»The very important lesson that was learned was that starting a great company is neither easy nor impossible, it is somewhere in between. It’s really hard, but doable.«
Peter Thiel181
Echtes Unternehmertum ist kein Zuckerschlecken! Jeder, der schon einmal ein Unternehmen von Null an aufgebaut hat, weiß davon ein Lied zu singen. Gründungen von Technologieunternehmen auf neuen Märkten stellen eine noch größere Herausforderung dar. Nicht ohne Grund scheitern neun von zehn Technologie-Start-ups. Der Aufbau eines Start-ups ist verbunden mit »Blut, Schweiß und Tränen«. Trotz immensen Einsatzes steht man in den meisten Fällen am Ende mit leeren Händen da und kann von einem »Exit« in Form eines Unternehmensverkaufs oder gar eines Börsengangs nur träumen. Die Medien haben Start-ups zuletzt als interessante Formate entdeckt. Sendungen wie ›Höhle der Löwen‹ zeigen, dass das Publikumsinteresse am Unternehmertum und neuen Geschäftsmodellen gewaltig ist. Heute ist es »cool«, ein Start-up zu gründen, und die Gründer werden in Hochglanzmagazinen vielfach als modische Hipster abgelichtet. Die jüngere Generation der heute 20- bis 30-Jährigen hat die Dotcom-Blase und die damit verbundene »Boom & Bust«-Zeit der Jahrtausendwende nicht miterlebt. Echte Start-up-Unternehmer zeigen sich aber in Zeiten, wo die See rauer wird und Schlechtwetterperioden in Orkanstärke aufziehen. Einer, der diese Erfahrungen am eigenen Leib als Tech-Unternehmensgründer mitgemacht hat, ist Ben Horowitz. Er gehört zu den einflussreichsten Risikokapitalinvestoren im Silicon Valley. Zusammen mit Marc Andreessen, dem Erfinder des ersten kommerziellen Internetbrowsers, gründete er im Jahr 2000, mitten in der Hochstimmung der damaligen Techblase, mit Loudcloud das erste Cloud-Unternehmen, das er nach vielen unternehmerischen Höhen und Tiefen schließlich für 1,6 Milliarden Dollar an Hewlett Packard verkaufte. Anschließend gründeten die beiden mit A16Z einen der erfolgreichsten Risikokapitalgeber im Valley. Zu den Investments von A16Z gehören Unternehmen wie Airbnb, Facebook, Github, Pinterest, Skype und Twitter. Horowitz hat seine Erfahrungen als Start-up-Unternehmer in dem weithin beachteten Bestseller ›The Hard Thing About Hard Things – Building a Business when there are no easy Answers‹ festgehalten. Horowitz gibt dabei eine ungeschminkte Sicht auf die Dinge als Start-up-Unternehmer und räumt als Insider schonungslos mit der Sichtweise auf, Start-up-Unternehmertum sei »easy going«, wo man in einer heilen Welt an neuen Geschäftsmodellen feilt und immer alle nett zueinander sind und sich alle lieb haben. Frei nach der Darwinschen Lehre geht es um das »Survival of the Fittest« bzw. um das »Survival of the Richest«. Jedem, der mit dem Gedanken spielt, ein Unternehmen zu gründen, sei dieses Buch empfohlen.182
Horowitz' Buchtitel könnte auch als perfekte Überschrift für Peter Thiels Erfahrungen als Unternehmer von der Gründung über den Börsengang bis hin zum Verkauf von PayPal an eBay dienen. Thiel selbst war es immer wichtig, nicht sich, sondern das Unternehmen in den Vordergrund zu stellen und den Mitarbeitern ein Vorbild zu sein. Vielfach haben Start-up Unternehmer nämlich ein starkes Selbstdarstellungsbedürfnis und verlieren durch ihre Erfolge in der Parallelwelt, in der sie leben und arbeiten, die Bodenhaftung und den Kontakt zu ihrem wichtigsten Gut, den Mitarbeitern. Thiel hingegen lebte als Vorstandsvorsitzender von PayPal immer noch bescheiden in seinem Ein-Zimmer-Apartment in Menlo Park, obschon er aus dem Start-up PayPal in gerade einmal drei Jahren ein Milliardenunternehmen geformt hatte. Erst nach dem Verkauf an eBay bezog er sowohl privat wie auch geschäftlich in San Francisco repräsentative Anwesen. In ›Zero to One‹ geht er auch auf das Thema Managementgehälter ein: »Der CEO eines neuen, mit Fremdkapital finanzierten Unternehmens sollte auf keinen Fall mehr als 150.000 Dollar pro Jahr verdienen.« Jahresgehälter von 300.000 Dollar führten dazu, dass »sich ein CEO eher wie ein Politiker und weniger wie ein Unternehmensgründer« verhält und am »Status quo« festhält, was für ein innovatives Startup tödlich ist. Thiel führt als Beispiel Aaron Levie, den CEO von Box an. Levie baute das »Dropbox für Firmenkunden« zu einem Milliardenunternehmen auf und verdiente weniger als seine Mitarbeiter. Levie selbst bewohnte auch vier Jahre nach der Unternehmensgründung noch eine »Ein-Zimmer-Wohnung und hatte außer einer Matratze keine Möbel.«.183
Neben dem Geltungsbedürfnis versäumen Unternehmer häufig den richtigen Zeitpunkt zurückzutreten. Vielfach kleben sie an ihrem Job und ihrer Firma und sehen nur sich in der Lage, das Unternehmen weiter zu führen. Die Geschichtsbücher sind voll von erfolgreichen Gründern, die es versäumt haben, rechtzeitig den Staffelstab zu übergeben. Nicht so Thiel. Er hat sich schon immer eher in der Rolle des Investors wohlgefühlt und betrachtete seine Zeit als CEO bei PayPal eher als einen »Abstecher«.184 Hier zeigen sich interessante Parallelen zu dem Finanzgenie Warren Buffett. Auch Buffett hatte nach der Übernahme des Textilunternehmens Berkshire Hathaway schnell erkannt, dass seine Zukunft nicht im Textilgeschäft liegt. Stattdessen baute er Berkshire in einen einzigartigen Hedgefonds um und konzentriert sich darauf, was er am besten kann: Die Suche und den Kauf von unterbewerteten erstklassigen Unternehmen. Thiel erkannte gleich an zwei für PayPal so wichtigen Wegmarken, dass er als CEO einem anderen Platz machen muss. Erstmals war dies nach der Fusion von PayPal mit X.com, dem Unternehmen von Elon Musk, der Fall. Thiel begründete seinen Mitarbeitern gegenüber in einer E-Mail den Rücktritt als Vorstandschef, dass er »nach 17 Monaten Tag- und Nachtarbeit erschöpft sei« und »er mehr ein Visionär und weniger ein Manager sei«. Für den eingeleiteten Transformationsprozess bedurfte es nun konkreter Macher.185 Bei seiner zweiten Demission, nach dem Verkauf an eBay, war für ihn klar, dass PayPal nun in die Hand eines etablierten Unternehmens mit fest eingefahrenen Managementstrukturen kam. Auch dies war nicht sein Fall. Er war als Unternehmer der Mann für die großen Herausforderungen, führte PayPal aus der Verlust-in die Gewinnzone, etablierte ein stabiles wachstumsstarkes Geschäftsmodell und führte das nur wenige Jahre alte Start-up erfolgreich mit einer Milliardenbewertung an die NASDAQ.
Wäre Peter Thiel in Deutschland aufgewachsen und hätte Selbiges versucht, so wäre er an dem Berg an Widerständen, der sich vor ihm aufgetürmt hätte, gescheitert. Man denke nur an die ganzen aufsichtsrechtlichen Rahmenbedingungen, aber auch die Schwierigkeit, Investoren in Deutschland für ein disruptives Geschäftsmodell wie PayPal es war zu gewinnen. Für ihn sind und bleiben deshalb die USA und besonders das Silicon Valley der Ort, an dem Innovation mittels Kapitaleinsatz am effizientesten und mit der höchsten Wertschöpfung umgesetzt werden kann.186
In seinem Buch ›Zero to One‹ widmet Thiel unter dem Titel »Das Gründerparadox« der Spezies Gründer als spezieller Form des Unternehmers ein eigenes Kapitel. In vielerlei Hinsicht fielen die sechs PayPal Gründer komplett aus dem Rahmen. Hätte ein Personalchef eines alteingesessenen Großunternehmens die Lebensläufe und Hobbies der sechs gelesen, wären wohl die meisten noch nicht einmal zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden. Laut Thiel haben »vier als Schüler Bomben gebastelt«.187 Er selbst gehörte aber nicht dazu.188 Doch damit nicht genug. Fünf waren jünger als 23 und vier im Ausland geboren, wovon drei aus kommunistischen Ländern kamen. Eine interessante Melange also für die Gründung eines kapitalistisch geprägten FinTechs, das nichts weniger im Sinn hatte als die erste weltweite Digitalwährung zu schaffen. Thiel stellt zu Recht die spannende Frage, »warum es für ein Unternehmen so wichtig und gleichzeitig so gefährlich ist, von ungewöhnlichen Menschen geführt zu werden, statt von austauschbaren Managern«.189 Eine dieser Unternehmerpersönlichkeiten, die laut Thiel dem »Selbstverstärkungseffekt«, der sich aus einer »Überzeichnung ungewöhnlicher Menschen und noch ungewöhnlicheren Handelns« durch »eigene Überzeichnung« wie auch durch »Überzeichnung durch andere« ergeben, ist Richard Branson. Er hat mit seiner Virgin Group über Jahrzehnte ein beeindruckendes Markenimperium aufgebaut und wird sowohl in der Geschäfts- wie auch in der Societywelt als Popstar des Unternehmertums gefeiert. Was er anfasst, wird zu Gold. Auch Prominente sind auf ihre Art Gründer. Thiel nennt Lady Gaga als Beispiel, deren Unternehmen ihre eigene kreierte Marke ist. Viele Prominente werden hochgejubelt zu Königen, und je höher sie steigen, umso größer ist der anschließende Fall. Bezeichnend sind für Thiel die Künstlerkarrieren von Elvis Presley, Michael Jackson oder Britney Spears. Technologieunternehmen und deren Gründer werden heute als Popstars gefeiert. Bestes Beispiel ist der Snapchat-Gründer Evan Spiegel, der passenderweise mit der Hollywood-Schauspielerin Miranda Kerr liiert ist und auf dem roten Teppich einen ebenso guten Eindruck hinterlässt wie vor Börsenanalysten im Zuge seines märchenhaften Börsengangs an die Wall Street. Gerade Technologieunternehmen leben im Herzen von ihren Gründern. »Gründer sind nicht deshalb wichtig, weil sie als Einzige Werte schaffen, sondern weil große Gründer das Maximum aus den anderen im Unternehmen herausholen.«190
Herausragende Beispiele sind für ihn Bill Gates und Steve Jobs. Vordergründig waren beide in ihrer Unternehmensstrategie grundverschieden. Vereint hat aber beide ihr visionärer Instinkt und ihre geradezu manischen Kräfte, die sie jeweils auf ihre Mitarbeiter übertrugen und sie damit zu Höchstleistungen anspornten. Steve Jobs kam als »verlorener Sohn« nach zwölf Jahren Abstinenz zurück in sein Unternehmen, als dieses kurz vor dem Exitus stand. Nur eine Finanzspritze des Erzfeinds Microsoft und die Zusicherung von Bill Gates, dass Microsoft auch weiterhin die wichtigen Office-Programme für die Apple-Plattform weiterentwickeln würde, hielten Apple über Wasser. Jobs musste für diese Aktion unter seinen getreuen Apple-Jüngern im Jahr 1997 viel Kritik einstecken, hat es aber einzig und allein für sein Unternehmen Apple getan. Microsoft hingegen erreichte Anfang 2000 seinen Zenit und war zu diesem Zeitpunkt das wertvollste Unternehmen der Welt. Nachdem Bill Gates im Jahr 2000 den Vorstandsvorsitz an seinen Freund Steve Ballmer übergab, ging es mit Microsoft über eine Dekade nur bergab. Ballmer war kein Programmierer wie Gates und hatte weder ein Gespür für technologische Trends noch war er die Identifikationsfigur für die so wichtigen Programmierer im Unternehmen. Folgerichtig verschlief Microsoft den Wandel hin zu Smartphones und Tablets, obschon das Unternehmen bereits Anfang der 1990er-Jahre unter Bill Gates Betriebssysteme und Anwendungssoftware für mobile Endgeräte entwickelt hatte. Während Microsoft unter der Führung von Satya Nadella aus der Rolle des »Underdogs« der mobilen Welt langsam wieder herausfindet, muss sich nun Tim Cook, der Nachfolger von Jobs, die Frage stellen, was sein »Next big thing« für Apple sein wird.
Peter Thiel selbst reiht sich in seinem Buch nicht in die Liste von Bill Gates und Steve Jobs ein, obwohl ohne seinen speziellen und einzigartigen Führungsstil der Erfolg von PayPal nicht möglich gewesen wäre. Immerhin war PayPal sein erstes Unternehmen und seine erste Erfahrung als Unternehmer.
Für Thiels Freund und PayPal-Mitstreiter der ersten Stunde David Sacks ist PayPal mittlerweile die Blaupause für moderne Silicon-Valley-Start-ups schlechthin.191 Schauen wir uns die Errungenschaften von PayPal im Einzelnen an.
Unternehmensvision
Der verstorbene Altbundeskanzler Helmut Schmidt meinte vor langer Zeit, »wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen«. Wie er im ZEITmagazin später zum Besten gab, war es eine »pampige Antwort auf eine dusselige Frage«.192 Amerikanische Unternehmen dagegen lieben sie: Die Rede ist von der Unternehmensvision. Für Thiel ist es einer der wichtigsten, wenn nicht gar der wichtigste Aspekt der Mitarbeitermotivation. Als Vorzeigebeispiel für eine ausgezeichnete und gelebte Unternehmensvision führt er die von seinem Freund Elon Musk gegründete Raumfahrtfirma SpaceX an. SpaceX hat die Vision, innerhalb von 15 Jahren Mars-Missionen zu betreiben. Diese einzigartige Idee elektrisiert und motiviert die Mitarbeiter und spornt sie so jeden Tag zu neuen Höchstleistungen an. »Start-ups lieben Kult. Im positiven Sinne.«193
Ein Start-up zum Erfolg zu führen, ist vergleichbar mit der Besteigung des Matterhorns. Man hat die Vision, ganz oben zu stehen, sieht sich aber unten im Tal als kleinen Punkt. Dazwischen befinden sich viele Unwägbarkeiten, Gefahren und Entbehrungen. Thiel mag ein solches ›Matterhorn-Bild‹ im Kopf gehabt haben. Ihm war klar, nur mit einer großen und motivationsträchtigen Vision kann er seine verschworene PayPal-Einheit aus unerfahrenen, aber extrem talentierten und begeisterungsfähigen »Bergsteigern« zum Erfolg führen.
