Kapitel 66
Ein rein visuelles System

Tesla, Januar 2021

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Folie einer Präsentation, die den Fortschritt bei autonom fahrenden Autos zeigt

Raus mit dem Radar

Die Frage, ob man für das Autopilot-System Radar benutzen sollte, statt sich ausschließlich auf visuelle Daten zu verlassen, die von Kameras geliefert wurden, blieb bei Tesla umstritten. Außerdem wurde sie zu einer Fallstudie für Musks Entscheidungsstil: zwischen kühn, stur, rücksichtslos und visionär oszillierend, gesteuert von den grundlegenden Prinzipien der Physik und zuzeiten überraschend flexibel.

Ursprünglich war er in Bezug auf das Thema durchaus offen gewesen. Als der Tesla Model S im Jahr 2016 ein Upgrade erfuhr, hatte er dem Autopilot-Team – wenn auch zögernd – erlaubt, zusätzlich zu den acht Kameras des Wagens einen nach vorne gerichteten Radar einzusetzen. Und er hatte seinen Ingenieuren ein Programm zur Entwicklung eines eigenen Radarsystems namens Phoenix genehmigt.

Doch Anfang 2021 bereitete der Einsatz von Radar Probleme. Die coronabedingte Verknappung von Mikrochips traf auch die Zulieferer von Tesla. Hinzu kam, dass das hauseigene Phoenix-System nicht gut funktionierte. »Wir haben die Wahl«, erklärte Musk in einer schicksalhaften Besprechung Anfang Januar 2021. »Entweder schließen wir die Autoproduktion. Oder wir sorgen dafür, dass Phoenix sofort richtig funktioniert. Oder wir schmeißen den Radar ganz raus.«

Keine Frage, welche Option er bevorzugte. »Wir sollten ihn loswerden, und zwar mit einer rein visuellen Lösung loswerden«, sagte er. »Wenn wir nicht mehr beides brauchen, Radar und eine visuelle Lösung, um dasselbe Objekt zu identifizieren, dann kommen wir einen riesengroßen Schritt vorwärts.«

Einige Mitglieder seines Führungskreises, vor allem der Automobilchef Jérôme Guillen , waren dagegen. Guillen argumentierte, der Verzicht auf den Radar würde Sicherheitsprobleme mit sich bringen. Radar könne Objekte entdecken, die für eine Kamera oder ein menschliches Auge nicht so leicht erkennbar seien. Schließlich wurde ein Treffen des gesamten Teams anberaumt, um das Thema zu diskutieren und zu einer Entscheidung zu kommen. Als alle Argumente ausgetauscht waren, hielt Musk für etwa vierzig Sekunden inne. »Ich ziehe den Stecker«, sagte er dann. »Weg mit dem Radar.« Als Guillen seine Ablehnung gegenüber diesem Vorhaben noch einmal formulierte, packte Musk der kalte Zorn. »Wenn du ihn nicht rausnimmst«, blaffte er, »dann suche ich mir jemand anderen, der es tut.«

Am 22. Januar 2021 verschickte Musk eine E-Mail. »Um vorwärtszukommen, schalten wir den Radar ab«, hieß es darin. »Er ist eine schreckliche Krücke. Ich meine es ernst. Und es ist klar, dass rein kameragestütztes Fahren gut funktioniert.«

Guillen verließ das Unternehmen wenig später.

Kontroversen

Musks Entscheidung, den Radar wegzulassen, setzte eine öffentliche Debatte in Gang. Eine ausführliche Recherche, die Cade Metz und Neal Boudette für die New York Times durchführten, enthüllte, dass viele Tesla-Ingenieure große Bedenken hegten. »Im Gegensatz zu den Technologen in fast jedem anderen Unternehmen, das an autonomen Fahrzeugen arbeitet, bestand Mr Musk darauf, dass die Autonomie auch bei ausschließlichem Einsatz von Kameras erreicht werden könne«, heißt es darin. »Doch viele Tesla-Ingenieure bezweifelten, dass es sicher genug wäre, sich nur auf Kameras zu verlassen und den Nutzen anderer Sensoren außer Acht zu lassen. Und sie waren der Ansicht, Mr Musk habe den Fahrern in Bezug auf die Fähigkeiten des Autopiloten zu viel versprochen.«

Edward Niedermeyer , der ein kritisches Buch über Tesla mit dem Titel Der Ludicrous-Modus geschrieben hatte, postete eine ganze Reihe von Tweets. »Bei der Verbesserung der normalen Fahrassistenzsysteme setzt die Industrie auf mehr Radar und sogar auf neuartige Systeme wie LiDAR und Thermal Imaging «, schrieb er. »Tesla jedoch bewegt sich in bemerkenswerter Weise rückwärts.« Und Dan O’Dowd , der ein Unternehmen für Softwaresicherheit führt, leistete sich eine ganzseitige Anzeige in der New York Times , in der er das autonome Fahrsystem von Tesla als »die schlechteste Software, die jemals von einem Fortune-500-Unternehmen verkauft wurde« bezeichnete.

