Twitter, Donnerstag, 27. Oktober 2022
Antonio Gracias, Kyle Corcoran, Kate Claassen und Musk mit dem
Pappy-Van-Winkle-Bourbon (links
); David Sacks und Antonio Gracias im War Room stehend (rechts
)
© R.: Mit freundlicher Genehmigung von Jehn Balajadia
Der Twitter -Deal sollte am Freitag, den 28. Oktober, abgeschlossen sein. Davon jedenfalls ging das Twitter-Management aus, und davon gingen die Öffentlichkeit und die Wall Street aus. Rechtzeitig zur Eröffnung der Börse an diesem Morgen war ein ordnungsgemäßer Übergang sorgfältig vorbereitet worden. Das Geld sollte transferiert, die Dokumente sollten unterschrieben, die Aktien ausgelistet werden, und Musk sollte die Leitung übernehmen. Dieses Vorgehen würde Parag Agrawal und seinen Topstellvertretern gestatten, sich ihre Abfindungen zu sichern und die Aktienoptionen auszuüben.
Doch Musk hatte insgeheim mit seinem Team einen Plan ausgeheckt, um genau das zu durchkreuzen. Den ganzen Donnerstagnachmittag über betrat und verließ er immer wieder einen beengten Konferenzraum, in dem Antonio Gracias , Alex Spiro , Jared Birchall und ein paar andere systematisch eine Art Ju-Jitsu-Manöver planten. Am Donnerstagabend würden sie einen schnellen Aktienschluss erzwingen. Bei perfektem Timing konnte Musk Agrawal und die anderen Topleute der Twitter-Geschäftsführung feuern, bevor diese ihre Aktienoptionen ausüben konnten.
Das war schon irgendwie dreist, ja, sogar unbarmherzig, aber Musks Ansicht nach gerechtfertigt. Wegen des Preises, den er zahlte, und weil er überzeugt war, dass ihn das Management getäuscht hatte. »Der Aktienabschluss heute Abend im Gegensatz zu dem morgen Früh bedeutet einen Unterschied von 200 Millionen in der Portokasse«, erklärte er mir am späten Donnerstagnachmittag im »War Room«, als sich der Plan deutlicher abzeichnete. Neben der Absicht, sich zu rächen und Geld zu sparen, trieb Musk dabei auch das Vergnügen an Spieltaktik an. Das Überraschungsfinale würde dramatisch werden, wie ein zeitlich gut geplanter Angriff in Polytopia .
Generalfeldmarschall für den Überraschungsaktienschluss am Donnerstag war Musks langjähriger Anwalt Alex Spiro . Ein schräger und lustiger Paragrafenheld, der jederzeit Lust auf einen Rechtsstreit hatte. Er hatte Musks Vertrauen in den stürmischen Zeiten des Jahres 2018 gewonnen, als er ihm dabei half, die rechtlichen Konsequenzen abzuwehren, die dessen »Pedo Guy« - und »Tesla-privatisieren«-Tweets ausgelöst hatten. Musk hatte sich angewöhnt, sich vor jedem zu hüten, der mehr Selbstvertrauen als Kompetenz besaß. Spiro war in beiden Kategorien extrem gut, sodass Musk ihn wertschätzte, wenn auch manchmal mit Vorsicht.
»Wir können Parag erst feuern, wenn er die Urkunde unterschrieben hat, richtig?«, hatte Musk gefragt.
»Ich würde die lieber entlassen, bevor die ganze Angelegenheit über die Bühne ist«, antwortete Spiro. Er besprach sich mit Kollegen und erarbeitete Optionen, während sie auf die Referenznummern der US -Zentralbank Federal Reserve warteten, die die Überweisung der Gelder belegten. Kaum war die Bestätigung eingetroffen, dass das Geld überwiesen und die erforderlichen Dokumente tatsächlich unterzeichnet waren, betätigten Musk und sein Team den Abzug, um den Coup durchzuziehen. Jehn Balajadia , langjährige Assistentin von Musk, die zurückgeholt worden war, damit sie bei der Twitter-Übernahme behilflich war, übergab exakt um 16:12 Uhr (Pacific Time) die Kündigungsschreiben an Agrawal , Ned Segal , Vijaya Gadde und Syndikus Sean Edgett . Sechs Minuten später vermeldete Musks leitender Securitymitarbeiter, dass sie alle aus dem Gebäude »geführt« und die E-Mail-Zugänge gesperrt waren.
