Twitter, 27.–30. Oktober 2022
Im Uhrzeigersinn von oben links: Mit Kanye West bei SpaceX; Yoel Roth; Jason Calacanis; David Sacks
O. l.: © Elon Musk/Twitter; o. r.: Mit freundlicher Genehmigung von Twitter; u. l.: © David Paul Morris/Bloomberg via Getty Images; u. r.: © Duffy-Marie Arnoult/WireImage/Getty Images
Der Musiker und Modedesigner Ye, vormals bekannt als Kanye West , war – gewissermaßen – ein Freund von Musk. Zumindest auf diese seltsame Art, wie das Wort Freundschaft manchmal auf prominente Partykumpel angewendet wird, die die gleiche Energie und das gleiche Rampenlicht teilen, aber wenig Privates. 2011 hatte Musk Ye in der SpaceX-Fertigung in Los Angeles herumgeführt. Zehn Jahre später hatte Ye der Starbase in Südtexas einen Besuch abgestattet, und Musk war zu Yes Donda-2 -Album -Release-Party in Miami gekommen. Bestimmte Eigenschaften hatten sie gemeinsam, wie beispielsweise ungefiltert zu reden, und beide galten als halb verrückt, obwohl sich diese Beschreibung in Yes Fall schlussendlich als nur halb richtig herausstellte. »Kanyes Glaube an sich selbst und seine unglaubliche Beharrlichkeit haben ihn dahin gebracht, wo er heute ist«, so Musk 2015 im Magazin Time . »Er kämpfte um seinen Platz im kulturellen Pantheon mit einem bestimmten Ziel. Er hat keine Angst, auf dem Weg dorthin verurteilt oder lächerlich gemacht zu werden.« So hätte sich Musk auch selbst beschreiben können.
Anfang Oktober, ein paar Wochen bevor Musk den Twitter-Deal abschloss, trugen Ye und seine Models bei einer Fashionshow »White Lives Matter«-T-Shirts, was zu einem Social-Media-Feuersturm führte, der in einem Tweet von Ye gipfelte, in dem er verkündete: »When I wake up I’m going death con 3 On JEWISH PEOPLE .« Er bezog sich damit in antisemitischer Form auf die militärische Alarmstufe »DEFCON 3«, wobei 5 die höchste Stufe der nationalen Sicherheitsbedrohung darstellt. Twitter hatte ihn daraufhin gesperrt. Ein paar Tage danach twitterte Musk: »Heute mit Ye gesprochen & meine Bedenken über seinen letzten Tweet ausgedrückt, was er sich, glaube ich, zu Herzen genommen hat.« Doch der Musiker blieb blockiert.
Yes Twitter-Saga sollte Musk letzten Endes eine Reihe von Lektionen über die Komplexität freier Meinungsäußerung und die Schattenseiten impulsiver Unternehmenspolitik beibringen. Denn neben den Entlassungsentscheidungen war die Content-Moderation das beherrschende Thema der ersten Woche bei Twitter. Musk hatte sich Meinungsfreiheit auf die Fahnen geschrieben, musste aber feststellen, dass seine Ansichten allzu einfach gestrickt waren. In den sozialen Netzwerken kann eine Lüge schon um die halbe Welt gereist sein, während sich die Wahrheit noch die Schuhe zubindet. Falschinformation war ein Problem, ebenso wie Kryptobetrug, Hochstapelei und Hatespeech. So unterschiedlich diese Bereiche waren, sie zogen ein gemeinsames weiteres Problem nach sich: Zitternde Werbekunden wollten ihre Marken nicht in der Jauchegrube toxischer Sprache sehen.
Ebenfalls Anfang Oktober hatte Musk in einem unserer Gespräche die Idee geäußert, für die Content-Moderation eine Art Gremium einzurichten, das über die entsprechenden Probleme entscheiden sollte. Er wollte, dass in diesem Gremium unterschiedliche Stimmen aus der ganzen Welt vertreten waren und beschrieb den Typus von Leuten, der ihm dafür vorschwebte. »Ich werde keine Entscheidungen darüber treffen, wer wieder eingestellt werden soll, bis das Gremium seine Arbeit aufgenommen hat«, erklärte er mir.