Seine Vision für PayPal war nicht gerade bescheiden. In einer Rede vor seinen Mitarbeitern schärfte er ihnen ganz im Stile eines »Bergführers« am Anfang des Weges das Bewusstsein. »Wir sind definitiv auf dem Weg zu etwas Großem. Der Bedarf, den PayPal adressiert, ist monumental. Jeder auf der Welt benötigt Geld – um bezahlen, handeln und leben zu können. Papiergeld ist eine altertümliche Technologie und dazu noch eine unbequeme Bezahlform. Es kann einem ausgehen. Es kann verloren gehen und gestohlen werden. Im 21. Jahrhundert benötigen Menschen eine Form des Geldes, die komfortabler und sicherer ist, auf die von überall mittels eines PDA oder einer Internetverbindung zugegriffen werden kann.« Doch nicht nur um die Technik als Selbstzweck ging es ihm.194
Thiel wollte PayPal in einen viel größeren Zusammenhang rücken. Schließlich ist Geld seit Jahrhunderten das Schmiermittel für Wachstum und Spielball der Mächtigen. Die Wirtschafts- und Währungspolitik Mitte der 1990er-Jahre lieferte ihm dazu den idealen Nährboden. 1997 kam es zu einer Wirtschaftskrise in Südostasien, und im darauffolgenden Jahr brach der Hedgefonds LTCM aufgrund von stark gehebelten Währungsspekulationen zusammen, nachdem es in Russland zu einer Zahlungskrise kam. Russland hatte aufgrund des niedrigen Ölpreises Probleme mit seiner Bonität und verlor international an Kreditwürdigkeit. Die Folge waren hohe Inflationsraten und Währungsabwertungen. Gewinner waren die Oligarchen, die mit dem Betrieb von Energie- und Rohstoffunternehmen riesige Vermögen angehäuft und über Möglichkeiten des Geldtransfers ins Ausland und in sichere Währungen verfügt hatten. Die »normalen« Menschen in diesen Ländern saßen laut Thiel in der Falle und konnten ihr mühsam erspartes Geld vor den korrupten Regierungen nicht in Sicherheit bringen. PayPal könne dies ändern. »In der Zukunft, wenn wir unseren Dienst außerhalb der USA verfügbar machen und die Verbreitung des Internet weiterhin in alle Bevölkerungsschichten voranschreitet, wird PayPal den Bürgern weltweit mehr direkte Kontrolle über ihre Währungen geben als jemals zuvor. Es wird für korrupte Regierungen nahezu unmöglich, Vermögen ihrer Bevölkerung zu stehlen.« Denn mit PayPal, so Thiel, könnte die Bevölkerung ihrer jeweiligen Regierung einen Strich durch die Rechnung machen und das Geld aus lokaler Währung einfach in sicherere Währungen wie Dollars, Pfund oder Yen wechseln.195
Thiel war nun in seinem Element. Er dozierte vor seinen Mitarbeitern als weitsichtiger Ökonom und fast schon als Robin Hood, der das Monopol des Geldverkehrs durch Regierungen brechen und für Chancengleichheit der normalen Bevölkerung gegenüber Regierungen und Superreichen sorgen wollte. Erstmal in Fahrt, setzte Thiel noch eins drauf. Er ordnete PayPal an den seiner Meinung nach angemessenen Platz im Periodensystem der Tech-Welt ein und zog eine Analogie zu niemand Geringerem als dem mächtigsten Tech-Konzern zum damaligen Zeitpunkt: Microsoft! »Ich habe keinen Zweifel, dass dieses Unternehmen die Chance hat, das Microsoft für Bezahllösungen, also das weltweite Finanz-Betriebssystem für die Welt zu werden«.196 Das Ganze mag etwas großspurig geklungen haben, Thiel hat aber mit seinen direkten Ansprachen und seinen bildhaften Vergleichen den richtigen Nerv bei seinen Mitarbeitern getroffen und eine Vision in den Raum gestellt, die hoch gegriffen, aber für alle plausibel und durchaus erreichbar schien. Positive Nebenwirkung: Die PayPal Mitarbeiter sprachen mehr darüber, wie PayPal die Welt verändern würde, als sich Gedanken über ihren persönlichen Reichtum aus den Aktienoptionen zu machen.
Disruptiver Faktor
Fragt man Gründer heute, warum sie ihr Start-up gegründet haben, erhält man häufig die Antwort, sie wollen damit einen »Impact«, also eine nachhaltige Wirkung, erzielen. Aktuell macht im Zuge der Digitalisierungsdiskussion das Wort »Disruptiv« die Runde. Frei übersetzt: Kein Stein bleibt auf dem anderen. Neue Geschäftsmodelle entwickeln sich durch die digitalen Plattformen wie den App Stores von Apple und Google und der Allgegenwärtigkeit von Smartphones in rasender Geschwindigkeit. Die kreative Zerstörung (creative destruction) ist ein Begriff der Makroökonomie, den der berühmte österreichische Ökonom Joseph Schumpeter erstmals 1942 in seinem Buch »Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie«197 prägte. Er schreibt:
»Die Eröffnung neuer, fremder oder einheimischer Märkte und die organisatorische Entwicklung vom Handwerksbetrieb und der Fabrik zu solchen Konzernen wie dem von U.S.-Steel illustrieren den gleichen Prozess einer industriellen Mutation – wenn ich diesen biologischen Ausdruck verwenden darf–, der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozess der ›schöpferischen Zerstörung‹ ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum. Darin besteht der Kapitalismus und darin muss auch jedes kapitalistische Gebilde leben.«198
Für Schumpeter ist der Akt der Zerstörung notwendig, damit eine neue Ordnung entstehen kann.
Thiel hatte ohne Zweifel Schumpeters Gedanken im Sinn, als er PayPal vom Stapel ließ. Er wusste um die Tatsache, dass alles rund um die Kombination »Internet & Geld« zwar delikat in der Umsetzung war und man vielen Marktteilnehmern damit gehörig auf die Füße treten würde, aber wenn alles gut ginge, würde er einen einzigartigen Hebel in der Hand halten und die Welt nachhaltig verändern können. Ganz nebenbei würde er auch jede Menge Aufmerksamkeit auf sich und PayPal ziehen und gleichzeitig einen großen finanziellen Erfolg erzielen. Gleichzeitig befand sich seine Vision für PayPal im Einklang mit seinem libertären Weltbild. Er wollte die Welt von den Fesseln des Währungsdiktats durch Regierungen befreien und eine neue Internetwährung schaffen, die außerhalb des Einflussbereichs von Politikern und Staaten liegt. PayPal war also das erste globale Finanz-Internetunternehmen. Erst 15 Jahre später sollte sich der Begriff »FinTech« breitflächig einbürgern und manifestieren, seit Banken, Versicherer und Risikokapitalgeber massiv in die Digitalisierung der Finanzbranche investieren. Als Unternehmer und Investor sind für Thiel Buzzwörter wie »FinTech« und »BigData« Alarmzeichen für Blasenbildungen. Davon hält er sich fern und sucht sich stattdessen neue interessante Herausforderungen und Unternehmen, die noch niemand auf der Karte hat.
Führungsstil
Welchen Führungsstil pflegte nun Peter Thiel als CEO des noch jungen Start-ups PayPal? Wer sollte dies besser beschreiben können als Thiels Intimus David Sacks. Er trat schließlich in die Fußstapfen von Thiel als Chefredakteur der Stanford Review und war bei PayPal als Mann für das operationelle Tagesgeschäft (Chief Operating Officer, COO) maßgeblich dafür verantwortlich, dass das Start-up aus den explosionsartig wachsenden Mitgliederzahlen auch Umsätze generierte. Gegenüber dem Fortune-Magazin brachte er Thiels Eigenschaften als Unternehmer wie folgt auf den Punkt: »Peter war nie der Typ für die praxisbezogenen Tätigkeiten. Stattdessen hatte er die Gabe, alle wichtigen strategischen Angelegenheiten zu erkennen und sie richtig hinzubekommen.« Sacks erinnert an den März 2000, den Höhepunkt der Dotcom-Blase, als PayPal eine Kapitalerhöhung über 100 Millionen Dollar plante. Während viele in der Szene auf noch höhere Bewertungen spekulierten und sich mit neuen Finanzierungsrunden zurückhielten, »trat Peter jedem in den Hintern, um die Runde zu schließen. Wenige Tage später crashten die Aktienmärkte. Hätte er nur eine Woche länger gezögert, dann wäre das Unternehmen gescheitert.«199
Die Gabe, Dinge in hellseherischer Voraussicht zu sehen und dann unmittelbar und konsequent in konkrete Handlungen umzusetzen, ist nur wenigen gegeben. Thiel ist ohne Zweifel ein großer Denker mit einer starken Vision auf die Sicht der Welt. Für jede Herausforderung, der sich PayPal gegenüberstand, fand er mit seinem verschworenen Team umgehend eine Lösung. Thiel erinnert in seiner Zeit bei PayPal an den U-Boot Kapitän im Weltbesteller »Das Boot« von Lothar Günther Buchheim. Der »Alte«, wie er von seiner Besatzung genannt wurde, musste sein U-Boot und seine Besatzung nicht nur durch die raue See, sondern auch vorbei an Bombern und Zerstörern manövrieren und gleichzeitig Ruhe und Übersicht wahren.
Thiel betrat mit PayPal Neuland. Noch gab es keine FinTechs, keinen Rechtsrahmen und keine Regulierung. Er war weitestgehend in dieser Schlacht auf sich allein gestellt und musste PayPal weitsichtig in einen sicheren Hafen lenken.
Bezeichnend für außergewöhnliche Unternehmer wie Thiel ist die Fähigkeit, sich auf die Themen und Tätigkeiten zu konzentrieren, die für das Unternehmen die höchste Wertigkeit haben. Das genaue Abwägen aller wichtigen Parameter ist die Grundvoraussetzung für das Eingehen großer Risiken. Immer wieder setzte Thiel alles auf eine Karte. Trotzdem sind für ihn Startups keine leichtfertigen Lotterietickets. Er wusste, nur mit größtmöglichem Einsatz konnte er PayPal zum Erfolg führen.
Grundvoraussetzung für das Funktionieren seines Managementstils war, dass er sich auf sein Führungsteam und die restliche Mannschaft bei PayPal blind verlassen konnte. Mit Reid Hoffman und David Sacks hatte er seine zwei besten Standford-Freunde an der Seite, die sich um das Tagesgeschäft und die operative Umsetzung kümmerten. So hatte er die Freiheit und den Freiraum, sich um die großen strategischen Linien und insbesondere um das Einwerben von Kapital zu kümmern. Ganz im Sinne des amerikanischen Profisports wusste sich Thiel als »most valuable Player« (MVP) mit seinen herausragenden strategischen Fähigkeiten in seinem PayPal-Team in Szene zu setzen und wurde von seiner Mannschaft entsprechend respektiert und unterstützt.
Für Thiel sind starke Freundschaften die Basis für den unternehmerischen Erfolg. Auf die Frage Emily Changs, was Mythos und Realität des Peter Thiel sei, sagte er, dass er all seine Projekte nicht in Form einer Solovorstellung angehe. Er habe Freunde, mit denen er häufig spreche, und es gäbe in seinem Umfeld Personen die eng mit ihm zusammenarbeiten würden.200
Analysiert man das unternehmerische Handlungsmuster von Thiel genauer, so stößt man unweigerlich auf den Begriff »Kongenialität«. Thiel setzt als Stratege auf Leute seines Vertrauens. Er benötigt mindestens einen kongenialen Partner, der seine gedanklichen Laufwege nahezu blind versteht. Parallelen tun sich auch hier zu Warren Buffett auf. Betont dieser nicht immer gebetsmühlenartig, dass seine Berkshire Hathaway und er nicht da stünden, wo sie jetzt sind, wenn er nicht auf seine »rechte Gehirnhälfte« Charly Munger zählen könne?
Was für Buffett Charly Munger ist, war für Peter Thiel bei der Gründung von PayPal Max Levchin. Beide zusammen verkörperten das, was für ein erfolgreiches Start-up zwingende Grundvoraussetzung ist: die perfekte Symbiose aus Business- und Technologieverstand auf einem außergewöhnlich hohen Level. Genau daran scheitern viele Start-ups und Ideen, dass sie entweder zu business- oder zu technologielastig und damit nicht in der Lage sind, ein herausragendes Produkt für den Markt zu schaffen. Ohne Levchins Programmierkünste hätte PayPal nicht das explosionsartige Wachstum an Nutzern meistern können. In seiner Rolle als Technologiechef (CTO) entwickelte er die so eminent wichtigen Anti-Betrugs-Algorithmen, die ihm im Jahr 2002 von dem angesehenen MIT-Magazin Technology Review eine Platzierung unter den Top-100-Innovatoren unter 35 Jahren eingebracht hat. Doch Levchin war nicht nur der geniale Programmierer, er scharte auch ein ganzes Team treuer Entwickler um sich, die in vielen Tag- und Nachtschichten neue Ideen aus dem Produktteam von PayPal in rasender Geschwindigkeit in Software gegossen haben.
Gründet man ein Unternehmen, so Thiel, dann »ist die erste und wichtigste Frage, mit wem. Die Wahl von Geschäftspartnern ist wie eine Ehe, und Streitigkeiten können genauso hässlich verlaufen wie eine Scheidung.« Ähnlich wie in einer Ehe folgt auch bei Start-ups auf den romantischen »Honeymoon« am Anfang der graue Alltag mit seinen ganzen Herausforderungen an Höhen und Tiefen. Aus diesem Grunde gibt Thiel in seinem Buch ›Zero to One‹ die dringende Empfehlung, dass Gründer »eine gemeinsame Vorgeschichte« haben sollten, »sonst ist das Ganze nicht mehr als ein Glücksspiel«. Notwendig seien »gute Mitarbeiter, die miteinander auskommen, aber sie brauchen auch eine Struktur, damit langfristig alle an einem Strang ziehen.«201
Thiel, der verkrustete bürokratische Konzernstrukturen verabscheut wie der Teufel das Weihwasser, hätte mit seinen Methoden in einem großen Unternehmen als CEO sicherlich nicht so reüssiert, wie ihm dies bei PayPal gelungen ist. Für ihn ist ein Start-up »das größtmögliche Projekt, über das man noch konkrete Kontrolle ausüben kann«.202
Unternehmensstrategie
Ein erfolgreiches Start-up ist wie die Formel 1. Man ist immer am Limit. In jeder Sekunde können sich die inneren und äußeren Einflüsse radikal verändern. Immer gilt es abzuwägen, welches maximale Risiko man auch beim Einsatz neuer Technologien bereit ist einzugehen, auch wenn man noch nicht weiß, ob man das Rennen wirklich zu Ende fahren kann.
Die Krönung der Formel 1 ist Monaco. Niki Lauda meinte einmal zum Grand Prix in Monaco, es sei wie Hubschrauberfliegen im Wohnzimmer. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass man in jeder einzelnen Sekunde höchst konzentriert sein muss und sich eben alles auf engstem Raum abspielt. Auch in Führung liegend, kann es den mit allen Wassern gewaschenen Piloten passieren, dass sie noch in der letzten Runde aufgrund einer Unachtsamkeit ihre Boliden an die Mauer setzen und den Traum von einem glorreichen Sieg jäh begraben müssen. Ähnlich ist es in einem Start-up. Es gibt keine feste Choreografie für den Erfolg. Vielfach bewegt man sich im Grenzbereich des täglichen Wahnsinns. Innerhalb eines Tages kann entweder alles richtig oder alles falsch sein. In einem Start-up müssen die Gründer, Investoren und Mitarbeiter lernen, mit diesen Schwankungen zwischen »Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt« nüchtern umzugehen. Nicht ohne Grund bemessen die Aktienbörsen die täglichen Marktschwankungen in einem eigenen Volatilitätsindex, der die Risikoneigung der Anleger jeden Tag schwarz auf weiß bemisst.
Andy Bechtolsheim, neben Peter Thiel die prominenteste Persönlichkeit im Valley mit deutschen Wurzeln, hat im Rahmen einer Vorlesung an der Stanford University unter dem Titel »Der Innovationsprozess« die Erfolgsfaktoren für erfolgreiche Start-ups zusammengefasst sowie die Ursachen, warum Start-ups scheitern:
Fünf Gründe für das Scheitern von Start-ups:
– Die Idee ist zu früh.
