Kapitel 57
Vollgas

SpaceX, 2020

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Mit Kiko Dontchev (oben ) und im Startturm in Cape Canaveral (unten )

© O.: Mit freundlicher Genehmigung von SpaceX; u.: Mit freundlicher Genehmigung von Jehn Balajadia

Zivilisten erreichen den Orbit

Mit dem Ende der letzten Space-Shuttle-Mission im Jahr 2011 erlebten die USA einen Verlust an Kompetenz, Willen und Einfallsreichtum, der bei einer Nation, die zwei Generationen zuvor neun Mondmissionen unternommen hatte, nur verwundern kann. Danach war das Land beinahe zehn Jahre nicht in der Lage, Menschen ins All zu schicken. Für den Transport ihrer Astronauten zur Internationalen Raumstation mussten sich die USA auf russische Raketen verlassen. Das änderte SpaceX 2020.

Im Mai desselben Jahres gelang es einer Falcon-9-Rakete, mit einer Dragon-Kapsel für die Crew an der Spitze, zwei NASA -Astronauten zur ISS zu bringen – es war der erste Transport eines Menschen in die Erdumlaufbahn durch ein privates Unternehmen überhaupt. Präsident Trump und Vizepräsident Pence flogen nach Cape Canaveral und verfolgten den Start von der Zuschauertribüne des Launch Pad 39A . Musk saß, seinen Sohn Kai neben sich, mit Kopfhörern im Kontrollraum. Im Fernsehen und auf verschiedenen Streaming-Plattformen sahen zehn Millionen Menschen den Start live. »Ich bin kein gläubiger Mensch«, erzählte Musk später dem Podcaster Lex Fridman , »aber ich habe mich trotzdem hingekniet und für diese Mission gebetet.«

Die Rakete hob ab, und im Kontrollraum brach Jubel aus. Trump und die übrigen Politiker kamen herein, um zu gratulieren. »Seit fünfzig Jahren ist das die erste großartige Nachricht aus dem Weltraum, machen Sie sich das klar«, so Trump, »und es ist mir eine Ehre, sie zu überbringen.« Musk hatte wenig Ahnung, wovon der Präsident sprach, und hielt Abstand. Als Trump zu Musk und seinem Team hinüberging und fragte: »Seid ihr Leute bereit, vier Jahre weiterzumachen?«, klinkte sich Musk aus und wandte sich ab.

Als die NASA SpaceX 2014 mit dem Bau einer Rakete beauftragt hatte, die Astronauten zur Raumstation bringen sollte, vergab sie noch am selben Tag einen konkurrierenden – und um 40 Prozent höher dotierten – Auftrag an Boeing . Während SpaceX 2020 einen großen Erfolg verzeichnen konnte, war es Boeing noch nicht einmal gelungen, einen unbemannten Testflug an der Raumstation andocken zu lassen.

Um den erfolgreichen Start zu feiern, fuhr Musk mit Kimbal , Grimes , Luke Nosek und einigen anderen zu einer Ferienanlage in den Everglades, zwei Autostunden südlich von Cape Canaveral. Nosek erinnert sich, dass ihnen die »gewaltige historische Größe« des Augenblicks erst allmählich bewusst wurde. Sie tanzten bis spät in die Nacht, und Kimbal sprang irgendwann auf und brüllte: »Mein Bruder hat gerade Astronauten in den Weltraum geschickt!«

Kiko Dontchev

Auf den geglückten Transport von Astronauten zur Raumstation im Mai 2020 folgte in den nächsten fünf Monaten eine beeindruckende Serie von elf erfolgreichen unbemannten Missionen zur Aussetzung von Satelliten. Dennoch fürchtete sich Musk wie immer vor Selbstzufriedenheit. Er war besorgt, SpaceX könnte so schlaff und lahm werden wie Boeing , wenn er nicht weiter die Peitsche irrsinniger Dringlichkeit knallen ließ.

Nach einem der Starts in jenem Oktober stattete Musk Launch Pad 39A einen spätabendlichen Besuch ab. Gerade arbeiteten dort nur zwei Personen. Anblicke wie dieser waren Trigger für Musk. Wie die Mitarbeiter von Twitter noch feststellen sollten, erwartete er bei sämtlichen seiner Unternehmen, dass alle mit nicht nachlassender Intensität arbeiteten. »In Cape Canaveral beschäftigen wir 783 Angestellte. Warum arbeiten dort jetzt nur zwei von ihnen?«, wollte er wutentbrannt von seinem für Starts zuständigen Vice President wissen. Musk gab ihm 48 Stunden Zeit, um ein Briefing darüber vorzubereiten, was jeder zu tun hätte.