Diese Zusage veröffentlichte er am Freitag, dem 28. Oktober, also einen Tag nachdem der Twitter -Kauf abgeschlossen war. »Keine wichtige Content-Entscheidung wird getroffen, keine Accounts wieder freigeschaltet, bevor sich dieses Gremium nicht konstituiert hat«, twitterte er. Aber es entsprach nicht seinem Charakter, Kontrolle abzugeben. Er hatte bereits begonnen, die eigentliche Idee zu verwässern. Die Meinungen des Gremiums seien lediglich »beratender Natur«, sagte er zu mir. »Ich muss die endgültigen Entscheidungen treffen.« Als er an diesem Nachmittag durch die Konferenzräume schlenderte und über Entlassungen und Produktmerkmale sprach, wurde deutlich, dass er das Interesse an der Einrichtung eines solchen Gremiums bereits verlor. Auf meine Frage, ob er bereits entschieden habe, wer dem Gremium angehören könnte, sagte er: »Nein, das hat momentan echt keine Priorität.«
Weil Musk den Leiter der Rechtsabteilung, Chief Legal Officer Vijaya Gadde , gefeuert hatte, fiel die Aufgabe, sich um die Content-Moderation zu kümmern – und die gleichermaßen schwierige, mit Musk zurechtzukommen –, einem etwas akademischen, aber fröhlichen, frisch und gesund aussehenden 35-Jährigen namens Yoel Roth zu. Die Sache versprach, unangenehm zu werden. Roth war ein eher links orientierter Demokrat, der eine ganze Reihe antirepublikanischer Tweets veröffentlicht hatte. »Ich habe noch nie für einen Präsidentschaftswahlkampf gespendet, aber ich habe gerade 100 Dollar an Hillary for America überwiesen«, twitterte er 2016, ein Jahr nachdem er dem Trust-&-Safety-Team des Unternehmens beigetreten war. »Wir dürfen’s nicht weiter verka**en.« Am Wahltag 2016 machte er sich in Tweets über Trump-Wähler lustig. »Ich meine, wir schauen herab auf die Staaten, die aber nicht grundlos für eine rassistische Orange gestimmt haben.« Nachdem Trump Präsident geworden war, twitterte Roth: »ACTUAL NAZIS IN THE WHITE HOUSE «, und nannte den republikanischen Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell , ein »charakterloses Furzkissen«.
Dennoch besaß Roth eine Mischung aus Optimismus und Ehrgeiz, die ihm Anlass zu der Hoffnung gab, mit Musk zusammenarbeiten zu können. Sie begegneten sich zum ersten Mal an jenem verrückten Donnerstagnachmittag, als Musk den Blitzabschluss seines Twitter-Deals durchzog. Um 17 Uhr klingelte Roths Telefon. »Hi, hier ist Yoni«, sagte der Anrufer. »Kannst du bitte in den zweiten Stock kommen? Wir müssen reden.« Roth hatte keine Ahnung, wer Yoni war, aber er machte sich auf den Weg durch die triste Halloween-Party, die gerade im Gange war, und gelangte in den großen, offenen Konferenzbereich, in dem Musk, seine Banker und die Musketiere geschäftig herumwuselten.
Roth wurde von Yoni Ramon begrüßt, einem kleinen, energiegeladenen, langhaarigen Tesla-IT ler für den Bereich Informationssicherheit. »Ich bin selbst Israeli, also merkte ich, dass er Israeli ist«, sagt Roth. »Aber ansonsten hatte ich keinen Schimmer, wer er war.«
Ramon sollte in Musks Auftrag verhindern, dass unzufriedene Mitarbeiter Twitter sabotierten. »Musk ist absolut paranoid und das aus gutem Grund, denn er befürchtet, dass ein verärgerter Angestellter das Ganze stören wird«, sagte er zu mir kurz bevor Roth eintraf. »Er hat mir den Job gegeben, das zu verhindern.«
Als die beiden sich an einen Tisch im offenen Bereich in der Nähe der langen Tische mit den Wasserflaschen und Snacks setzten, fragte Ramon Roth zunächst ohne weitere Erklärung aus: »Wie erhalte ich Zugang zu Twitter-Tools?«
Roth war immer noch unklar, wer der Typ eigentlich war. »Es gibt eine Menge Restriktionen, wer Zugang zu den Twitter-Tools erhält«, antwortete er. »Vor allem Datenschutzbelange.«
»Tja, es gab eine Übernahme des Unternehmens«, sagte Ramon . »Ich arbeite für Elon, und wir müssen alles sichern. Zeigen Sie mir wenigstens, wie die Tools aussehen.«
Roth war der Meinung, das wäre akzeptabel. Er zeigte Ramon auf seinem Laptop die Content-Moderation s-Tools, die Twitter verwendete, und empfahl Maßnahmen, die man zum Schutz vor einer Insider-Bedrohung ergreifen könnte.