– Die Idee ist zu spät.
– Die Idee ist nicht relevant.
– Die Idee ist zu teuer.
– Die Idee ist ohne klaren Nutzen.
Es kommt also darauf an »das richtige Problem zu lösen«. Wenn man also »nicht zu früh oder zu spät am richtigen Kundenversprechen arbeitet, dann sind Start-ups in der Regel erfolgreich.203
Thiel und seine Mitgründer Max Levchin, Luke Nosek und Ken Howery hatten dies über ein Jahrzehnt vor Bechtolsheims Rede bereits verinnerlicht, und es wurde zur DNA der Unternehmensstrategie von PayPal. Das Internet und der eCommerce im Speziellen war gerade dabei abzuheben. Die Auktionsplattform eBay, auf der Privatpersonen und kleinere Händler einem Trödelmarkt vergleichbar Waren zum Verkauf anbieten können, entwickelte sich in rasender Geschwindigkeit zur führenden eCommerce Plattform im Internet. PayPal brauchte zuvorderst Wachstum. Kundenwachstum. Das Wachstum musste schnell, exponentiell und möglichst kosteneffizient, sprich mit hohem Wirkungsgrad, erfolgen. Nur über das Nutzerwachstum, so waren sich Thiel und sein Team sicher, könne man die anderen Wettbewerber aus dem Ring schlagen. Es war nur Platz für einen Anbieter. Darwinismus pur. Im Jahr 2017 reden kluge Unternehmensberater – wenn sie an erfolgreiche Internetunternehmen denken – von Plattformen. Facebook ist die führende Plattform für Soziale Medien. Amazon ist die führende Plattform für den eCommerce. PayPal ist auch deshalb die Blaupause für viele erfolgreiche Start-ups, weil es schon damals um die Jahrtausendwende den Anspruch als führende Bezahlplattform im Internet hatte.
Wie konnte sich nun PayPal als eine starke Marke für digitales Bezahlen in so kurzer Zeit etablieren und zum führenden Bezahlnetzwerk werden?
Thiel hatte die bereits erwähnte geniale Idee, jedem neuen PayPal-Kunden zehn Dollar auf sein PayPal-Konto gutzuschreiben sowie für jeden neugeworbenen Kunden noch einmal zehn Dollar. Ein Schneeballsystem kam ins Rollen.
PayPal sollte ein Netzwerk für den gegenseitigen Geldtransfer zwischen Privatpersonen untereinander aber auch zwischen Privatpersonen und Unternehmen sein. Und ein Netzwerk ist umso wertvoller, je mehr Marktteilnehmer den Dienst nutzen. Thiel wusste, dass Geschwindigkeit der alles entscheidende Parameter war, um das Wachstum anzuheizen und die Nutzerzahlen auf eine kritische Größe zu bringen. Ein Vergleich zur Atomphysik sei erlaubt: Es bedarf der kritischen Masse, um in der Folge eine Kettenreaktion auszulösen. Genau dies gelang PayPal. Es setzte ein sogenannter viraler Effekt ein, d.h. das Wachstum hob ab und verselbstständigte sich. Virale Effekte zeigen sich in Form des »Hockeystick«-Effekts. Ähnlich eines Eishockeyschlägers steigt die Wachstumskurve nicht linear sondern überproportional, also exponentiell an. Mathematisch spricht man deshalb in der »Kurvendiskussion« der Analysis von einer stark steigenden Kurve.
Nun liefen die Motoren bei PayPal unter Volldampf. Ähnlich wie in der Formel 1 wollte man weiter Vollgas geben und blieb auf dem Gaspedal. Das wichtigste Schmiermittel, um innerhalb kürzester Zeit die Wachstumsraten aufrecht zu erhalten, war natürlich das Geld. PayPal entwickelte sich zu einer einzigartigen Geldverbrennungsmaschine.
Thiel und sein Team mussten den fast unmöglichen Spagat aus exponentiellem Kundenwachstum, Einführung eines Geschäftsmodells mit nachhaltiger Monetarisierung und dem Heranschaffen immer neuer Finanzmittel schaffen. Und dies zu einem Zeitpunkt, als das Marktumfeld crashte und für Unternehmen, die nur Geld verbrannten, wenig bis gar nichts übrig hatte.
PayPal gewann jedoch bei den Kunden auch deshalb schnell an Vertrauen, weil man nur eine E-Mail-Adresse zur Registrierung und eine Kreditkarte zur Hinterlegung benötigte. Zudem war der Dienst für Privatkunden und zunächst auch für Geschäftskunden kostenlos. PayPal erkannte unter Thiel auch, wie wichtig der Kundenservice für eine dauerhafte Kundenbeziehung ist. Man investierte in ein eigenes Service Center in Omaha, Nebraska, in dem damals schon 700 Mitarbeiter beschäftigt waren, um die Fragen und Probleme der PayPal-Nutzer schnell beantworten zu können. Das Kernteam im Valley bestand zu diesem Zeitpunkt zum Vergleich aus lediglich rund 220 Personen.204 Es entstand eine »Brand Awareness«. Die Nutzer sprachen nicht mehr von einer Überweisung des Geldbetrags, sondern davon, das Geld zu »PayPalen«. Immer dann, wenn ein Dienst sich zu einem Verb in der Umgangssprache entwickelt, entsteht eine neue Marke. Bestes Beispiel ist die Internetsuche: schließlich hat es sich eingebürgert, dass wir einfach von »Googeln« sprechen, wenn wir etwas im Internet ausfindig machen wollen.
Markenetablierung und Kundenwachstum waren wichtig, denn die PayPal-Gründer wussten, dass der nächste Wettbewerber nur einen Klick entfernt lag und praktisch über Nacht aus wenigen Zeilen Programmcode ein neuer Anbieter wie aus dem Nichts auftauchen konnte.
Deshalb entschied man sich für eine richtungsweisende Strategie: Wachstum zuerst, Umsätze später!
Diese Strategie sollte ein Jahrzehnt später auch Modell sein für viele erfolgreiche Unternehmen, insbesondere Internetunternehmen des Web 2.0. So hatte Facebook bereits eine zweistellige Milliardenbewertung mit prominenten Investoren wie Microsoft oder dem Hongkong-Chinesen Li Ka Shing, ohne bewiesen zu haben, dass es über ein funktionierendes Geschäftsmodell verfügte.
Um nun das Kundenwachstum weiter anzuheizen, entschied man sich für einen unkonventionellen Weg. Das Gründer- und Managementteam, bestehend aus Peter Thiel, Max Levchin, Luke Nosek, David Sacks und Reid Hoffman, entschied, die komplette Strategie von PayPal inklusive der Marketing- und Produktentwicklung auf den eBay-Marktplatz auszurichten. An keiner anderen Stelle im Internet fand man zu diesem Zeitpunkt so viele eCommerce-Kunden, die auch gleichzeitig eine Bezahlfunktion benötigten. Man setzte also alles auf eine Karte, und das, obwohl man über keine offizielle Geschäftsbeziehung oder Produkt- bzw. Vertriebspartnerschaft mit eBay verfügte. Man wollte also auf dem Rücken des Elefanten zum Erfolg reiten, immer mit der Gefahr, dass dieser den lästigen Emporkömmling PayPal einfach abwarf und ihm damit das wirtschaftliche und finanzielle Genick brach. Es gab keinen Plan B. Es war eine Alles-oder-nichts-Strategie.
Die Strategie ging auf. Sie ging laut David Sacks, der das Produktteam von PayPal leitete, deshalb auf, weil eBay so »dysfunktional«, also regelrecht funktionsgestört, aufgestellt war. »Hätten eBay und PayPal dieselbe kulturelle Basis gehabt, dann hätten sie uns möglicherweise besiegt. So waren wir in der Lage, diesen sich langsam vorwärtsbewegenden Platzhirsch zu schlagen.« Für ihn eine »bittersüße Ironie« des Schicksals, denn die schwer überbrückbaren kulturellen Differenzen waren der Hauptgrund, warum die PayPal-Gründer nach der Fusion mit eBay das Unternehmen in Scharen verließen.205
Die Kunst von Thiel und seinem Team bestand nun darin, das Kundenwachstum in Umsätze zu verwandeln. Auch dabei kam ihnen die eBay-Plattform zupass. Immer mehr professionelle Händler suchten für die Abwicklung ihrer eBay-Geschäfte eine Lösung. PayPal entwickelte umgehend eine kostenpflichtige Händlerversion und konnte durch geschicktes Marketing immer mehr Kunden von ihren Premium-Diensten überzeugen.
Der Schlüssel für die Monetarisierung bei PayPal lag also in der geradezu manischen Fokussierung auf die Zielgruppen und deren Produktwünsche. David Sacks, der als Strategiechef zu PayPal kam, sagte später, dass er »sehr früh erkannte, dass ohne ein gutes Produkt alles andere nichts wert war. Das Produkt war »absolut zentral« für ihn.
Schließlich gelang es, die sogenannte Cash-Burn Rate, also den Umfang der Verluste, stark zu reduzieren und das Geschäftsmodell feinzujustieren. Der einsetzende Netzwerkeffekt sorgte dafür, dass die Kosten der neu hinzugekommenen Kunden weit weniger ins Gewicht fielen als die durch die bestehenden Kunden erzielten Umsätze. Thiel, der die Mathematik so liebt, gelang es, die komplexe Monetarisierungsformel von PayPal, bestehend aus zahlreichen Unbekannten, gewinnbringend aufzulösen und mit dem IPO im Frühjahr 2002 nachhaltig in die Profitabilitätszone zu führen.
Für Thiel muss, wie gesagt, ein erfolgreiches Unternehmen auf einem Monopol basieren. Mit PayPal ist ihm dabei nahezu Unmögliches gelungen: Er baute ein milliardenschweres Unternehmen auf dem Rücken eines Monopolisten, nämlich eBay, auf.
PayPal ging tatsächlich als Sieger im Wettlauf der Bezahldienstleister hervor.
Mission Accomplished!
Unternehmenskultur und Kommunikation
Kann man bei einem wenige Monate alten Unternehmen von Unternehmenskultur sprechen? Man kann. Start-ups verhalten sich häufig wie Babys. Sie sind junge und unbedarfte Geschöpfe, die erst langsam ihre Rolle in der Welt finden müssen. Wie bei einem Baby sind die ersten Tage, Wochen und Monate prägend für die Entwicklung. »Im Moment der Gründung können Sie mehr schaffen als ein wertvolles Unternehmen: Sie können die Weichen dafür stellen, dass es auch in ferner Zukunft Neues in die Welt bringt, statt nur ein Erbe zu verwalten.206
Neben den richtigen Mitstreitern, dem notwendigen Kapital und der zündenden Idee kommt der internen Kultur und Kommunikation vielleicht die größte Bedeutung zu. Ein erfolgreiches Start-up muss von innen heraus leben. Das Management und die Mitarbeiter müssen eins sein und eine verschworene Gemeinschaft bilden. Nicht der Einzelne steht im Mittelpunkt, sondern die Mannschaft. Arbeiten im Start-up ist Mannschaftssport.
Gerade in der Firmenkultur unterschied sich PayPal stark von anderen Unternehmen. Keith Rabois, verantwortlich für Geschäftsentwicklung und Öffentlichkeitsarbeit, beschrieb die PayPal-Kultur als konfrontativ. PayPal förderte die interne Debatten- und Streitkultur. Die vielschichtigen Persönlichkeiten brachten jeder für sich interessante Aspekte in die Diskussion ein. So konnte bei den enormen Herausforderungen, denen sich PayPal gegenübersah, schnell und aus allen Perspektiven betrachtet nach der bestmöglichen Lösung gesucht werden. Von Vorteil war sicherlich, dass Thiel, Rabois, Sacks und Howery durch ihre Arbeit bei der Stanford Review eine sehr solide Debatten- und Streitkultur entwickelt hatten. Diese übertrugen sie konsequent auf PayPal. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Start-ups, wo man sich häufig in internen Grabenkämpfen verliert und sich nicht einig wird über eine zielgerichtete Strategie, zogen, nachdem alle Argumente gehört und eine Richtung definiert wurde, bei PayPal alle an einem Strang.
Eine Unternehmensvision und Strategie ist nur so gut, wie sie von Mitarbeitern gelebt und umgesetzt wird. Thiel legte deshalb großen Wert auf Kameradschaft und Teamwork. Dies zog sich wie ein roter Faden durch die Anfänge von PayPal.
»Die Motivationsfrage ist immer wichtig,« so Thiel. »Ich denke, bei großartigen Firmen gibt es immer diesen speziellen Auftrag mit dem Gedanken, wenn man es selbst nicht tut, wird es sonst niemand anderes machen. Wenn du daran nicht arbeitest, wird es nicht realisiert werden. Das war so bei PayPals Vision«.207
Thiel hält es deshalb für wenig verwunderlich, dass von Gründern aus anderen Tech-Firmen wie Google oder Microsoft nicht die Menge und Qualität an Start-ups hervorgegangen ist, wie dies bei der »PayPal Mafia« der Fall war. »Wenn du Teil einer Firma bist, wo alles perfekt funktioniert …, unterschätzen Gründer, die aus solchen Firmen kommen, wie schwierig es ist, eine Firma aufzubauen.«208
Die offene und transparente Kommunikation im Unternehmen und seine Reden auf den Mitarbeiterversammlungen, wo er die PayPal-Strategie erläutert hatte, führten zu einer starken Teambildung. Das Management lebte das Zusammengehörigkeitsgefühl vor. Symbolträchtig war die Tatsache, dass Thiel und seine Managementkollegen beim IPO nicht auf der Balustrade der New Yorker Börse verweilten, sondern stattdessen im Kreise ihrer Mitarbeiter im Valley blieben, um dieses einmalige Ereignis mit allen Teammitgliedern zu feiern. Auch bei den Feierlichkeiten drückte Thiel der Veranstaltung seinen Stempel auf: Er organisierte ein Simultanschachturnier, bei dem PayPal-Mitarbeiter gegen ihn gleichzeitig antraten. Er besiegte sie alle, mit einer Ausnahme: David Sacks. Nebenbei sei gesagt, dass die Schachpartien auf einem schmucklosen Parkplatz außerhalb des PayPal-Firmengebäudes stattfanden.209
Viele Menschen leben nach dem Motto »lebe jeden Tag so, als ob es dein letzter ist«. Als echter »Contrarian« sieht dies Thiel genau entgegengesetzt. »Lebe jeden Tag so, als würdest du für immer leben.« Für ihn bedeutet das, dass man »die Menschen um einen herum so behandeln sollte, als würde man für eine sehr lange Zeit mit ihnen zusammen sein. Die Entscheidungen, die man heute trifft, sind von Bedeutung, weil ihre Konsequenzen mit der Zeit größer und größer werden«. Thiel zitiert dabei gerne Albert Einstein, der betonte, dass der Zinseszinseffekt die mächtigste Kraft in unserem Universum sei. »Dabei geht es nicht nur um Finanzen oder Geld, es geht um die Idee, dass du die besten Gewinne im Leben durch das Investment von Zeit in den Aufbau dauerhafter Freundschaften und langfristigen Beziehungen erzielst.«210
Sowohl PayPals wie auch Thiels Erfolg beruht auf den starken Freundschaften, die nicht nur ihn, sondern viele seiner PayPal Freunde zu unternehmerischen und geschäftlichen Erfolgen geführt haben.
Und wieder zeigen sich Parallelen zu Buffett. Beide Milliardäre verstehen es wie kaum jemand anderes im Geschäftsleben, ein Netzwerk aus starken Freundschaften über Jahrzehnte zu pflegen und damit einen gigantischen wirtschaftlichen Erfolg für sich und die Unternehmenswelt erzielen.