Als er die gewünschten Auskünfte nicht bekam, beschloss Musk, persönlich nach dem Rechten zu sehen. Er geriet in den hardcore Vollgas-Modus und zog in das Gebäude ein, in diesem Fall in den Hangar in Cape Canaveral . So hatte er das zuvor schon mit den Tesla-Fabriken in Nevada und Fremont gehalten, und später würde er auch bei Twitter campieren. Musk arbeitete rund um die Uhr. Seine ganztägige Anwesenheit hatte etwas Demonstratives, war aber eben auch ganz real. In seiner zweiten Nacht dort konnte Musk seinen Start-Vize nicht erreichen. Der war verheiratet und Vater, hatte sich jedoch nach Musks Auffassung unerlaubt von der Truppe entfernt. Daher wollte er einen der Ingenieure sprechen, die mit dem Vize im Hangar gearbeitet hatten: Kiko Dontchev .

Dontchev wurde in Bulgarien geboren und wanderte als kleines Kind in die USA ein, als sein Vater, ein Mathematiker, eine Stelle an der Universität von Michigan annahm. Kiko erwarb einen Bachelor- und einen Masterabschluss in Luft- und Raumfahrttechnik, was ihm, wie er glaubte, seine Traumstelle eingebracht hatte: ein Praktikum bei Boeing. Doch Dontchev wurde schnell enttäuscht und beschloss eines Tages, einen Freund zu besuchen, der bei SpaceX arbeitete. »Ich werde nie vergessen, wie ich an diesem Tag durch die Fabrik ging«, schwärmt er. »All die jungen Ingenieure, die sich den Arsch aufrissen, T-Shirts trugen, tätowiert waren und sich wirklich verbissen daran machten, Sachen zu schaffen. Ich dachte: ›Das ist meine Gang !‹ Kein Vergleich zu der zugeknöpften, tödlichen Atmosphäre bei Boeing

In jenem Sommer beschrieb er einem Vice President von Boeing, wie SpaceX jüngeren Ingenieuren ermöglichte, Innovationen zu entwickeln. »Wenn sich Boeing nicht ändert«, schloss er, »werden dem Unternehmen die großen Talente entgehen.« Sein Gegenüber erwiderte, Boeing sei nicht auf der Suche nach Disruptoren: »Vielleicht suchen wir Leute, die nicht die Besten sind, dafür aber länger bleiben.« Dontchev kündigte.

In Utah besuchte er im Rahmen einer Konferenz eine von SpaceX veranstaltete Party und fasste nach ein paar Drinks den Mut, Gwynne Shotwell anzusprechen. Er zog einen zerknitterten Lebenslauf aus der Tasche und zeigte ihr ein Bild von der Satelliten-Hardware, an der er gearbeitet hatte. »Ich kann Dinge zum Laufen bringen«, behauptete er.

Shotwell war amüsiert. »Wer auch immer sich traut, mir einen zerknitterten Lebenslauf vorzulegen, könnte sich als guter Bewerber erweisen«, sagte sie und lud ihn zu einem Vorstellungsgespräch bei SpaceX ein. Für 15 Uhr war ein Termin bei Musk angesetzt, der noch immer jeden einzustellenden Ingenieur persönlich interviewte. Wie üblich wurde Musk aufgehalten, und man teilte Dontchev mit, er müsse an einem anderen Tag wiederkommen. Statt dieser Aufforderung nachzukommen, harrte er fünf Stunden vor Musks Kabine aus. Als er schließlich um 20 Uhr eingelassen wurde, um mit Musk zu sprechen, nutzte Dontchev die Gelegenheit, um sich darüber auszulassen, wie wenig man seinen forschen Ansatz bei Boeing geschätzt hatte.

Wenn Musk Mitarbeiter einstellte oder beförderte zählte für ihn die Einstellung mehr als im Lebenslauf verbriefte Fähigkeiten. Und wenn jemand bereit war, sich voll in etwas reinzuhängen, entsprach das genau Musks Definition einer guten Einstellung. Er stellte Dontchev vom Fleck weg ein.

Als Musk an jenem Oktoberabend in seinem Cape-Canaveral-Arbeitsrausch Dontchev sprechen wollte, war der gerade nach drei durchgearbeiteten Tagen zu seiner Frau nach Hause gekommen und hatte eine Flasche Wein aufgemacht. Zunächst ignorierte er die unbekannte Nummer auf seinem Telefon, doch dann rief einer seiner Kollegen Dontchevs Frau an. »Sag Kiko, er soll sofort zum Hangar zurückkommen.« Musk wollte ihn sehen. »Ich also total übermüdet und etwas angetrunken ins Auto, unterwegs noch schnell eine Schachtel Zigaretten gekauft, um in die Gänge zu kommen, und zurück zum Hangar«, erinnert sich Dontchev. »Ich hatte Angst, wegen Trunkenheit am Steuer angehalten zu werden, aber verglichen damit, Elon zu ignorieren, erschien mir das als das kleinere Risiko.«

Bei seinem Eintreffen wurde Dontchev von Musk angewiesen, verschiedene Gespräche mit den Ingenieuren unterhalb der Topmanagerebene zu organisieren. Ihr Ergebnis war eine Umwälzung: Dontchev wurde zum Chefingenieur in Cape Canaveral ernannt. Mit der operativen Leitung wurde sein Mentor Rich Morris betraut, ein ruhiger und erfahrener Manager. Dontchev bat darum, an Morris und nicht direkt an Musk zu berichten. Ein kluger Schachzug, denn auf diese Art entstand ein reibungslos funktionierendes Team aus einem Manager, der sich darauf verstand, ein Meister-Yoda-ähnlicher Ratgeber zu sein, und einem Ingenieur, der mit Musks Krafteinsatz gleichziehen wollte.