»Kann man Ihnen trauen?«, fragte Ramon plötzlich und blickte Roth in die Augen.
Vom Ernst der Situation vollkommen überrumpelt, antwortete Roth: »Ja.«
»Okay, dann gehe ich jetzt Elon holen«, meinte Ramon.
Eine Minute später trat Musk aus dem War Room, wo der Deal gerade abgeschlossen worden war, setzte sich an einen der runden Tische in der Lounge und bat um eine Demonstration der Securitytools. Roth nahm sich Musks eigenen Account vor und zeigte, was die Twitter -Tools damit tun konnten.
»Der Zugang zu diesen Tools sollte momentan auf eine einzige Person beschränkt sein«, sagte Musk.
»Das habe ich gestern schon so eingerichtet«, entgegnete Roth. »Diese Person bin ich.« Musk nickte stumm. Ihm schien zu gefallen, wie Roth mit den Dingen umging. Dann fragte er Roth nach den Namen von zehn Menschen, denen er »sein Leben anvertrauen würde« und denen man den Zugang zu den Sicherheitstools auf höchster Ebene geben sollte. Roth antwortete, er würde eine Liste erstellen. Nun blickte auch Musk ihm tief in die Augen. »Ich meine wirklich, dein Leben anvertrauen«, sagte er. »Denn wenn die etwas falsch machen, werden sie gefeuert, und Sie werden gefeuert, und Ihr ganzes Team wird gefeuert.« Roth dachte bei sich, dass er wusste, wie man mit dieser Art von Boss umgeht. Er nickte und ging zurück in sein Büro.
Der erste Hinweis darauf, dass Yoel Roth Ärger bevorstand, kam am darauffolgenden Freitagmorgen. Roth erhielt eine Nachricht von Yoni Ramon , dass Musk Babylon Bee entsperren wollte, jene christlich-konservative Humorsite, die Musk so gefiel. Die Seite war aufgrund von Twitter s »Misgendering«-Policy blockiert worden wegen einer Satire, in der Rachel Levine , eine transsexuelle Frau in der Biden -Regierung, zum »Mann des Jahres« gekürt worden war.
Roth, der Musks Ruf als sprunghaft kannte, hatte mit impulsiven Entscheidungen gerechnet. Er war davon ausgegangen, dass es Trump betreffen würde, aber Musks Bitte, Babylon Bee wieder freizuschalten, förderte letztlich das gleiche Problem zutage: Roth wollte Musk daran hindern, willkürlich und einseitig Entsperrungen vorzunehmen. Mit anderen Worten, er hoffte, Musk daran zu hindern, Musk zu sein.
Am Morgen hatte Roth Musks Anwalt Alex Spiro kennengelernt, der nun für unternehmenspolitische Themen zuständig war. »Falls Sie jemals etwas brauchen oder etwas Verrücktes passiert, rufen Sie mich gleich an«, hatte Spiro zu ihm gesagt, ohne zu ahnen, wie schnell dies geschehen würde. Nachdem Roth ihm Twitter s »Misgendering«-Policy erläutert hatte und auch, dass Babylon Bee sich weigerte, den beleidigenden Tweet zu löschen, skizzierte er Spiro drei Möglichkeiten: Die Seite blieb gesperrt, die Misgendering-Regel wurde abgeschafft oder Babylon Bee willkürlich wieder zugelassen, ohne dass man sich über Unternehmenspolitik und Präzedenzfälle den Kopf zerbrach. Spiro, der wusste, wie Musk tickte, wählte Möglichkeit drei: »Warum kann er nicht einfach das machen?«, fragte er.