Damit Amerika wieder zurück in die Zukunft kommt, wo es einmal war, muss es die Zukunft als zu gestaltend begreifen, nicht als passives Erleben und Konsumieren. Raus aus der Komfortzone also. Für Thiel braucht Amerika ein Stück der ursprünglichen PayPal-Unternehmenskultur. Ein Streben nach Zutrauen und Aufbruch zu neuen Ufern.211
Unternehmensführung
Ein dynamisch wachsendes Start-up zu führen, ist wahrlich keine leichte Aufgabe. Thiel kam zugute, dass er mit Gründung der Campus-Zeitschrift Stanford Review nicht nur erste Managementerfahrung gesammelt, sondern auch Beziehungen zu talentierten und »hungrigen« Gleichgesinnten aufgebaut hatte, die bereit waren, mit ihm durch »Dick und Dünn« zu gehen.
Eric Jackson, damals führender Marketing-Mitarbeiter und Autor des Buchs »The PayPal Wars«, wurde von Thiel von dem Beratungsunternehmen Andersen Consulting abgeworben. Auf Jackson gab PayPal zunächst das Bild eines »desorientierten und chaotischen Start-ups« ab. Schnell wurde ihm aber klar, dass die von Thiel ausgerufene Vision, mit PayPal das Weltfinanzsystem aus den Angeln zu heben, nicht mit klassischen Mitteln der Unternehmensführung zu erreichen war.212
Das auf Außenstehende zunächst chaotisch wirkende Unternehmen hatte aber klare Prinzipien. PayPal war vielleicht das erste Start-up, welches den Ansatz einer »agilen« Unternehmens- und Produktentwicklung im großen Stil verfolgte. Aufgrund der vielfältigen Herausforderungen, wie den zunächst hohen Verlusten und der ständigen Unsicherheit mit dem eigenen Geschäftsmodell, kristallisierten sich die folgenden Punkte heraus, die PayPal in der Unternehmensführung erfolgreich praktiziert hat:
Realzeit Unternehmen und Metriken
Das Management legte von Beginn an sehr viel Wert auf Realzeitinformationen zur Beurteilung der Lage. Vielen Start-ups wird nämlich zum Verhängnis, dass sie ihre wichtigsten Unternehmenskennzahlen nicht in einem Realzeitberichtssystem zusammenführen. So kann es passieren, dass das Start-up unnötig viel Kapital und Zeit verliert, nur weil es zu lange dauert, die unternehmenskritischen Daten zusammenzuführen und die notwendigen Schlüsse daraus zu ziehen. Neben der Ad-hoc-Verfügbarkeit der Geschäftszahlen braucht es auch die richtigen unternehmensspezifischen Kennzahlen, um in Realzeit die richtigen Managemententscheidungen treffen zu können.
Wichtige Metriken für PayPal waren:
1. Anzahl neugewonnener Kunden
2. Kosten für die Neukundengewinnung
3. Missbrauchsquote durch Betrug
4. Anzahl Neukunden über eBay
5. Anteil Neukunden über eBay im Verhältnis zu eBay Bezahldienst Billpoint
6. Kapitalabfluss (Cash-Burn-Rate)
7. Anzahl zahlungspflichtiger Kunden
8. Kreditkartengebühren
9. Erzielte Umsätze
Max Levchin und sein Team entwickelten eine Spezialsoftware, die die Funktion eines Datenstaubsaugers hatte und ständig die Auktionsseiten von eBay auf das Verhältnis von PayPal-Hinterlegungen gegenüber Billpoint prüfte. Dieses Frühwarnsystem half des Öfteren, um schnell Rückschlüsse aus eBays neuen Strategien zu ziehen und dafür zu sorgen, dass PayPal sich wieder zügig einen Wettbewerbsvorsprung verschaffte.
Ähnlich wie in der Formel 1, wo die Telemetriedaten der Boliden für die schnelle Adaptierung der Strategie unabdingbare Voraussetzung sind, baute der Stratege Thiel auf seine PayPal eigenen Metriken. So konnte er vorausschauend auch neue Finanzierungsrunden und den Börsengang ins Auge fassen und das Geschäft immer feiner justieren, da sich selbst kleinste Veränderungen am Geschäftsmodell sofort in den Kennzahlen niederschlugen.
Klare Verantwortlichkeiten
»Das Beste, was ich als Manager von PayPal tat, war, dafür zu sorgen, dass jeder für eine einzige Aufgabe verantwortlich war. Diese Aufgabe war einmalig, und jeder wusste, dass ich ihn nur daran messen würde.« So beschreibt Peter Thiel in seinem Buch ›Zero to One‹ die einfache, aber sehr effektive Methodik seines Personalmanagements. Vermieden wurden damit Ineffizienzen durch Doppelarbeit sowie Streitereien, die sich durch unklare Aufgabenabgrenzungen ergeben. Gerade Start-ups sind dafür »… besonders anfällig, da sich die Rollen zu Beginn ständig verändern.« Viele Firmen sind deshalb manchmal wie gelähmt, beschäftigen sie sich doch mehr mit ihren internen Befindlichkeiten als mit dem Markt und den Kunden. Für Start-ups kann ein solches Verhalten schnell das Ende bedeuten.213
Fokus
Erfolgreiche Unternehmer wie Thiel, Buffett und Gates eint das Prinzip des Fokussierens. Die Konzentration auf das Wesentliche – oder wie Buffett es nennt, auf den »Circle of Competence« –, ist die Voraussetzung für ein erfolgreiches Unternehmen. Im sich rasant verändernden Technologiebereich ist es noch wichtiger, sich auf die wesentlichen Punkte zu konzentrieren. Die limitierenden Faktoren in einem Start-up sind Ressourcen, besonders Zeit und Geld. Deshalb tat PayPal auch gut daran, den zwischenzeitlich vom Finanzsoftwareunternehmen Intuit geholten CEO Bill Harris nach kurzem Gastspiel wieder zu entlassen. Er verstrickte PayPal zu stark in wenig nutzbringende Kooperationsgespräche, die viele Kapazitäten banden, ohne kurzfristige Ergebnisse zu liefern.
PayPal sah sich praktisch allen Problemen ausgesetzt, mit denen sich ein Start-up konfrontiert sehen kann. Und diese waren nicht gerade Kleinigkeiten:
1. Akzeptanz der Kunden
2. Missbrauch
3. Regulatorische Probleme
4. Anfeindung durch Visa und Mastercard
5. Wettbewerb durch eBay
Auf dem PayPal-Team lastete folglich ein immenser Druck. Es nutzte allerdings den Druck als Hebel für einen geradezu »manischen Fokus«, so Keith Rabois, der für die Geschäftsentwicklung verantwortlich zeichnete.214
PayPal tat deshalb gut daran, sich auf das schnell wachsende Bezahlgeschäft zu fokussieren und Abstand zu nehmen von der Idee eines Allfinanzsupermarkts.
Produktzentriertheit
PayPal hatte mit der Verbindung von Geldtransfers über das Medium E-Mail einen Nerv getroffen. Strategiechef David Sacks betonte denn auch später, dass er die »absolute Produktzentriertheit« als die wichtigste Erfahrung seiner PayPal-Zeit verbucht.215 Er war es auch, der es verstand, die Strategie durch die Produktentwicklung zu operationalisieren. Unter seiner Ägide wurden gemeinsame Teams aus Produktkonzeption und Softwareentwicklern gebildet, um so möglichst effizient neue Produktfeatures zu konzipieren und diese sofort von Programmierern in Codes gießen zu lassen. Dieser »Rapid Prototyping«-Ansatz verhalf PayPal zu einem dauerhaften Wettbewerbsvorsprung im Konkurrenzkampf mit anderen Bezahldienstleistern, insbesondere gegenüber eBays Billpoint. Dieser von PayPal vorexerzierte erfolgreiche Ansatz der Produktzentriertheit findet mittlerweile nicht nur in Start-ups, sondern auch in klassischen Unternehmen immer mehr Nachahmer, wenn auch nicht durchgehend mit demselben Erfolg.
Mitarbeiterbindung und -beteiligung
Für Max Levchin muss der Nukleus eines Start-ups aus Leuten bestehen, die die gleichen Vorlieben und Interessen haben. Ein wesentlicher Grund, so Peter Thiel, warum das PayPal-Team der Anfangszeit so gut harmonierte, war die Tatsache, dass alle Computer- und Science-Fiction-Freaks waren. »Vor allem waren wir alle besessen von dem Gedanken, eine digitale Währung zu schaffen, die nicht von Staaten kontrolliert wird, sondern von Menschen.« 216
Gemeinsamkeiten sind also eine wichtige Grundvoraussetzung. Doch wie und auf welcher Basis rekrutiert man nun Mitarbeiter, aus denen eine verschworene Gemeinschaft wird?
Thiel wusste genau, wie man es nicht macht. In seiner Zeit als Anwalt in der New Yorker Kanzlei hatte er am eigenen Leib mitbekommen, wie sich seine Kollegen verhielten. Es fand eine strikte Trennung zwischen »9 to 5«, der Arbeitszeit, und »5 to 9«, der Freizeit statt. Für Thiel ist Zeit »unser wertvollstes Gut« und dementsprechend »absurd, sie mit Leuten zu verbringen, mit denen wir uns keine langfristige Zukunft vorstellen können.« Legendär sind die Bilder des PayPal-Teams, die sie in nächtlichen Pokerrunden zeigen. Arbeit und Freizeit sind eins, eine verschworene Gemeinschaft entsteht. Keith Rabois beschrieb die frühe Zeit bei PayPal als »sehr intensive Umgebung«.217 Nur in einem solch speziellen »Setup« und der damit verbundenen Gründeratmosphäre sind Technologiedurchbrüche wie bei PayPal möglich.
Folgerichtig sind Lebensläufe und Noten für Thiel kein Grund, jemanden einzustellen. Personalrekrutierung sollte seiner Erfahrung nach immer durch das Unternehmen direkt erfolgen und nicht durch Dienstleister. Thiel stellte sich PayPal von Beginn an »als verschworene Gemeinschaft vor und nicht als Drehtür«. Entscheidungsträger wurden meist aus internen Mitarbeitern rekrutiert. In der Regel wurde der jeweils fähigste Mitarbeiter der Leiter der jeweiligen Abteilung. Vorteil: Die fachliche Reputation des Einzelnen sorgte für die notwendige Autorität gegenüber der Gruppe. Bewerber mit frischen MBA-Abschlüssen wurden meist abgelehnt, da man sie für nicht flexibel genug hielt, um den schnellen Anpassungen bei PayPal zu folgen.218 Stattdessen schaltete PayPal in der Stanford Review Personalanzeigen mit provokanten Fragen wie »Sind super Aktienoptionen eines coolen Startups es wert, das College abzubrechen? Wir stellen ein!«
Thiel zieht in seinem Buch ›Zero to One‹ denn auch einen interessanten Vergleich zwischen den »verschworenen Gemeinschaften« eines Startups und Sekten. Start-ups nach dem Vorbild von PayPal schaffen ein eigenes Universum, bildhaft gesehen eine Art Käseglocke, die die Mitglieder des Teams von der Außenwelt abschneidet. Laut Thiel ist der Lohn dafür »ein starkes Zugehörigkeitsgefühl und der Zugang zu esoterischem ›Geheimwissen‹, das anderen verschlossen bleibt«. Unternehmer sollten, so Thiel »die Kultur der völligen Hingabe jedoch ernst nehmen«.
Zupass kommt ihm dabei die Philosophie des Silicon Valley. Der ideale Gründer ist nach Aussage von Paul Graham, Gründer des renommiertesten Start-up-Inkubators Y-Combinator, Mitte 20, ungebunden, ohne Familie und bereit, alles seiner Idee unterzuordnen. Seiner Meinung nach war es kein »Unfall«, dass das Silicon Valley nicht in Frankreich, Deutschland, England oder Japan beheimatet ist, weil in diesen Ländern die Leute meist nur innerhalb festgefahrener Bahnen denken und sich nicht trauen, über die Grenzen hinauszugehen.219
Wenig hält Thiel von Beraterfirmen. Für ihn sind sie das »krasse Gegenteil einer Sekte; die Berater haben keine eigene Mission, sie kommen und gehen in Unternehmen, zu denen sie nicht die geringste langfristige Beziehung haben«.220
Neben dem internen Kern eines Start-ups, der sich meist aus den Gründern und maßgeblich am Unternehmen beteiligten Mitarbeitern rekrutiert, ist es wichtig, den unternehmerischen Geist auch auf die weiteren hinzukommenden Mitarbeiter zu übertragen.
Für Thiel ist deshalb die Fragestellung wichtig: »Warum sollte auch noch der zwanzigste Mitarbeiter zu Ihrem Unternehmen kommen wollen?«
Thiel offeriert zwei Wege als Lösung:
Erstens sollte ein Start-up über eine prägnante Visionsaussage verfügen, »warum Sie etwas tun, was niemand sonst tut«. PayPals Vision war die Schaffung einer neuen digitalen Währung, unabhängig von Regierungen.
Zweitens werden Mitarbeiter die Frage stellen: »Sind das die Leute, mit denen ich zusammenarbeiten möchte?« Was nichts anderes heißt, als dass hervorragende Gleichgesinnte andere hervorragende Gleichgesinnte anziehen.221
Für PayPal waren die beiden Fragestellungen von existenzieller Bedeutung, denn, so David Sacks: »Das PayPal-Team kämpfte um sein Leben, da eBay die Kassenschlange besaß.«
Die Mitarbeiterbeteiligung und damit die Incentivierung erfolgt in einem Start-up in der Regel durch Aktienoptionen. Im Silicon Valley sind die Mitarbeiter für diese Vergütungsform offener, ist doch das »Risk Taking«, also das Risiko auf sich zu nehmen, in den USA positiv belegt – im Gegensatz zu Deutschland und Europa, wo Risiko im Geschäftsalltag Angst macht und man Risiken tunlichst vermeiden oder eliminieren möchte.222
Doch auch bei PayPal gab es Mitarbeiter, die nichts von Aktienoptionen wissen wollten und stattdessen einen hohen Tagessatz aushandelten. Ein schwerer finanzieller Fehler, wie sich bald herausstellen sollte. Start-ups konkurrieren im Silicon Valley mit den großen Platzhirschen wie Apple, Alphabet und Facebook, die neuen Mitarbeitern in der Regel mindestens sechsstellige Jahresgehälter bezahlen, bei Spezialwissen aus den Bereichen »Big Data«, »Künstlicher Intelligenz« und »Cyber Security« auch schon mal siebenstellige Beträge. Dementsprechend ist es nicht immer einfach, Mitarbeiter von einer Vergütung in Anteilen zu überzeugen. »Sie sind nicht flüssig, sie sind an ein bestimmtes Unternehmen gebunden, und wenn das Unternehmen schließt, sind sie wertlos. Aber genau aufgrund dieser Einschränkungen entfaltet diese Gehaltsform so große Wirkung. Wer bereit ist, sich in Unternehmensanteilen bezahlen zu lassen, bekennt sich zu dessen langfristiger Wertsteigerung.« Trotz aller Schwächen, sind für Thiel Unternehmensanteile immer noch die beste Option, »alle ins Boot zu holen«.223
Innovationskultur
Echte Innovationen können nicht geplant oder verordnet werden. Sie passieren einfach, häufig aus der Not heraus. Damit PayPal das ständige »Hase und Igel«-Spiel mit der übermächtigen Konkurrenz etablierter Finanzkonzerne, Kreditkartenunternehmen, anderer Bezahl-Start-ups sowie dem eCommerce-Giganten eBay erfolgreich bestreiten konnte, kristallisierte sich aus dieser speziellen Atmosphäre ein neuartiger Innovationsmechanismus heraus. Er sollte für die Start-up-Welt für die nächste Dekade richtungsweisend sein.
