie ethisch, rechtlich, verantwortungsvoll und transparent in Bezug auf Belästigungen, Diskriminierungen, Vergeltungen und anderem ungesetzlichem Verhalten handeln.«177 Fowler hat damit bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber Uber einen Stein ins Rollen gebracht. Anfang Juni 2017 kündigte Uber mehr als 20 Mitarbeitern nach einer internen Untersuchung zum Thema sexueller Belästigung und weiterer Fehlverhalten am Arbeitsplatz.178

Immerhin scheint die frühere Alma Mater von Thiel und Sacks hier einen Schritt weiter zu sein. Die seit Anfang 2017 amtierende Stanford-Verwaltungsdirektorin Prof. Persis Drell berichtete Anfang Juni 2017 erstmalig im Rahmen eines Fortschrittsberichts über das Projekt »Student Title IX Process«. Im Rahmen dieses von der Stanford University aufgesetzten Pilotprojektes geht es um Anhörungen von Fällen sexueller Belästigung, Stalking, Beziehungsgewalt und sexueller Gewalt, bei der Studenten involviert sind. Ab 2018 plant die Universität dazu einen jährlichen Bericht. In einer Campus-Umfrage im Jahr 2015 gaben rund 40 Prozent der Studentinnen im Grundstudium an, dass ihnen sexuelle Gewalt in irgendeiner Form widerfahren sei. Aktuell, so Prof. Drell, befänden sich 36 Fälle in der internen Untersuchung.179

Für manche gehören diese Skandale einfach zum Geschäft im Silicon Valley. »Ich denke, das sind hier keine Überraschungen für irgendjemand«, so die New Yorker Angel-Investorin Joanne Wilson.180 Möglicherweise liegt es auch an dem ganzen Wettbewerbsumfeld, der Wachstumskultur, der Suche nach Aufmerksamkeit der Start-ups, die meist von sehr jungen und unerfahrenen Leuten gesteuert werden. Sie wollen die Welt verändern und verlieren dabei auch die Bodenhaftung und manchmal das Verständnis für bestimmte rechtliche und ethische Grenzen. Das Silicon Valley ist eben ein ganz spezieller Ort. Doch es wäre nicht das Silicon Valley, wenn es diese Herausforderung nicht annehmen würde. Gespannt darf man darauf warten, dass sich Gründer und Start-ups des Themas annehmen. Vielleicht liefert jemand auch mit einem neuen Buch zum Thema Diversität und Multikulturalismus im Zeitalter von weltweiter Vernetzung und Social Media dazu die Blaupause und ein tragfähiges Manifest für eine empathischere Technologiezukunft.