Tesla stand schon seit längerer Zeit im Fokus der National Highway Traffic Safety Administration , die landesweit für die Sicherheit auf den Straßen zuständig ist. Nachdem 2021 der Radar in Tesla -Fahrzeugen abgeschafft worden war, nahmen die Überprüfungen zu. In einer Studie wurden 273 Unfälle registriert, bei denen Tesla-Fahrer irgendeine Stufe des Fahrassistenzsystems benutzt hatten. Fünf dieser Unfälle hatten Todesopfer gefordert. Auch elf Zusammenstöße von Tesla-Wagen mit Rettungs- und anderen Einsatzfahrzeugen wurden von der Behörde untersucht.

Musk war überzeugt, die meisten Unfälle seien nicht durch schlechte Software verursacht worden, sondern durch schlechte Fahrer. Bei einem Meeting schlug er daher vor, Daten aus den Autokameras – von denen sich eine im Innenraum des Wagens befindet und auf den Fahrer gerichtet ist – zu nutzen, um eventuelle Fahrfehler zu beweisen. Eine der Frauen am Tisch lehnte diesen Vorstoß ab. »Wir haben dieses Thema in alle Richtungen mit dem Datenschutzteam besprochen«, sagte sie. »Nach Ansicht unserer Anwälte dürfen wir die Selfie Streams nicht einem spezifischen Fahrzeug zuordnen, selbst wenn es einen Zusammenstoß gegeben hat.«

Musk war darüber alles andere als glücklich. Schon die bloße Idee eines »Datenschutzteams« gefiel ihm nicht. »Ich bin derjenige, der in diesem Unternehmen die Entscheidungen trifft, nicht das Datenschutzteam«, sagte er. »Ich kenne diese Leute nicht mal. Ihre Daten sind so gut geschützt, dass man nicht mal weiß, wer sie sind.« Einige nervöse Lacher wurden am Tisch laut. »Vielleicht können wir einen Eintrag auf dem Touchpad machen, wo wir den Leuten sagen, dass wir ihre Daten sammeln, wenn sie FSD [Full Self-Driving, vollständig autonomes Fahren ] nutzen, für den Fall eines Zusammenstoßes«, schlug er vor. »Wäre das in Ordnung?«

Die Frau in der Runde dachte kurz nach und nickte dann. »Solange wir es den Kunden gegenüber kommunizieren, müsste es eigentlich in Ordnung sein.«

Phoenix steigt aus der Asche

So stur er auch sein kann, Musk lässt sich überzeugen, wenn man ihm Beweise liefert. Anfang 2021 war er unbeugsam gewesen, was die Abschaffung des Radars anging, weil die damalige technische Qualität nicht genug Auflösung lieferte, um dem visuellen System irgendeine Information von Bedeutung hinzuzufügen. Doch er erlaubte seinen Ingenieuren, das Phoenix -Programm fortzuführen, um zu sehen, ob sie damit eine bessere Radartechnologie entwickeln könnten.

Lars Moravy , Chef der Abteilung für Fahrzeugentwicklung, übertrug die Verantwortung dafür einem in Dänemark geborenen Ingenieur namens Pete Scheutzow . »Elon ist nicht gegen Radar«, erklärt Moravy. »Er ist nur gegen schlechten Radar.« Scheutzows Team entwickelte ein Radarsystem genau für die Fälle, in denen die Person am Steuer nicht in der Lage sein könnte, etwas zu sehen. »Gut möglich, dass du recht hast«, sagte Musk und genehmigte insgeheim den Test des neuen Systems in den teureren Modellen S und Y .

»Es handelt sich um einen wesentlich ausgefeilteren Radar, als er normalerweise in Autos eingesetzt wird«, erklärt er dazu. »Etwa vergleichbar mit dem in Waffensystemen. Er erschafft ein Bild von dem, was vor sich geht, und kriegt nicht nur ein Ping zurück.« Auf die Frage, ob er wirklich plant, Phoenix in den Wagen der Oberklasse einzusetzen, sagt er: »Es lohnt sich, damit zu experimentieren. Ich bin immer offen für die Ergebnisse physikalischer Experimente.«