Das sofortige Kappen der E-Mail-Kommunikation war Teil des Plans. Agrawal hatte sein Rücktrittsschreiben mit dem Verweis auf die neue Geschäftsführung fertig und war bereit, die E-Mail zu versenden. Doch weil sein Twitter-E-Mail-Account nicht länger funktionierte, dauerte es ein paar Minuten, bis er das entsprechende Dokument als Gmail-Message vorliegen hatte. Zu dem Zeitpunkt war er allerdings schon von Musk gefeuert.
»Er hat versucht zurückzutreten«, sagte Musk.
»Aber wir waren schneller«, entgegnete Spiro .
In einem an das Hauptgebäude angrenzenden Teil veranstaltete Twitter zu Halloween eine »Trick oder Tweet«-Party, auf der es jede Menge Abschiedsumarmungen gab. Birchall machte sich im War Room lustig: »Ned Segal war als CFO verkleidet.« Im Konferenzraum nebenan klebten ein paar der SpaceX-Programmierer geradezu an ihren Rechnern, um einen Videostream zu verfolgen. Kurz nach 18 Uhr war eine Falcon-9-Rakete mit 52 Starlink-Satelliten an Bord von Vandenberg gestartet. Michael Grimes , der leitende Morgan Stanley-Banker, kam aus Los Angeles angeflogen und brachte Geschenke mit in den War Room. Unter anderem eine Collage historischer Verteidigungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, beginnend mit John Milton im Jahr 1644 und gipfelnd in Musk, wie er die Twitter-Zentrale betrat und sagte: »Let that sink in!« Außerdem hatte er eine Flasche Pappy Van Winkle’s dabei, den besten Bourbon der Welt, den seine Frau zum Geburtstag bekommen hatte. Kleine Kostproben wurden herumgereicht, und dann signierte Musk die halb leere Flasche für Grimes’ Frau.
Ein paar Minuten später nahm Musk seine erste Produktveränderung vor. Bis dahin sahen Leute, die im Netz twitter.com besuchten, als Erstes eine Seite, die sie dazu aufforderte, sich einzuloggen. Musk fand, man sollte stattdessen die »Entdecken-Seite« sehen, mit den Trends, was gerade heiß diskutiert wurde. Also sandte er dem Angestellten, der die Seite verantwortete, eine Nachricht. Der junge Programmierer Tejas Dharamsi , gerade auf dem Rückflug von einem Familienbesuch in Indien, antwortete, er werde sich darum kümmern, wenn er am Montag zurück im Büro sei. Machen Sie das sofort, wurde ihm mitgeteilt. Dharamsi tat wie geheißen und führte die Änderungen noch am selben Abend via WLAN an Bord des United-Airlines-Fliegers aus. »Wir hatten viele Jahre jede Menge möglicher Features ausgearbeitet, aber es hat nie jemand irgendetwas in der Richtung entschieden«, sagte er später. »Und plötzlich war da dieser Typ, der schnelle Entscheidungen traf.«
Musk übernachtete im Haus von David Sacks . Als er gegen 21 Uhr dort eintraf, war der örtliche Kongressabgeordnete der Demokraten, Ro Khanna , zu Gast. Khanna ist ein tech-affiner Verfechter des Rechts auf freie Meinungsäußerung, aber man unterhielt sich an diesem Abend nicht über Twitter , sondern über die Rolle, die Tesla bei der Rückführung von Produktion und Industrie in die USA spielen könnte, und über die Risiken, falls keine diplomatische Lösung für den Krieg in der Ukraine gefunden würde. Ein angeregtes, fast zwei Stunden dauerndes Gespräch. »Er kam direkt vom Abschluss des Twitter-Deals, und mich überraschte, dass wir gar nicht darüber gesprochen haben«, sagt Khanna. »Er schien lieber über andere Themen reden zu wollen.«