David Sacks bezeichnete es geradezu martialisch als »Trial by Fire, das reinen Stahl produzierte … und die ganzen Fremdstoffe und Verunreinigungen weggebrannt hatte. Ein reiner Ansatz für Start-ups, der für viele Bereiche repliziert werden kann«.224
PayPal war vielleicht das erste Start-up, welches konsequent einen agilen Entwicklungsansatz im großen Stil verfolgte. Ausgehend von einer ersten Idee wurden durch direkte Zusammenarbeit gemischter Entwicklungsteams – bestehend aus Produkt/Marketing- und Softwarespezialisten – einfache, aber sofort einsetzbare Versionen entwickelt. Später sollte man diese in der Fachsprache als »MVPs«, als »Minimum viable Products« (Minimalprodukte), bezeichnen.
Davor war die Softwareentwicklung geprägt durch einen linearen Prozess, auch Wasserfallmodell genannt. Eine Geschäftsidee bzw. ein Produkt wurde zunächst von einem Produkt- und Marketingteam durchkonzipiert und dann der IT-Abteilung zur Umsetzung vorgelegt. Dieser Ansatz kostete nicht nur sehr viel Zeit, sondern war auch dafür verantwortlich, dass viele Projekte aufgrund der Divergenz aus Wunsch der Fachabteilungen und Wirklichkeit in Bezug auf technische und finanzielle Ressourcen der Softwareumsetzung, zum Scheitern verurteilt waren. Die agile Softwareentwicklung ist heute – fast zwei Dekaden nach den PayPal-Anfängen – die dominierende Form der Softwareentwicklung bei Start-ups, Tech-Unternehmen, aber auch bei etablierten Playern in konservativeren Branchen. Das ursprüngliche Motto der Facebook-Entwickler lehnte sich mit »move fast and break things« konsequent an das agile Modell von PayPal an.
Elon Musk übertrug später mit großem Erfolg die bei PayPal entwickelten agilen Entwicklungsmechanismen auf die »physische Welt«. Er entwickelte einen »Masterplan Eins«, den er im Jahr 2006 veröffentlichte. Darin beschrieb er im Detail die Strategieabfolge, um aus dem unbekannten Startup Tesla einen ernstzunehmenden Global Player im Automobilbereich zu machen. Musks MVP war ein Sport Roadster, aus dem heraus er mit agilen Methoden von einer Limousine (Model S) über einen SUV (Model X) die Basis für den großen Sprung in die Massenfertigung eines Mittelklassemodells (Model S) und der dafür notwendigen Batteriefabrik (Gigafactory) geschaffen hat. Nur über die iterativen Stufen, die einzeln ineinandergriffen, konnte er Tesla 2010 erfolgreich an die Börse bringen. Der letzte Börsengang einer Automobilfirma lag mit der Ford Motor Company zu diesem Zeitpunkt immerhin 56 Jahre zurück.
Befeuert wurde die agile Produktentwicklung bei PayPal noch durch eine einzigartige informelle Kultur im Unternehmen. Alle Mitarbeiter waren dazu aufgefordert, Vorschläge auf den Tisch zu legen. Die Kultur von PayPal erlaubte es ihnen nicht nur, groß zu denken, sondern sie verlangte es geradezu.225
David Sacks zählt vier Innovationserrungenschaften auf, die PayPal erstmals implementierte und die heute zu Allgemeinstandards von neuen Startups gehören:
– Eine der ersten viralen Apps: PayPal-Nutzer hatten die Möglichkeit, Geld an jemanden zu senden, ohne dass dieser ein Konto eröffnen musste, um an das Geld zu kommen.
– Eine der ersten Firmen, die die Plattform-Strategie nutzten: PayPal war »im wesentlichen eine App auf der Plattform eBay«.
– Eine der ersten Firmen, die ein eingebettetes Softwareelement anboten: Nutzer konnten das PayPal-Bezahl-Logo in ihre eBay-Auktionen integrieren. Eingebettete Inhalte wurden später der Schlüssel für das starke Wachstum von YouTube.
– Eine der ersten Firmen, die auf iterative Produktstrategien setzte: Neue Features wurden direkt nach Fertigstellung und nicht erst mit einem neuen Produktzyklus veröffentlicht.226 Damit nicht genug. Für Thiel bilden Innovation und Gründergeist ein einzigartiges symbiotisches Paar:
»Doch die wertvollsten Unternehmen bewahren sich die Offenheit für Innovationen, die den Gründungsmoment auszeichnet. In diesem Sinne setzt sich die Gründung tatsächlich so lange fort, wie das Unternehmen neue Dinge schafft, und sie endet, wenn dieser kreative Prozess endet. Vielleicht können Sie den Gründungsmoment endlos ausdehnen.«227
Was sollte die Welt für Peter Thiel nach PayPal noch an Herausforderung bereithalten? Hatte er nicht ganz dicke Bretter gebohrt und aller Welt gezeigt, dass man ein Himmelfahrtskommando wie PayPal zu einem milliardenschweren Exit führen kann? Doch frei nach dem Motto des Bond Thrillers »Die Welt ist nicht genug« strebte Thiel nach der nächsten Herausforderung. Diese lag quasi auf dem Silbertablett vor ihm. Mit 9/11 wurde der Supermacht USA schonungslos die eigene Verwundbarkeit vor Augen geführt. Spricht Thiel über den technologischen Stillstand unserer westlichen Gesellschaft, so fällt bei ihm häufig die Metapher, wie zeitraubend Reisen mit dem Flugzeug sind, weil die Kontrollen mittlerweile einen Umfang erreicht haben, der die persönliche Freiheit stark einschränkt. Für einen libertären Kopf wie ihn ein Albtraum. Amerika rüstete auf und zog in den Krieg. Für Thiel eine Reaktion der »alten Welt«, der Welt der Atome. Er, der Mann der Digitalwelt, sah die Möglichkeit der Mega-Herausforderung, Sicherheit unseres freiheitlich geprägten westlichen Lebensstils durch Software zu begegnen.
Thiel definierte das Ausgangsproblem und damit die Geschäftsgrundlage des neuen Start-ups wie folgt: »Es ist unsere Aufgabe, den Terrorismus zu reduzieren und gleichzeitig die öffentliche Freiheit zu bewahren.«228 Ein Feld auf dem sich Thiel mit PayPal auskannte. Unter seiner Führung hatte Max Levchin schließlich die für PayPal überlebensnotwendigen Algorithmen entwickelt, um den Betrug bei Zahlungen aufzudecken und zu minimieren. Schon damals wurden die Sicherheitsbehörden auf die algorithmischen Spürnasen in Thiels Team aufmerksam.
Was lag also in der Post-9/11-Welt näher, als ein neues Start-up aus der Taufe zu heben? Die Voraussetzungen waren nicht schlecht. Thiel hatte mit dem Verkauf von PayPal an eBay rund 55 Millionen Dollar erlöst. PayPal lag hinter ihm, er hatte also den Kopf frei und konnte wieder in den Angriffsmodus übergehen. Folgerichtig gründete Thiel im Mai 2003 eine Unternehmung mit dem Namen »Palantir«. Thiel bediente sich in der Namensgebung wie bei seinen Investmentgesellschaften wieder einmal bei einem seiner Lieblingsschriftsteller: J. R. R. Tolkien. Er benannte Palantir nach einer Reihe von magischen Steinen aus ›Herr der Ringe‹. Diese geben mächtigen Leuten die Fähigkeit, die Wahrheit aus der Ferne zu sehen. Doch nicht nur beim Namen, sondern auch bei den technologischen Grundlagen konnte Thiel auf Bewährtes aus seiner PayPal-Zeit zurückgreifen. Neben den dort entwickelten Algorithmen zur Erkennung und Aufdeckung von Betrugsmustern war es auch die spezielle Herangehensweise, die Palantir von PayPal übernahm. Statt alles der Maschine zu überlassen, kombinierte man das Beste aus beiden Welten. Die Maschinenintelligenz konzentrierte sich auf das Durchwühlen der großen Datenbestände und das Erkennen von Anomalien. Die menschlichen Experten konnten dann mittels ihrer Expertise die Muster auswerten und daraus die entscheidenden Schlüsse ziehen. Palantir erfand dafür später den klingenden Begriff »machine augmented intelligence approach« (Maschinen helfen Menschen). Thiel ist bis heute ein großer Verfechter dieser Herangehensweise. Immer, wenn er auf das Thema angesprochen wird, ob künstliche Intelligenz Menschen überflüssig macht, verweist er auf diese Praxis.
Auch in der Personalrekrutierung für sein neues Start-up bediente sich Thiel einer altbekannten Ressource: Der Stanford University. Im Jahr 2004 wurde er auf die beiden Informatikabsolventen Joe Lonsdale und Stephen Cohen aufmerksam. Zusammen mit dem ehemaligen PayPal-Ingenieur Nathan Gettings sollten sie eine erste Rohversion der Palantir Software entwickeln. Thiel finanzierte das Start-up zunächst selbst. Insgesamt investierte er rund 30 Millionen Dollar zusammen mit seiner Risikokapitalfirma Founders Fund, wahrlich keine Kleinigkeit. Trotz seines schon damals legendären Rufs konnten sich so bekannte Risikokapitalgeber wie Sequoia Capital und Kleiner Perkins nicht für Palantir erwärmen. Michael Moritz, Chef von Sequoia, der Unternehmen wie PayPal, Apple, WhatsApp und Google mitfinanziert hat, soll bei der Start-up-Präsentation von Palantir die ganze Zeit nur gelangweilt herumgekritzelt haben. Ein Kleiner-Perkins-Mitarbeiter soll gar rund 90 Minuten auf die Gründer eingeredet haben, warum das mit Palantir nichts werden würde. Thiel, der große konträre Charakter, sah dies wieder einmal als Bestätigung, auf dem richtigen Weg zu sein. Mit Q-Tel konnte immerhin der Risikokapitalarm der CIA zu einem Investment in Höhe von zwei Millionen Dollar bewegt werden.229 Doch nicht nur die inhaltliche Vorstellung des Geschäftszwecks der Palantir-Software stellte eine große Herausforderung dar, sondern auch die Glaubwürdigkeit des Vertriebs. »Wie zur Hölle sollen sich 22-Jährige denn damit Gehör verschaffen?«, fragte sich Co-Gründer Joe Lonsdale.230
Thiel, zu diesem Zeitpunkt bereits Mitte 30 und als ehemaliger CEO von PayPal sehr erfahren, wollte sich diesmal aber voll auf seine strategische Rolle konzentrieren. Er wollte nicht wieder den Fehler begehen, sich in die operative Rolle als CEO drängen zu lassen. Es brauchte jemand Gestandenes. Jemand »mit etwas mehr grauem Haar«, so Joe Lonsdale. Wieder einmal konnte Thiel auf seine langjährigen Freundschaften und Verbindungen zurückgreifen. Ins Fadenkreuz geriet ein gewisser Alexander C. Karp. Karps und Thiels Wege kreuzten sich bereits im ersten Studienjahr an der Stanford Law School. Karp war in vielen Punkten das genaue Gegenteil von Thiel. Sein Markenzeichen sind hochstehende Haare, die den Eindruck erwecken, als ob sie ständig elektrisiert sind. Nach seinem Jurastudium hing er noch in Frankfurt a. Main ein Philosophiestudium mit Promotion bei dem berühmten Frankfurter Professor und Philosophen Jürgen Habermas an. Im Anschluss betätigte er sich nicht ganz unerfolgreich in London mit Finanzgeschäften, wo er vermögenden Kunden hohe Renditen bescherte. Joe Lonsdale und Stephen Cohen waren von Karps einzigartiger Fähigkeit begeistert, ohne technischen Hintergrund komplexe Probleme durchdringen und diese für Nichttechniker übersetzen zu können. Man setzte auf Karp. Er brachte auch die notwendigen grauen Haare mit. Karp wurde zum CEO von Palantir ernannt. Während andere Kandidaten für den CEO-Posten typische Business-School-Fragen nach der Größe des potenziellen Markts von Palantir stellten, fiel der Groschen bei Karp sofort. Ausgestattet mit seinem philosophischen Hintergrund analysierte er messerscharf: »Wir sprachen darüber, die wichtigste Firma der Welt zu bauen.«231
Die DNA von Palantir ist also wiederum eng verknüpft mit Thiels starken Freundschaften, seinen Stanford-Verbindungen und der technologischen Basis von PayPal. Was gut war, um der russischen Mafia das Handwerk zu legen, wurde nun zur Basis, um der Welt zu zeigen, dass Amerika eine HighTech-Antwort auf den Terror hatte.
Wir halten also fest: Es klingt simpel nach Lego oder dem Baukastenprinzip von Fischertechnik, wie Thiel nach PayPal mit der Gründung von Palantir den »next Level« erreichte. Simpel aber effektiv. Jeder gute Trainer einer erfolgreichen Mannschaft würde dies mit der altbekannten Floskel »Never change a winning team« auf den Punkt bringen.
Thiel fand in Karp den kongenialen Partner. Wenn wir also in der Folge über die Unternehmerrolle bei Palantir sprechen, dann ist es der Versuch, die paarweise Kongenialität der beiden zu analysieren. Thiel, der »Über«-Stratege, und Karp, der nicht weniger Brillante in der Rolle der operativen Verantwortung.