Trotz

Musks Drang, schneller zu agieren, mehr Risiken einzugehen, Regeln zu brechen und Anforderungen infrage zu stellen, ermöglichte es ihm, große Leistungen zu vollbringen, wie Menschen in die Erdumlaufbahn zu schicken, Elektrofahrzeuge in großem Stil zu vermarkten und Hausbesitzer von Stromanbietern unabhängig zu machen. Damit ging aber auch einher, dass er Dinge tat, die ihn in Schwierigkeiten brachten: Er ignorierte Vorgaben des Space Environment Center s, zuständig für die Weltraumwetterprognosen, und widersetzte sich den kalifornischen COVID -Bestimmungen.

Hans Königsmann war einer der allerersten SpaceX-Ingenieure, die Musk 2002 eingestellt hatte. Während der fehlgeschlagenen ersten drei Falcon-1- Flüge und der letztlich erfolgreichen vierten Mission hatte er dem kühnen Trupp auf Kwaj angehört. Inzwischen war er zum Vice President of Flight Reliability befördert, der dafür zu sorgen hatte, dass die Flüge sicher und zuverlässig waren und den Vorschriften entsprachen. Was unter Musk keine einfache Aufgabe war.

Ende 2020 bereitete SpaceX den Start eines unbemannten Tests des Starship-Boosters Super Heavy vor. Bei allen Flügen müssen die Anforderungen der US -Bundesluftfahrtbehörde (FAA ) eingehalten werden, zu denen auch Wetterrichtlinien gehören. An diesem Morgen entschied der FAA -Inspektor, der den Start aus der Ferne überwachte, dass Höhenwinde die Fortsetzung des Starts unsicher machten: Sollte beim Start eine Explosion auftreten, könnten nahe gelegene Häuser in Mitleidenschaft gezogen werden. SpaceX legte ein eigenes Wettermodell vor, dem zufolge die Bedingungen sicher waren, und erbat eine Ausnahmegenehmigung, was die FAA jedoch ablehnte.

Im Kontrollraum selbst war kein FAA -Vertreter zugegen, und es war ein wenig (wenn auch nicht sehr) unklar, welche Regeln galten. Der verantwortliche Startdirektor wandte sich daher zu Elon um und legte stumm den Kopf schief, als wolle er fragen, ob er fortfahren solle. Musk nickte schweigend. Die Rakete hob ab. »Das war alles sehr subtil«, sagte Königsmann , »wie es typisch für Elon ist: Die Entscheidung, ein Wagnis einzugehen, wird mit einem Nicken kommuniziert.«

Der Start verlief tadellos, ohne dass das Wetter ein Problem darstellte, allerdings versagte die Rakete bei dem Versuch einer vertikalen Landung in zehn Kilometern Entfernung. Die FAA leitete eine Untersuchung ein, um zu klären, warum ihre Entscheidung bezüglich des Wetters ignoriert worden war. Sie verfügte einen zweimonatigen Teststopp für SpaceX, verhängte aber zu guter Letzt keine nennenswerten Strafen.

Im Rahmen seiner Aufgaben verfasste Königsmann einen Bericht über den Vorfall, wobei er das Verhalten von SpaceX nicht beschönigte. »Die FAA ist sowohl inkompetent als auch konservativ, was eine üble Mischung darstellt: Bevor wir hätten fliegen dürfen, brauchte ich trotzdem eine Genehmigung von ihnen, und die hatten wir nicht«, erzählte er mir. »Elon hatte den Start verfügt, als die FAA sagte, wir dürften nicht. Also schrieb ich einen Bericht, in dem das auch so stand.« Er wollte, dass SpaceX – und Musk – die Schuld auf sich nahmen.

Das war keine Haltung, die Musk schätzte. »Er sah es anders und reagierte empfindlich, sehr empfindlich«, beschreibt es Königsmann.

Er war seit den ersten harten Tagen bei SpaceX gewesen, also wollte Musk ihn nicht auf der Stelle feuern. Er strich jedoch Königsmanns Aufsichtsfunktionen und drängte ihn nach ein paar Monaten hinaus. »Du hast viele Jahre einen großartigen Job gemacht«, teilte ihm Musk per E-Mail mit, »aber irgendwann kommt für jeden der Zeitpunkt, sich zurückzuziehen. Deiner ist jetzt.«