Kapitel 17
Den Motor hochjagen

SpaceX, 2002

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Tom Mueller

© Gregg Segal

Tom Mueller

In seiner Jugend im ländlichen Idaho spielte Tom Mueller leidenschaftlich mit Modellraketen. »Ich baute Dutzende zusammen. Sie hielten natürlich nie lange, weil ich sie immer zum Absturz brachte oder in die Luft jagte.«

Sein Heimatort Saint Maries (2500 Einwohner) war ein Holzfällerstädtchen, gelegen rund 160 Kilometer südlich der kanadischen Grenze. Toms Vater arbeitete dort als Waldarbeiter. »Als Kind half ich Dad immer bei seiner Arbeit mit dem Holztransporter, hatte Umgang mit Schweißgeräten und anderen Werkzeugen«, erinnert sich Mueller. »Dieses praktische Tun verschaffte mir ein Gespür dafür, was funktionieren würde und was nicht.«

Hoch aufgeschossen und sehnig, mit einem Grübchen im Kinn und pechschwarzem Schopf, wirkte Mueller wie der Rohentwurf des künftigen Holzfällers. Doch inwendig war er ebenso lernbegierig und fleißig wie Musk. Er stürzte sich auf die örtliche Bibliothek, wo er Science-Fiction verschlang. Für ein Mittelschulprojekt setzte er Grillen in eine Rakete, die er im elterlichen Garten zündete. Er wollte untersuchen, welche Auswirkungen die Beschleunigung auf die Insekten hätte. Stattdessen musste er erleben, wie der Fallschirm versagte, die Rakete am Boden zerschellte und die Grillen starben.

Anfangs ließ Mueller sich Raketenbausätze auch mit der Post kommen, dann entwickelte er sie selbst. Mit 14 baute er den Schweißbrenner seines Vaters zu einem Motor um. »Ich injizierte Wasser, um zu sehen, welchen Einfluss das auf die Leistung hätte. Das ist schon eine verrückte Sache: Die Zugabe von Wasser vergrößert die Schubkraft«, sagt er.

Mit seinem Schulprojekt gewann er den zweiten Preis bei einer örtlichen Wissenschaftsmesse, wodurch er sich wiederum für die Teilnahme an der internationalen Endausscheidung in Los Angeles qualifizierte. Mueller saß zum ersten Mal in einem Flugzeug. »Ich kam nicht mal in die Nähe des Siegertreppchens«, erinnert er sich. »Da gab es Roboter und Sachen, die die Väter der anderen Jugendlichen gebaut hatten. Zumindest hatte ich mein Projekt allein durchgeführt.«

An der University of Idaho biss sich Mueller durch, indem er im Sommer und an den Wochenenden als Holzfäller arbeitete. Nach seinem Abschluss zog er nach Los Angeles, um einen Job in der Luft- und Raumfahrtbranche zu finden. Er hatte zwar nicht die allerbesten Noten, doch seine Begeisterung war ansteckend, was ihm eine Stelle bei TRW verschaffte, dem Unternehmen, das jenes Raketentriebwerk gebaut hatte, das Neil Armstrong und Buzz Aldrin zum Mond brachte. An freien Wochenenden fuhr Mueller in die Mojave-Wüste, um dort mit den übrigen Mitgliedern der Reaction Research Society – einem 1943 gegründeten Club von Raketenbegeisterten – große, selbst gebaute Raketen zu testen. Dort tat er sich mit John Garvey zusammen, um etwas zu bauen, das mit 36 Kilogramm Gewicht zum leistungsstärksten Raketentriebwerk aus Amateurhand werden sollte.