Unternehmensmission
Peter Thiel hat die Mission von Palantir schon zu Beginn klar umrissen, das Ziel ist, »den Terrorismus einzudämmen, unter gleichzeitiger Wahrung der bürgerlichen Freiheiten«.232
Warum wurde Palantir nach den »sehenden Steinen« aus ›Herr der Ringe‹ benannt? Der Unternehmensname Palantir ist gut gewählt. Alex Karp erklärte die ungewöhnliche Namenswahl gegenüber dem TV-Journalisten Charlie Rose in dessen gleichnamiger Talkshow wie folgt: »Diejenigen, die auf der Highschool ein gesellschaftliches Leben hatten, werden mit Palantir nichts anfangen können. Diejenigen unter uns, die kein gesellschaftliches Leben hatten, werden sofort auf die sehenden Steine aus ›Herr der Ringe‹ anspringen.« Eine Replik auf die Andersartigen, auf die Einzelgänger und »Nerds«, die sich mehr für Science-Fiction interessieren als für eine Samstagabend-Party unter Freunden. Die »sehenden Steine«, so Karp weiter, »erlauben den Kräften des Guten, zu kommunizieren und in große Entfernungen zu blicken. Wir dachten, es wäre ein passender Name für ein Produkt, das die Einsicht in große Datenbanken bietet, aber nicht den Zugriff auf Daten erlaubt, zu denen man keine Berechtigung hat, also der Kerngedanke der sehenden Steine.«233
Für Karp ist denn auch unmissverständlich klar, dass wir, die westliche Welt und ihre Werte, gewinnen werden, wenn wir an das glauben, was wir tun. Palantir setzt auf »Aussagenbasierte Suche«. Die Suche ist dabei sehr fokussiert und zielgerichtet. Kommt eine Person auf den Radarschirm von Palantir, prüft die Software alle möglichen schlechten Verhaltensweisen. Gleichzeitig bleibt das Suchspektrum aber für die Regierungsstellen eingeschränkt und schließt nicht das soziale Ökosystem der Person ein, sodass keine Unschuldigen in Verdacht geraten. Karp spricht von »sehr präzisen« Eingriffen, die an feinjustierte chirurgische Eingriffe erinnern. Aus der Terrorismusbekämpfung der 1970er Jahre kennen wir den Begriff der »Rasterfahndung«, was die Vorgehensweise der Palantir-Software auf den Punkt bringt. Palantir und Karp ist es zudem wichtig, dass »jeder Schritt der Operation dokumentiert ist.«234
Wirft man einen Blick auf die Website von Palantir, wird einem schnell klar, dass das Unternehmen anders tickt als viele Firmen im Valley. Die Homepage bietet kein Gimmick, kein Wohlfühlprogramm. Im Gegenteil: Der Besucher wird in großen Lettern darauf hingewiesen, dass Palantir Produkte baut, die eine konkrete Bestimmung haben. Untermalt wird das Ganze durch einen Hintergrundfilm, der die harte Realität unserer Welt im Kurzfilm darstellt: Amerikanische Elitesoldaten, die mit Marschgepäck in unwirtlichem Krisengebiet einen Transporthubschrauber besteigen, ein Operationssaal, der Chirurgen bei der Arbeit zeigt, ein Polizeieinsatz in New York und die zerstörten Häuser nach einer Erdbebenkatastrophe. Dies ist kein Roland-Emmerich-Trailer einer Neufassung von ›Day after Tomorrow‹, sondern der Kontext und die Arbeitsumgebung, in denen sich Palantir sieht. Eben das große Ganze. Palantir, der digitale Supermann, der als Superpolizist die Welt vor digitaler Kriminalität und Terrorismus schützt, der aber auch digitaler Superchirurg ist, Leben retten und in von Naturkatastrophen heimgesuchten Gebieten für Ordnung sorgen kann.235
Wie kaum ein anderes Silicon-Valley-Unternehmen ist die »Missionsaussage« bei Palantir von zentraler Bedeutung für den Gesamterfolg des Unternehmens. So trägt die Homepage denn auch unter der Überschrift »An was wir glauben« geradezu religiöse Züge, wenn es um Palantirs Auftrag geht. Nicht ohne Grund, so Karp, fragte ihn einmal ein Investor, ob Palantir denn »eine Firma oder eine Sekte sei«.236 Palantir sieht sich vom eigenen Verständnis her als ein Team, das für die Allgemeinheit arbeitet und das macht, »was richtig« ist, immer in Verbindung mit der großen Leidenschaft, erstklassige Software und eine erfolgreiche Firma zu bauen.237
Im Mittelpunkt dieser Mission sollen die Achtung der Gesellschafts- und Persönlichkeitsrechte stehen. Die Welt soll durch Palantir »ein besserer Ort werden, jeden Tag«. Nur mittels belastbarem Schutz der Gesellschafts- und Persönlichkeitsrechte, so Palantir, kann in der Bevölkerung ein Vertrauen für den Umgang mit Daten aufgebaut werden.
Palantir sieht sich in der Rolle, die ganz großen Probleme unserer Zeit – angefangen von Terrorismus, organisierter Kriminalität über Naturkatastrophen und Kriege bis hin zu den großen medizinischen Herausforderungen wie Krebs und Alzheimer – mittels brillanter Ingenieure und außergewöhnlicher Software zu lösen. Palantir soll denn auch maßgeblich am Auffinden von Osama bin Laden und an der Aufarbeitung des Finanzskandals um den Anlagebetrüger Bernie Madoff beteiligt gewesen sein.238 Palantir erinnert einen in diesem Moment an die glorreiche Zeit des Wilden Westens, als sich die ruhmreichen Cowboys im Kampf um das Gute die Skalps der Gesetzesbrecher ans Revers hefteten.
»Save the Shire« prangt es denn auch in weißer Schrift von den schwarzen T-Shirts der Palantir-Mitarbeiter. »Shire« (in der dt. Übersetzung »Auenland«) war das Zuhause der Hobbits in ›Herr der Ringe‹. Auch das Hauptquartier von Palantir in Palo Alto trägt nicht ohne Grund diesen Namen. Der leitende Mitarbeiter Shyam Sankar bringt den Slogan auf der Wissensplattform Quora in folgenden Zusammenhang: »Die Hobbits waren zurückhaltende Helden, die nicht nach Abenteuern strebten oder ihr komfortables und idyllisches Zuhause verlassen wollten – sie taten es nur aufgrund existentieller Risiken. Diese menschenähnlichen Kreaturen trugen ganz wesentlich zur Missionsaussage von Palantir bei. Sie waren unkonventionell und sonderbar dreinschauende Krieger, aber sie waren alle herzlich und kämpften heldenhaft für die Kräfte des Guten.«239 Sie sind damit das spiegelbildliche Vorbild für die Palantir-Nerds, die mit ihrer einzigartigen Software von ihrem Hauptquartier im Silicon Valley in Palo Alto aus die Geschehnisse in Washington, Irak, Afghanistan, Haiti, am Horn von Afrika oder in Pakistan maßgeblich zum Besseren beeinflussen wollen.
Für Peter Thiel sind denn auch die firmeneigenen T-Shirts »Ausdruck eines einfachen, aber wesentlichen Prinzips: Alle Mitarbeiter Ihres Unternehmens sollten sich auf ähnliche Weise vom Rest der Welt unterscheiden. Sie sollten eine verschworene Gemeinschaft von Gleichgesinnten sein, die sich den Zielen des Unternehmens mit Haut und Haar verschrieben haben.« So Thiel unter der Überschrift »Kleider machen Leute« in ›Zero io One‹.240 Man könnte noch hinzufügen »Kleider machen Unternehmen«!
Zu Palantirs Beratern gehören denn auch mit der ehemaligen George W. Bush-Beraterin Condolezza Rice und dem früheren CIA-Direktor George Tenet die Crème de la Crème ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats der Supermacht USA. Tenet ließ sich zu der Aussage hinreißen: »Ich wünschte, ich hätte ein Werkzeug mit dieser Macht vor 9/11 gehabt.«
Ging es Thiel mit PayPal noch darum, die Welt mit einer neuen von Regierungen unabhängigen Währung zu beglücken, geht es ihm nun mit Palantir darum, die Welt zu retten. Nicht gegen Regierungen, sondern ausdrücklich in Zusammenarbeit mit den Organen der freiheitlichen westlichen Welt, die auch die nicht gerade geringen Lizenzgebühren für die Palantir-Software aufbringen können. Im Gegenzug kann sich Palantir den Luxus erlauben, humanitäre Projekte querzufinanzieren.
Disruptiver Faktor
»Find something that’s broken« – »suche nach Dingen, die nicht (mehr) richtig funktionieren«, das ist immer ein guter Ausgangspunkt für die Gründung eines neuen Start-ups. Mit 9/11 wurde schonungslos offengelegt, dass selbst eine Supermacht wie die USA mit ihren nahezu unendlichen privatwirtschaftlichen wie militärischen Ressourcen verwundbar ist. Spätestens mit diesem Einschnitt in den freiheitlich geprägten »American way of live« wurde allen klar, dass Freiheit und Sicherheit nicht immer miteinander kompatibel sind. Amerika befand sich im Krieg mit den Terroristen. Auch wenn der damalige US-Präsident George W. Bush sich nach dem vordergründig erfolgreichen Sieg im zweiten Irakkrieg auf einem Flugzeugträger vor den amerikanischen Stars & Stripes mit der Aufschrift »Mission Accomplished« für seine militärische Intervention als Sieger feiern ließ, war für Thiel und Karp klar, dass dieses amerikanische Trauma eine große Geschäftschance bot. Der neue asymmetrische Krieg der Terroristen hatte disruptive Züge und erforderte im Gegenzug eine disruptive Antwort. Thiels Antwort kam aus der Welt der Bits & Bytes in Form einer revolutionären Software. Daten, aufbereitet von einer neuen Software, sollten die Lösung sein. Eine »Wunderwaffe«, um dem Terrorismus elegant das Handwerk zu legen.
Palantir nutzt die Macht der Daten und der Algorithmen, um frühzeitig Bedrohungsmuster zu erkennen. Der tatsächlich disruptive Ansatz ist dabei die besondere Paarung künstlicher Maschinenintelligenz mit den Fähigkeiten von Spezialisten, um daraus Handlungsanleitungen abzuleiten. Palantir arbeitet an der Schnittstelle von Daten, Technologie und menschlichem Wissen. Palantir prägte den Begriff von der »machine augmented intelligence«, frei übersetzt: Maschinen helfen Menschen. Basis dafür waren die bei PayPal so erfolgreich eingesetzten Algorithmen zur Erkennung von Betrugsversuchen u. a. durch die russische Mafia. Palantir sollte die Firma schlechthin werden, »bei der Menschen in die Lage versetzt werden sollten, mit Daten zu sprechen«.241
Palantir machte sich an eines der größten Unterfangen überhaupt: Lagen die Daten bei PayPal noch in strukturierter Form in einer zentralen Datenbank, ging es bei Palantir nun darum, sämtliche strukturierten wie auch unstrukturierten Datensätze in einem System in Realzeitverknüpfungen zusammenzuführen. Also Daten aus E-Mails, dem Internet, sozialen Netzwerken, Rechnern, Datenbanken, Bankkonten, Bewegungsprofilen und Mobilfunkprofilen. Ein technisch sehr herausforderndes Unterfangen und vor allem für einen Newcomer und unbeschriebenes Blatt wie Palantir ein sehr schwieriger wie undurchschaubarer Markt: Behörden und Regierungen. Noch dazu war es im Zeitraum zwischen 2005 und 2009, also in den Anfängen von Palantir, nicht schicklich, ein Start-up im Bereich Firmenkunden (B2B) hochzuziehen. Karp verglich das Unterfangen Jahre später mit der »Gründung eines Zirkus«.242 Unternehmenssoftware wie Palantir war für die Investoren nicht »hot« genug und für Behörden war geradezu »anti-hot«.243 Entsprechend reserviert waren die sonst für ihren Risikoappetit so bekannten Silicon-Valley-Investoren. Thiel und Karp holten sich denn auch viele Abfuhren. Hinzu kam das nicht gerade förderliche Erscheinungsbild von Alex Karp: »Da ist Karp mit seinem Haar und seinem Äußeren – er sieht nicht so aus wie ich und die Leute, die für mich arbeiten.« So äußerte sich Michael E. Leiter, der frühere Chef des National Counterterrorism Center (NCTC), einer Einrichtung, die George W. Bush nach 9/11 eingerichtet hatte.244
Bis Mitte 2008, also mehr als vier Jahre nach Gründung von Palantir, war es den Beteiligten wie Thiel und Karp nicht klar, ob das Ganze funktionieren würde. Bis dahin, so Karp, operierte man mit einem »Fake«, also mit einer Art Fata Morgana. Doch dann kam die Sache plötzlich ins Rollen. Der wirkliche »Proof of Concept« von Palantir war, so Karp, dass »wir eine hohe Nachfrage erzeugten, ohne einen Vertrieb. Von da an wussten wir, dass es funktionieren würde. Eine Person schreibt jemand anderem über ihre eigenen Netzwerke und sagt, es sei herausragend und dass er es unbedingt auch haben müsse.« Disruptiv war also auch die Vertriebsstrategie von Palantir: Ähnlich wie bei PayPal, wo virales Wachstum durch die Weiterempfehlung via E-Mail eine Lawine lostrat, nutzte Palantir dieselben Mechanismen, allerdings im B2B-Segment über die geschlossenen Netzwerke von Sicherheitsbehörden und Regierungsstellen.245
Schlussendlich zeichnen sich erfolgreiche Unternehmen und Produkte eben dadurch aus, dass die richtigen Leute zur richtigen Zeit angesprochen werden. Palantir hatte viel Zeit und sein langer Atem brachte schlussendlich den Erfolg.
Führungsstil
Für Peter Thiel ist Palantir kein gewöhnliches Start-up-Investment. Es ist eine Mission, die Welt mittels Software und Datenanalyse besser und ein Stück gerechter zu machen. Er ging ein großes Risiko ein, setzte über Jahre viel eigenes Geld aufs Spiel, ohne dass der Markt und die Risikokapitalszene reagierten. Wie passt nun eigentlich Alex Karp in diesen Kontext? Auf den ersten Blick gar nicht. Karp verfügt über keinen Abschluss in Informatik oder Ingenieurwissenschaften. Selbst Karp, der gerne in der dritten Person über sich redet, meinte: »Wie konnte es sein, dass diese Person Co-Gründer und seit 2005 CEO ist und die Firma immer noch existiert?« Auch hier liegt die Antwort wieder in den meist jahrzehntelang von Thiel gepflegten starken Freundschaften. Beide kennen sich seit ihrem Studium der Rechtswissenschaften in Stanford. Beide belegten im ersten Jahr meist dieselben Kurse, hatten aber stark konträre politische Ansichten. Karp wuchs als Sohn eines Künstlers und einer Kinderärztin in Philadelphia auf. Er erinnert sich, dass seine Eltern ihn praktisch jedes Wochenende zu Demos für die Rechte von Arbeitern und gegen so »ziemlich alles, was Reagan tat«, schleppten. Entsprechend waren Auseinandersetzungen der beiden vorprogrammiert. »Wir rannten oft ineinander wie wilde Tiere«, erinnert sich Karp. »Vom Grundsatz her liebte ich das Sparring mit ihm.« Ähnlich wie Thiel hatte Karp nach seinem Abschluss in Jura keine Lust, als Anwalt zu arbeiten. Er entschloss sich wie Thiel für ein Philosophiestudium. Allerdings in Frankfurt, der Geburtsstadt von Peter Thiel. Karp studierte an der Goethe-Universität bei Jürgen Habermas, einem der profiliertesten Philosophen des 20. Jahrhunderts, und legte dort auch 2002 seine Promotion ab.246
»Sozialphilosophie ist ein ausgefallener Weg mit direkter Zielrichtung, arbeitslos zu werden, vielleicht mit der besten Ausbildung das geringste Einkommen auf dem Planeten zu bekommen«, meinte Karp im Interview mit Charlie Rose. Auf die Frage des Journalisten, warum er dies getan habe, meinte Karp: »Aus demselben Grund, warum ich Palantir mitgegründet habe. Ich empfand für diese Dinge eine große Leidenschaft. Manche der Dinge, mit denen ich mich beschäftigt habe, waren sehr wichtig – was bedeutet es, etwas zu wissen? Welche Bedeutung hat es, es zu kommunizieren? Was sind die Fundamente der westlichen Gesellschaft?«247 Ähnlich wie Thiel erkannte Karp, dass er mit wissenschaftlicher Arbeit nur in einem kleinen Kreis wirken konnte. Gleichzeitig hatte er ein gutes Händchen für Aktien und Start-up-Investments.
Karp ist der klare und uneingeschränkte Anführer bei Palantir. Er gibt die Richtung vor und wird auch als »Gewissen« der Firma beschrieben.248 Beim Thema Wettbewerb kennt er aber keine Gnade. »Wir schlagen die langsamen Konkurrenten, bevor sie uns umbringen.« Für ihn ist der Wettbewerb mit Unternehmen wie IBM oder Booz Allen geradezu ein Überlebenskampf.249 Immerhin lautet der Titel seiner in Deutsch verfassten Promotion »Aggression in der Lebenswelt: Die Erweiterung des Parsonsschen Konzepts der Aggression durch die Beschreibung des Zusammenhangs von Jargon, Aggression und Kultur«. Karp beschäftigt sich darin mit Theodor Adorno und Martin Walser und der Bedeutung der Religion in Deutschlands Lebenswelt.250
Karp ist der Ober-Exzentriker unter Palantirs Exzentrikern. Er ist bekennender Junggeselle. Familiengründung und Eigenheim würden bei ihm einen »Ausschlag« verursachen. Er praktiziert Qigong-Meditationen und ist mit Aikido und Jiu Jitsu bestens vertraut. Sein totaler Palantir-Fokus manifestiert sich in folgender Aussage: »Die einzige Zeit, in der ich nicht an Palantir denke, ist, wenn ich schwimme, Qigong praktiziere oder während sexueller Aktivitäten.« Doch Karp selbst muss für seinen Erfolg und für seine Rolle als CEO von Palantir einen hohen Preis zahlen: Er hat seine Anonymität verloren und wird ständig von Bodyguards begleitet. Ein Abtauchen in »schmuddelige« Bars in Berlin, wie zu seinen Studentenzeiten in Deutschland, ist für ihn heute nicht mehr möglich.251
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten: Im Zuge des Wikileaks-Skandals kam heraus, dass ein Palantir-Mitarbeiter der Bank of America ein Angebot mit Palantir-Logo zugeleitet hatte, in dem dargelegt wurde, wie man »die Wikileaks-Gefahr am besten bekämpfen kann«.252 Karp zog daraus sofort Konsequenzen und distanzierte sich mit einer Mitteilung umgehend von dem Vorgang. »Das Recht auf freie Rede und das Recht auf Privatsphäre sind für eine blühende Demokratie entscheidend.« Karp sah die Verantwortlichkeit bei sich und den flachen und unternehmerisch geprägten Palantir-Strukturen. Mitarbeiter müssen sich nicht für alles Handeln ein OK bei ihren Vorgesetzten einholen.253
Palantir hat für Karp den Anspruch, die Regeln des »Nullsummenspiels«, also den schwierigen Spagat aus Privatsphäre und Sicherheit, neu zu schreiben. »Wir müssen Orte finden, die wir vor dem Regierungszugriff schützen, sodass wir alle einzigartig und, aus meiner Sicht, auch mal völlig anders sein können.«254
Unternehmensstrategie
Für Thiel ist denn auch klar, dass die Verteidiger bürgerlicher Freiheit Palantir schätzen sollten. »Wir können uns kein zweites 9/11 in den USA oder noch etwas Größeres leisten. Dieser Tag öffnete die Türen für alle Arten von aberwitzigen Verstößen und drakonischen Regeln.« Um solche Szenarien in der Zukunft zu vermeiden, müssen seiner Meinung nach Regierungsstellen mit der bestmöglichen Technologie ausgestattet sein, die Regeln eingebaut haben, um sicherzustellen, dass Strafermittler sie rechtmäßig einsetzen. Karp hat das von Thiel formulierte Nutzenversprechen umgesetzt. Palantir verfügt über die ausgeklügeltste Datenschutztechnologie am Markt. Die Software speichert, wer welche Informationen eingesehen hat, sodass eine Art »digitaler Fußabdruck« entsteht. Die Palantir-Software erlaubt es zudem, den Zugriff auf Informationen nur für den jeweils Berechtigten zu gewährleisten. In der Vor-Palantir-Zeit konnte jeder Geheimdienstanalyst sich in Archiven einen breiten Überblick verschaffen und niemand wusste, was jeweils angeschaut wurde.255
Ähnlich wie bei PayPal mit dem eBay-Marktplatz, galt es für Palantir, eine Zielgruppe zu finden. Schnell fiel der Fokus auf den Geheimdienst. Diese Strategie trug denn auch bald Früchte, und im Jahr 2005 wurde der CIA Kunde von Palantir und deren Risikokapitalgeber Q-Tel stieg mit ein. Von PayPal wurde auch die Methodik der iterativen Produktentwicklung übernommen. Das erste Produkt, »Palantir Government«, entstand im Dialog mit den Regierungsbehörden. Über die ersten drei Jahre flog das Entwicklungsteam alle zwei Wochen nach Washington, um aus der fixen Idee von Thiel und Karp ein marktfähiges Produkt zu bauen. Auch Palantirs Erfolg erwuchs auf Basis eines Monopolisten. Diesmal war es kein privatwirtschaftliches Unternehmen wie eBay, sondern gleich der mächtigste Staat der Welt: die USA.
Die Zusammenarbeit gestaltete sich aber äußerst schwierig. Das Palantir-Team verstand nicht, was die Regierungsvertreter meinten, und umgekehrt. Jeder sprach zunächst seine eigene Sprache. Trotzdem hielt Palantir daran fest, nur Ingenieure einzustellen und keine Regierungsangestellten. Auch der Besitz und das Tragen von Anzügen, so Karp, ist bei Palantir wenig verbreitet. Palantir konnte aber mit der Tatsache punkten, dass man ein fertiges Produkt hatte und den Nutzen der Software anhand der bereitgestellten Daten nachweisen konnte.256
Auch sonst wendete man wieder altbekannte Kniffe aus der PayPal-Zeit an: Man konzentrierte sich zunächst auf strukturierte Daten, die einfacher zu verarbeiten waren. So hangelte man sich von Abteilung zu Abteilung und suchte sich die gewünschten Datensätze zusammen. Als Palantir ein »Minimum viable Product«, also eine erste lauffähige Fassung (MVP), beisammen hatte, wurden von Q-Tel Pilotkunden innerhalb des CIA ausgewählt, die eine hohe Bedeutung hatten. Auf Basis der Rückmeldungen wurden in kurzen Zyklen Iterationen entwickelt und diese den Kunden wieder bereitgestellt. Zum damaligen Zeitpunkt ein nicht ganz einfaches Unterfangen: Waren doch die Sicherheitsbehörden vom Internet abgeschnitten, man konnte die Updates also nicht einfach darüber verteilen.257 Bald konnten die Softwareingenieure weitere Einsatzbereiche in verwandten Gebieten wie »Regulierung und Aufsicht« sowie »Cyberabwehr und Spionage«, aber auch im Bereich »Gesundheit – Erkennung von Krankheiten« erschließen.
Naheliegend war auch der Finanzsektor. Die Palantir-Datenspezialisten sahen sich mit ihrem Wissen, wie man Informationen strukturiert und verarbeitet, im Vorteil – auch gegenüber den Wall-Street-Größen. Schnell stellte sich heraus, dass Know-how von Palantir im Bereich der Datenintegration und Visualisierung für die Finanzindustrie nutzbringend war. Zusammen mit einem schnell wachsenden Hedgefonds wurde ein Team aus Händlern, Analysten und Programmierern gebildet, die wiederum in schnellen Iterationsstufen ein immer besseres Produkt entwickelten. Wie immer bei Palantir waren die Ziele herausfordernd gesteckt: Schließlich gewann man den größten Hedgefonds und die größte Bank als Kunden und erreichte eine Partnerschaft mit dem wichtigsten Finanzdatenanbieter.258
Palantir-Direktor Shyam Sankar beschrieb auf der Wissensplattform Quora das Vorgehen wie folgt: »Mehr Iterationen, schnellere Iterationen, mehr Koffein, weniger Schlaf.«259
Palantir sieht sich in einer technologischen Verpflichtung, sowohl der Privatsphäre und individuellen Freiheit als auch dem Bedarf der Sicherheitsbehörden nach detaillierten Analysen gerecht zu werden.
Die Privatrechte sollen, so Palantir, möglichst von Beginn an in Technologie »gebacken« werden. Durch eine perfekte Integration der Funktionen in die Software soll späterer Missbrauch vermieden werden. Palantir will der gute »Polizist« im globalen Big-Data-Spiel sein. Ein hoher Anspruch, dem es gilt, gerecht zu werden!
Palantir ist eine »Engineering Company«. Bis heute werden nur Softwareingenieure und Entwickler eingestellt. Eine Vertriebsmannschaft sucht man vergebens. Palantir verzichtet auch auf eine Marketing- und Öffentlichkeitsabteilung. So bleibt das Unternehmen schlank und fokussiert auf die Entwicklung neuer Technologien.
Dabei ist die Palantir Software kein Niedrigpreisprodukt. Die Kosten für Kunden können sich in einer Größenordnung zwischen einer Million und 100 Millionen Dollar bewegen. Entsprechend fokussiert sich Palantir auf die Gewinnung von Großkunden, die in ihrer jeweiligen Branche Marktführer sind. Damit schlägt Palantir zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum Ersten werden einkömmliche Margen erzielt und zum Zweiten gewinnt Palantir einen einzigartigen Einblick in unterschiedliche Branchen, ob Öl-, Pharma- oder Finanzindustrie, und kann so seine Software auf immer mehr Bereiche zuschneiden.
Karp betont immer wieder, dass die Hauptmotivation mit Palantir darin bestünde, an den wichtigsten Problemen der USA und seiner Partner zu arbeiten. »Wenn etwas wirklich funktionieren soll, darf es nicht ums Geld gehen.« Selbst für das Silicon Valley ist das eine ungewöhnliche Beschreibung der Unternehmensstrategie.260
Unternehmenskultur und Kommunikation
Palantir ist bewusst anders als andere Silicon Valley Start-ups. Das Hauptquartier in Palo Alto ist, wie bereits erwähnt, nach der Heimstädte der Hobbits aus J. R. R. Tolkiens ›Herr der Ringe‹ benannt. Angestellte fühlen sich bei Palantir wie zu Hause. Hunde sind willkommen. Manche lassen sogar ihre Zahnbürste in den Waschbecken zurück, wenn sie wieder einmal nach nächtelangen Programmierarbeiten mit ihren Gedanken irgendwo anders waren.261
Das amerikanische Wirtschaftsmagazin Fortune brachte unter dem Titel »Connecting the dots« im Jahr 2016 eine Innenansicht über Palantir. Auf einem der Bilder leitet Alex Karp eine Gruppe von rund 30 Mitarbeitern bei einer Tai-Chi-Sitzung an. Die Teilnehmer folgen seinen langsamen und feinen Bewegungen. Immer wieder justiert er die Arme und Haltung seiner Mitarbeiter. Es handelt sich um Führung und nicht um Korrektur. »Wir sind eine antiautoritäre Kultur«, so Karp.
Karp mit seinem philosophischen Hintergrund wird fast poetisch wenn er über Palantirs Mission spricht. »Wir sind süchtig nach Überzeugung. Wir glauben an das, was wir machen.« Das soll kein leeres Marketing-Gerede sein. Die Kunden, so Karp, sollen sehen, dass wir aus Überzeugung handeln.262
Kunden und Investoren sehen die Palantir-Leute vielfach als »nicht normal« an. Karp nimmt man die idealistische Vision für Palantir ab. Gerade auch wenn es um Geld und Vermögen geht. Im Silicon Valley ist Geld ohne Frage ein wichtiges Triebmittel für Innovationen. Reichtum ist für viele wichtig, zumal auch die Lebenshaltungskosten im Silicon Valley zu den höchsten in den gesamten USA gehören. Ein Börsengang wäre denn auch ein logischer Schritt. Karp hegt aber große Vorbehalte. Geld und der Einfluss des Aktienkurses könnten Palantirs Mission, die Software für die Verbesserung der Lebensbedingungen auf der Welt einzusetzen, untergraben. Palantir wäre kurzfristigen Spekulationen ausgesetzt und müsste sich einmal im Quartal mit den lästigen Fragen von renitenten Analysten herumschlagen. Ganz zu schweigen von der Transparenz durch die Veröffentlichung eines Börsenprospekts und der Quartals- und Geschäftsberichte. Karp selbst wäre allerdings ein großer Nutznießer eines Börsengangs, gehören ihm doch rund 10 Prozent der Firma, was ihn damit auf dem Papier zum Milliardär machen würde. Doch Reichtum interessiert ihn wenig. Er wohnt zur Miete und hat kein eigenes Auto, da er auch nie Zeit hatte, den Führerschein zu machen.263
Meist entscheiden die ersten paar Dutzend Mitarbeiter über den Erfolg eines Unternehmens und geben ihm eine bestimmte DNA. Nachdem die fünf Palantir-Gründer das Unternehmen in Schwung gebracht hatten, wuchs das Kernteam auf rund 20 Leute an, die voll hinter der Vision von Palantir standen. Laut Co-Gründer Joe Lonsdale brauchte Palantir Mitarbeiter vom Schlage eines Gründers, so fesselnd und interessant war die Ausgangsmission. Bei der Einstellung neuer Mitarbeiter in einem Start-up geht es immer um ein Gleichgewicht aus Talent und Kultur. Bei Softwareingenieuren lässt sich das Talent anhand der geschriebenen Software und Programmcodes leicht nachvollziehen. Beim Thema Kultur wird es schon ein wenig komplizierter. Palantir setzte dabei auf eine einfache Formel: »Ist dies eine Person, mit der du zusammenarbeiten würdest?«264
Und das Personalwachstum bei Palantir ist gewaltig: Praktisch jedes Jahr wurde die Mitarbeiterzahl verdoppelt. Zuletzt erreichte man eine Größe von rund 1500 Mitarbeitern. Durchläuft ein Bewerber den Selektionsprozess erfolgreich, so bekommt er im Anschluss unter anderem das Buch ›The Looming Tower: Al-Qaeda and the Road to 9/11‹ als Lektüre.265 Palantir-Mitarbeiter gehören zudem nicht zu den Bestbezahlten im Valley. Die Gehälter sind auf rund 137.000 Dollar gedeckelt. Ein signifikanter Anteil wird stattdessen in Form von Aktienoptionen vergütet. Zuletzt zollte aber auch Palantir den hohen Lebenshaltungskosten des Valleys Tribut und erhöhte die Löhne um rund 20 Prozent.266 Die Gehaltsfrage ist also ein wichtiger Prüfstein: Gesucht werden Mitarbeiter, die für das Thema »brennen« und die unternehmerisch denken. Thiel weiß von seiner Vergangenheit mit PayPal, dass viele potenzielle Mitarbeiter diesen Lakmustest nicht bestehen und vordergründig lieber auf das schnelle Geld in Form von höheren Gehältern aus sind. Obschon die langfristige Beteiligung als Aktionär an einem großartigen Unternehmen die finanziell bessere Variante ist.
Palantir konnte seine einzigartige Engineering-Kultur trotz starkem Personalwachstum auch deshalb beibehalten, weil es ausschließlich Softwareentwickler und Ingenieure einstellt. Für Karp ist dies einer der elementarsten Pfeiler von Palantir. Viele Firmen vermeiden es, ihre Softwareentwickler vor Kunden auftreten zu lassen. Nicht so Palantir: Karp baut darauf, dass Entwickler immer die Wahrheit über die Vor- und Nachteile eines Produkts sagen, wissen, wie man die vorhandenen Probleme löst, und damit beim Kunden über die Zeit eine starke Vertrauensbasis schaffen. Karp umschreibt denn auch Palantirs eigenen Weg wie folgt: »Und da gibt es eine Firma, die an einer Art Asperger-Syndrom leidet, die aber immer zuverlässig ist; am Ende wirst du ihr Vertrauen schenken.«267
Aufgrund der Firmengröße kann Karp natürlich nicht mehr mit jedem einzelnen Mitarbeiter persönlich sprechen. Regelmäßig kommuniziert er deshalb mittels Videobotschaften über KarpTube, einem an YouTube angelehnten Format.268
Ähnlich wie bei PayPal gibt es intern eine Diskussions- und Debattenkultur über die Unternehmenspolitik. Im Mittelpunkt der Diskussionen stehen immer wieder die Auftraggeber. Soll Palantir nun für die britische Regierung arbeiten? Wie verhält man sich Israel gegenüber, wenn Mitarbeiter die Politik gegenüber den Palästinensern kritisch sehen? Nach internen Diskussionen entschied man sich bei Palantir, Abstand zu nehmen von der lukrativen Tabakindustrie. Karp betont immer wieder, dass Palantir aus ethischen Gründen Aufträge und damit Umsatzvolumina in beträchtlichem Umfang abgelehnt habe.269 Mitarbeitern steht ein eigenständiger Kanal zur Verfügung, über den sie ihren Vorgesetzten Auffälligkeiten im Unternehmen melden können, die sie ethisch für bedenklich halten.