Während sie eines Sonntags im Jahr 2002 an ihrem Amateurtriebwerk arbeiteten, erfuhr Mueller von Garvey, dass ein Internetmillionär namens Elon Musk vorbeikommen würde, um ihn kennenzulernen. Musk traf in Justines Begleitung ein, als Mueller gerade den schweren Antrieb geschultert hatte und sich mühte, diesen mit einem Rahmen zu verschrauben. Musk bombardierte ihn mit Fragen. Welche Anschubleistung hat der Antrieb? »57 Kilonewton«, antwortete Mueller. Hat er je etwas Größeres gebaut? Mueller erzählte, er habe bei TRW am TR -106 gearbeitet, der über eine Anschubleistung von 2891 Kilonewton verfüge. Musk wollte wissen, welche Treibstoffe dafür verwendet würden. Nach einer Weile gab Mueller das Schrauben auf und stellte sich ganz dem Trommelfeuer von Musks Fragen: Ob er einen Antrieb in der Größe des TR -106 von TRW auch ganz allein bauen könne? Mueller antwortete, Einspritzdüse und Zündvorrichtung habe er selbst entworfen, das Pumpsystem kenne er gut, und den Rest könne er mit einem Team herausbekommen. »Was würde das kosten?«, wollte Musk wissen. Mueller meinte, bei TRW seien es 12 Millionen Dollar. Musk wiederholte seine Frage. »Oh, meine Güte, das ist schwierig«, wich Mueller aus, verblüfft, wie schnell sich das Gespräch Detailfragen zugewandt hatte.

Justine , die einen langen Ledermantel trug und bis dahin schweigend zugehört hatte, signalisierte Musk, dass sie gehen sollten. Elon fragte Mueller, ob sie sich am kommenden Sonntag treffen könnten. Mueller zögerte. »Es war der Super Bowl Sunday. Ich hatte mir gerade einen Breitbildfernseher gekauft und wollte mir das Spiel mit einigen Freunden ansehen.« Er spürte jedoch, dass Widerstand zwecklos war, und stimmte dem Besuch Musks zu.

»Wir sahen uns, wenn’s hochkommt, einen Spielzug an, weil wir so intensiv über den Bau einer Trägerrakete sprachen«, erinnert sich Mueller. Zusammen mit einigen weiteren Ingenieuren, die dabei waren, skizzierten sie Pläne für die spätere erste SpaceX-Rakete . Die Triebwerke für die erste Stufe sollten flüssigen Sauerstoff und Kerosin verbrennen. »Ich weiß, wie sich das ganz einfach machen lässt«, erklärte Mueller. Für die der Oberstufe schlug Musk Wasserstoffperoxid vor. Mueller befürchtete jedoch, der Umgang damit könnte problematisch sein, und empfahl stattdessen Stickstofftetroxid [Anm. d. Ü.: eigentlich Distickstofftetroxid, abgekürzt NTO von engl. nitrogen tetroxide ], was wiederum Musk für zu teuer hielt. Sie einigten sich schließlich darauf, auch für die Triebwerke der Oberstufe flüssigen Sauerstoff und Kerosin zu verwenden. Vergessen war das Footballspiel; die Rakete war interessanter.

Musk bot Mueller den Posten als Leiter der Antriebsabteilung an, zuständig für den Entwurf der Raketentriebwerke. Mueller, der sich über die Kultur der Risikoscheu bei TRW beklagt hatte, beriet sich mit seiner Frau. »Du wirst dich in den Hintern beißen, wenn du das nicht machst«, lautete ihre Einschätzung. Und so wurde Mueller zum ersten Mitarbeiter von SpaceX .

Eine Sache, die Mueller sich ausbedungen hatte, war, dass Musk den Gegenwert von zwei Jahren Gehalt auf einem Treuhandkonto hinterlegte. Mueller war kein Internetmillionär und wollte nicht riskieren, ohne Bezahlung dazustehen, falls das Projekt fehlschlug. Musk willigte ein, was ihn allerdings dazu brachte, Mueller eher als Angestellten von SpaceX zu sehen denn als Mitgründer. Ein Kampf, den Musk schon im Zusammenhang mit PayPal ausgefochten hatte und der ihm bei Tesla erneut bevorstehen sollte. Wer nicht bereit war, in ein Unternehmen zu investieren, qualifizierte sich in Musks Augen nicht als Gründer. »Man kann nicht zwei Jahre Gehalt auf ein Treuhandkonto verlangen und sich für einen Mitgründer halten«, stellt Musk klar. »Um ein Mitgründer zu sein, muss eine gewisse Kombination aus Inspiration, Schweiß und Risiko zusammenkommen.«