Unternehmensführung
Was ist nun das Besondere an der Unternehmensführung von Palantir? Es ist die logische Fortentwicklung des PayPal-Ansatzes. Zusammengefasst in drei Worten: Skalierung, Geschwindigkeit, Agilität. In der Sprache von Palantir heißt es auf deren Homepage, man entwickle Produkte, die Menschen bei ihren wichtigsten Arbeitsaufgaben besser machen. Und zwar bei den Tätigkeiten, über die man auf der ersten Seite einer Zeitung liest.270
Palantir selbst bezeichnet sich als ein andersartiges Produktunternehmen. Wie bei PayPal steht das Produkt zentral im Mittelpunkt. Von großer Bedeutung sind auch hier die hohe Verantwortung, die kleinen Teams entgegengebracht wird. Für Thiel ist dies ein wichtiger Schlüssel, damit kreative Lösungen entstehen und nicht durch einen bürokratischen Wasserkopf, hervorgerufen durch hierarchische Strukturen, erstickt werden.
Die drei Grundvoraussetzungen für Palantir sind:
– Wir liefern Produkte aus, die Menschen in die Lage versetzen, die Welt zum Besseren zu verändern.
– Wir haben bisher nur einen Bruchteil dessen entwickelt, was wir uns vorstellen.
– Kleine Teams mit unbegrenzter Vorstellungskraft.
Drei Leitideen, oder soll man sagen, drei Gebote, bilden die interne Identität von Palantir:
Die beste Idee gewinnt
»Es gibt im Engineering keine Primadonnen.«
Freeman Dyson
Gute Ideen sind die Grundvoraussetzung, warum jemand für Palantir arbeitet. Palantir sucht Mitarbeiter, die kreativ sind und eine Meinung haben. Politische Spielchen und Egoismus sind tabu. Entscheidend ist, dass die beste Idee gewinnt: unabhängig davon, wer sie hatte.
Nichts ist für immer
»Erfolgreiche Software ändert sich immer.«
Frederick P. Brooks
Bei Palantir unterliegt die Entwicklung einem kontinuierlichen Innovationsprozess. Werden bestehende Lösungen durch etwas Neues ersetzt, so ist dies ein Erfolg: ein neues »Plateau an Funktionalität ist erreicht und die Iteration beginnt von Neuem«.
Immer fokussiert bleiben auf die Unternehmensmission
»Der schwierigste Einzelpunkt bei der Entwicklung eines Softwaresystems ist, genau zu entscheiden, was man baut.«
Frederick P. Brooks
Palantir entwickelt Software für die effektive Analyse sehr komplizierter datenbezogener Probleme. Palantir beschreibt die Arbeit als äußerst kompliziert, schließt sie doch die verschiedenartigsten Themenbereiche wie Informatik, Data Science, Software Engineering, allgemeine Regeln, gute Führung, hochskalierbare verteilte Systeme und Nutzerverhalten ein. Maßgeblich sind für Palantir immer die Probleme und Herausforderungen der Anwender. Durch diesen Fokus bleibt Palantir immer auf dem richtigen Pfad der Kundenorientierung.
Nach dem beschriebenen Wikileaks-Vorfall eines Mitarbeiters reagierte Palantir sehr proaktiv. Man entschuldigte sich umgehend, ließ die Prozesse von einer externen Kanzlei überprüfen und richtete im Anschluss eine interne Ethik-Hotline ein.271
Das Recht auf gesellschaftliche und private Freiheit ist für Thiel und Karp so bedeutsam, dass sie dafür extra eine eigene Stellenklassifizierung geschaffen haben: »Privacy & Civil Liberties Engineers.«272
Karp will Palantir besenrein halten. Der Wikileaks-Vorfall scheint abgehakt. Gegenüber seinen Entwicklern betonte er denn auch, dass Palantir noch keinen Skandal hatte. Dies wäre auch Gift für die Unternehmenskultur und könnte der inneren Identität und dem Zusammenhalt schaden.273
Palantir ist aufgrund seines starken Wachstums mit 250.000 Quadratmetern Fläche inzwischen einer der größten Mieter im Valley. Das starke Wachstum führt auch zu weiterem Personalbedarf. Karp schätzt, dass Palantir bis auf eine Größe von 5000 Mitarbeitern wachsen könne, bis es seine maximale Effektivität erreicht hat. Im Gegensatz zu Tolkiens Roman, wo das Hauptquartier der Hobbits zu einer industriellen Wüste verkam, hoffen Thiel, Karp und sein Team, davon verschont zu bleiben.274
Klare Verantwortlichkeiten
Auch in Sachen Verantwortlichkeiten ist Palantir ein Abbild der frühen PayPal-Zeit. Vielleicht noch ein Stück konsequenter. Karp und Thiel sind darauf erpicht, die flachen Strukturen trotz der erreichten Unternehmensgröße aufrecht zu erhalten. Nicht ohne Grund verzichtet Palantir ganz auf eine Marketing- und PR-Abteilung. Das wäre nur unnötiger Ballast. Stattdessen steht die Ingenieurs- und Gründungskultur im Mittelpunkt. Ähnlich wie bei PayPal arbeiten kleine Teams, mit viel Verantwortung ausgestattet, an neuen Branchenlösungen. Dafür sind Mitarbeiter notwendig, die ein hohes Maß an Vorstellungskraft mitbringen. Fehler werden verziehen, gehören sie doch zum Geschäft, wenn man unternehmerische Risiken von seinen Mitarbeitern einfordert.
Fokus = Produktzentriertheit
Fokus und Produktzentriertheit sind bei Palantir eins. Die Fokusstrategie fußt auf drei wesentlichen Prinzipien:
– Mission
– Kunden
– Produkt
Palantir konnte es sich seit seiner Gründung erlauben, langfristig und eigenständig zu denken. Der Ansatz, sich auf ein ausgesuchtes, potentes, aber schwer zugängliches Kundenklientel in Form von Regierungen, Militärs, Geheimdiensten und Großunternehmen zu konzentrieren, zahlt sich bisher aus. Der Ansatz ist für den B2B-Bereich hoch skalierend, können sich doch nur eine bestimmte Anzahl potenter Kunden die Software von Palantir überhaupt leisten. Der Verkauf findet damit praktisch ausschließlich auf Ebene der Entscheider statt. Insofern wäre ein herkömmlicher Vertrieb, der den Mittelbau in einem Unternehmen »bearbeitet«, gar nicht wirkungsvoll, ggf. sogar eher kontraproduktiv. »Komplexe Verkäufe funktionieren am besten ohne eigenen Vertrieb. Unsere Abschlüsse bewegen sich in einer Größenordnung zwischen einer Million und 100 Millionen Dollar. Bei solchen Dimensionen wollen die Kunden mit dem Chef sprechen und nicht mt dem Vertriebsleiter«, so Thiel in ›Zero to One‹. Er führt darin weiter aus, dass die Basis im B2B-Softwaregeschäft Referenzkunden sind, die man überzeugen müsse und von deren Basis aus man dann mit »Methode und Geduld« zum Erfolg kommt.275
Das Produkt steht im Mittelpunkt. Palantir hat den Anspruch, das beste Anwendererlebnis bei der Arbeit mit Daten zu schaffen. Statt eine komplizierte Abfragesprache zu lernen, bietet Palantir mit seiner Software einen Zugang zu den Daten über eine nutzerfreundliche Schnittstelle im Stile eines komplexen Frage-und-Antwort-Spiels.276
Herausragend war für Harsh Patel, früherer Verantwortlicher bei dem Risikokapitalgeber In-Q-Tel, »wie fokussiert sie an dem Problem waren …, wie Menschen mit Daten reden würden«. Doch diese Herausforderung war gewaltig, mussten die Mitarbeiter doch die unterschiedlichsten Datenquellen, ob strukturierte oder unstrukturierte, zu einer Einheit verarbeiten. Gerade die Aufbereitung unstrukturierter Daten stellt eine große Herausforderung dar. Auch hier wusste sich Palantir mit seiner Fokus-Strategie zu helfen: Die Entwickler konzentrierten sich zunächst auf strukturierte Datensätze, brachten damit ihre Datenanalyse ans Laufen, und erschlossen sich dann über den weiteren Verlauf immer mehr Datenquellen – insbesondere unstrukturierte. Heute gehört der Umgang mit unstrukturierten Daten, wie E-Mails, Webseiten, Soziale Medien und Sensordaten, zu den Kernkompetenzen von Palantir.277
Auch vertrieblich fokussierte sich Palantir mit einer ähnlichen Strategie wie PayPal. Man suchte sich den Kunden, der den höchsten Bedarf für diese Art Software hatte: Den amerikanischen Geheimdienst CIA. Von diesem Punkt aus baute Palantir ein Produkt, das man dann zunächst in immer mehr Regierungsstellen und später auch in zivile Unternehmen adaptieren konnte.
Mitarbeiterbindung und -beteiligung
Wie bei PayPal in den frühen Jahren ist die Arbeit bei Palantir eine Glaubensfrage. Palantirs Gehälter sind auf rund 137.000 Dollar pro Jahr und einen Bonus von 15.000 Dollar beschränkt. Intern dürfen zugeteilte Aktien bis zu einer Summe von 300.000 Dollar verkauft werden. Für einen Außenstehenden klingt das zunächst nach viel Geld. Für das Valley, das sich wieder in einem regelrechten Goldrausch befindet und unter 30-Jährige regelmäßig zu Millionären macht, nicht gerade überschäumend viel Geld. Karp meint denn auch, dass die Arbeit bei Palantir »einen nicht reich macht«, aber »man lebt wie ein Prinz einer kleinen Gemeinde«. Im Mittelpunkt steht dabei »interessante Arbeit, die von Bedeutung ist«. Palantir sieht die Herausforderungen als magnetischer Anziehungspunkt für ganz bestimmte Mitarbeiter. Softwarecracks, denen es darum geht, die harten Nüsse zu knacken. Gleichzeitig müssen die Entwickler auch in die Firmenkultur passen und mit den anderen Mitarbeitern harmonieren. Einzelgänger und Primadonnen werden nicht geduldet. Es ist wie an einer Eliteuni. Man ist unter Gleichgesinnten und muss auch damit fertig werden, dass alle sehr gut sind und der Einzelne nicht mehr die herausragende Stellung wie zuvor innehat.
Formale Qualifikationen wie ein Informatikabschluss sind nicht notwendig. Voraussetzung ist die Bereitschaft, an Dingen zu arbeiten, die »broken« sind. Man ist unter Gleichgesinnten. Damit schafft Palantir eine einzigartige Kultur. Entwickler fühlen sich eben am wohlsten unter anderen Entwicklern. Aus dieser speziellen, ja einzigartigen Firmensubkultur entstehen die technologischen Durchbrüche, von denen Peter Thiel so gerne in der Öffentlichkeit spricht.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Ingenieure bei jeder neuen Programmversion ein eigens angefertigtes T-Shirt mit einer neuen Karikatur herausbringen.278 Eine spezielle Ausdrucksform der Entwickler für das Gelingen einer neuen Version. Palantir bewahrt sich damit den Status einer fast kindlich anmutenden Start-up-Unternehmung. Im Gegensatz dazu würden Vertriebsmitarbeiter in anderen Unternehmen bei einer solchen Gelegenheit wahrscheinlich eine Flasche Schampus köpfen.
Etwas getrübt wurde das Bild vor einiger Zeit, als die Obama-Administration Palantir wegen rassistischer Diskriminierung angeklagt hatte. Demnach sollen asiatische Bewerber bereits im frühen Auswahlprozess abgelehnt worden sein, obschon sie dieselbe Qualifizierung wie ihre weißen Mitbewerber vorzuweisen hatten. Laut der Anklage waren rund 75 Prozent der 130 Bewerber Asiaten, aber unter den Eingestellten befanden sich nur vier im Vergleich zu 17 nicht-Asiaten. Für Palantir eine delikate Situation. Betonte man doch von Regierungsseite umgehend, dass man von Unternehmen, die für den amerikanischen Staat und seine Behörden arbeiteten, verlange, dass diese Chancengleichheit für alle Bewerber garantierten.279
Zuletzt wurde auch berichtet, dass über 100 Mitarbeiter, darunter einige wichtige Manager, das Unternehmen verlassen hätten. Laut internen Dokumenten liegt die Wechselrate der Belegschaft für 2016 bei 20 Prozent. Rund doppelt so hoch wie der Durchschnitt der letzten drei Jahre. Im Gegenzug kündigte Karp eine Gehaltserhöhung von 20 Prozent für die Mitarbeiter mit mehr als 18 Monaten Betriebszugehörigkeit an. Auch die jährlichen »Performance Reviews« wurden gestrichen, da sie nach Karps Aussage ihren Zweck nicht erfüllten.280
Auch hinsichtlich eines möglichen Börsengangs zeigt sich Karp seit Herbst 2016 offener. »Wir sind so aufgestellt, dass wir an die Börse gehen könnten«, betonte Karp auf einer Technologiekonferenz des Wall Street Journal. Ein IPO würde langjährigen Mitarbeitern die Chance eröffnen, ihre Firmenanteile zu Geld zu machen.281
Innovationskultur
Zentral für Unternehmen wie PayPal und Palantir ist eine funktionierende Innovationskultur. Palantir gehört zu den neuartigen Firmen, die wichtige Probleme in den bedeutenden industriellen Sektoren lösen. Für Co-Gründer Lonsdale macht gerade dies Palantir zu einem attraktiven Arbeitgeber. Echte Softwarecracks suchen nach den größtmöglichen Herausforderungen. So wie Bergsteiger darauf fixiert sind, die höchsten Berge und die steilsten Wände zu erklimmen, ist es für die Spezies der herausragenden Softwareentwickler wichtig, sich mit den besten Kollegen an den herausforderndsten Aufgaben zu messen. Und genau dafür versucht Palantir den organisatorischen Rahmen zu schaffen.
Jeden Tag gilt es neue Herausforderungen und Probleme großer Kunden zu lösen. Das setzt ständige Innovation voraus. Um dem gerecht zu werden, so Lonsdale, bedarf es eines »außergewöhnlichen Technologieteams«. Karps Verdienst ist es, einen einzigartigen Anziehungspunkt mit spezieller Atmosphäre für brillante Softwareentwickler geschaffen zu haben. Obschon er selbst ein Nichttechniker ist, aber von allen wegen seiner schnellen Auffassungsgabe geschätzt wird.282
Palantir, das ist seine große Stärke, ist sich seiner Ingenieurskultur treu geblieben und hat es geschafft, seine Analysesoftware für immer mehr Anwendungsfälle auf Regierungsseite wie auch für die Privatwirtschaft zu adaptieren. Das Team arbeitet in kleinen Einheiten, die jeweils Start-up-Charakter besitzen. In diesen Zellstrukturen werden die Kundenanforderungen in schnellen Iterationsstufen umgesetzt und umgehend beim Kunden getestet. Diese direkte Rückkopplung wird bei Palantir wie in kaum einem anderen B2B-Softwareunternehmen gelebt. Ein entscheidender Grund dafür ist, dass Palantir nur über Entwickler verfügt und diese direkt mit ihren jeweiligen Kunden und Auftraggebern kommunizieren. Gleichzeitig verfügen die Softwareteams über größtmögliche Autonomie. Sie können sich voll auf die Lösung der Kundenherausforderungen konzentrieren. Weder Vertrieb noch Business Development sind als Störfaktoren dazwischengeschaltet.