Zündung

Nachdem es Musk gelungen war, Mueller und einige weitere Ingenieure zur Mitarbeit zu bewegen, benötigte er einen Hauptsitz und eine Fabrik. »Wir haben Meetings in Konferenzräumen von Hotels abgehalten«, erinnert sich Musk. »Also durchstreifte ich mit dem Wagen die Gegenden, in denen die meisten Luft- und Raumfahrtfirmen ansässig waren, und fand ein altes Lagerhaus in direkter Nachbarschaft zum Flughafen von L. A.« (Die SpaceX-Zentrale und das benachbarte Tesla-Designstudio gehören eigentlich zu Hawthorne, einer in Flughafennähe gelegenen Stadt im Los Angeles County. In diesem Buch schlage ich diesen Ort jedoch Los Angeles zu.)

Bei der Konzeption der Fabrik folgte Musk seiner Philosophie, die Entwicklungs-, Technik- und Produktionsteams als Cluster zusammenzufassen. »Die Leute vom Fließband sollten sich jederzeit einen Designer oder Ingenieur schnappen können, um ihn zu fragen: ›Warum, verdammt noch mal, wird das auf diese Art gemacht?‹«, erklärte er Mueller. »Hast du die Hand auf dem Herd, und der wird heiß, ziehst du sie sofort weg. Ist die Hand auf dem Herd aber die eines anderen, dauert es länger, bis du reagierst.«

Als sein Team größer wurde, versuchte Musk, sein Credo weiterzugeben: Risikobereitschaft und realitätsverändernden Eigensinn. »Wer sich ablehnend äußerte oder nicht glaubte, dass sich etwas realisieren ließ, wurde zum nächsten Meeting nicht mehr eingeladen«, erinnert sich Mueller . »Er wollte nur Leute, die die Dinge vorantrieben.« Das war ein guter Weg, um Menschen dazu zu bringen, etwas zu tun, was sie eigentlich für unmöglich hielten. Allerdings war es auch ein guter Weg, um von Leuten umgeben zu sein, die sich scheuten, schlechte Nachrichten zu überbringen oder eine Entscheidung infrage zu stellen.

Musk und die anderen jungen Ingenieure arbeiteten meist bis weit in den Abend hinein. Dann starteten sie ein Multiplayer-Shooterspiel wie Quake III Arena auf ihren Desktop-Computern und stürzten sich in tödliche Schlachten, die bis 3 Uhr in der Nacht dauern konnten. Musks Deckname lautete »Random9«, und er war (natürlich) der aggressivste Spieler. »Wir schrien und brüllten einander an wie eine Horde Wahnsinniger. Und Elon war mittenmang dabei«, berichtete ein Angestellter. Üblicherweise siegte Musk. »Bei diesen Spielen ist er beängstigend gut«, so ein anderer Mitarbeiter. »Er ist irrsinnig reaktionsschnell, kennt alle Tricks und weiß, wie man Leuten auflauert.«

Die Rakete, die sie bauten, nannte Musk »Falcon 1 «, nach dem Raumschiff aus Star Wars . Er überließ es Mueller, die Triebwerke zu taufen. Coole Namen sollten es sein, nicht bloß Buchstaben und Zahlen. Ein Zulieferer beschäftigte eine Frau, die auch Falknerin war und die Namen der verschiedenen Falkenarten auflistete. Mueller wählte »Merlin« (Baumfalke) für das Triebwerk der ersten Stufe und »Kestrel « (Buntfalke) für das der Oberstufe. [Anm. d. Ü.: Bei SpaceX wird die Erststufe auch »Booster« genannt, während man damit klassischerweise Zusatzraketen zur Schubverstärkung bezeichnet, die kurz nach dem Start abgeworfen werfen.]