»Na ja, kann er schon«, räumte Roth ein. »Er hat das Unternehmen gekauft, und er kann entscheiden, was er will.« Doch das könnte Probleme nach sich ziehen. »Was, wenn ein anderer User das Gleiche macht, in diesem Fall aber unsere Vorschriften durchgesetzt werden? Dann haben wir das Problem, dass wir mit zweierlei Maß messen.«
»Okay, also sollten wir die Vorschriften ändern?«, fragte Spiro.
»Das kann man machen«, antwortete Roth. »Aber Sie sollten wissen, dass das ein bedeutendes Kulturkampfthema ist.« Es gab ohnehin schon viele Bedenken seitens der Werbekunden, wie Musk die Content-Moderation handhaben würde. »Wenn er da als Allererstes die Twitter -Richtlinie zu hasserfülltem Verhalten im Zusammenhang mit Misgendering aufhebt, glaube ich nicht, dass das gut gehen wird.«
Spiro überlegte und sagte dann: »Wir müssen mit Elon reden.«
Als sie sich gerade auf den Weg machten, erhielt Roth eine weitere Nachricht: »Elon will, dass die Sperrung von Jordan Peterson aufgehoben wird.« Peterson, ein kanadischer Psychologe und Buchautor, war Anfang des Jahres von Twitter gesperrt worden, weil er darauf bestanden hatte, einen bekannten Transmann als Frau zu bezeichnen.
Eine Stunde später kam Musk aus einem der Konferenzräume, um sich mit Roth und Spiro zu besprechen. Sie standen im Bereich der allgemein zugänglichen Snackbar, um sie herum lauter Leute, weshalb sich Roth nicht wohlfühlte. Dennoch brachte er das Thema der willkürlichen Entsperrung blockierter Accounts zur Sprache. »Na ja, was ist denn mit präsidialer Begnadigung?«, fragte Musk. »Das steht doch auch so in der Verfassung, oder?«
Roth konnte nicht einschätzen, ob Musk einen Witz machte, und räumte ein, dass Musk das Recht habe, nach Belieben Begnadigungen auszusprechen. Er wollte aber auch wissen, was geschehen solle, »wenn ein anderer User das Gleiche macht«.
»Wir ändern nicht die Bestimmungen, wir begnadigen nur«, entgegnete Musk.
»Aber bei Social Media läuft das so nicht«, beharrte Roth . »Die Leute reizen die Vorschriften aus, vor allem bei diesem Thema, und sie werden wissen wollen, ob sich die Twitter-Policy geändert hat.«
Musk hielt einen Moment inne und beschloss dann, sich ein bisschen zurückzuhalten. Er war ja schließlich mit dem Thema vertraut. Sein eigenes Kind hatte die Transition durchlaufen. »Also, damit das ganz klar ist, ich finde es nicht cool, Leute zu misgendern «, sagte er. »Aber es ist auch nicht so schlimm, wie jemand mit dem Tod zu bedrohen.«
Roth war angenehm überrascht. »Eigentlich war ich mit ihm einer Meinung«, erklärt er. »Obwohl ich den Ruf besaß, zur Zensur-Feuerwehr zu gehören, war ich schon lange der Auffassung, dass Twitter zu viel entfernt hat, auch wenn es andere, weniger invasive Möglichkeiten gegeben hätte.« Roth klappte seinen Laptop auf, um einige seiner Ideen zu präsentieren, beispielsweise Tweets mit Warnhinweisen zu versehen, statt sie zu löschen oder User zu sperren. Musk nickte begeistert. »Das klingt exakt nach dem, was wir tun sollten«, meinte er. »Diese problematischen Tweets sollten in der Suche nicht erscheinen. Sie sollten in der Timeline nicht erscheinen, aber wenn man zum Profil von jemandem navigiert, sieht man sie vielleicht doch.«
Seit mehr als einem Jahr hatte Roth an dem Vorhaben gearbeitet, die Reichweite bestimmter Tweets und User zu mindern. Er sah darin die Möglichkeit, umstrittene User nicht sperren zu müssen. »Einer der wichtigsten Bereiche, die ich gern näher erforschen würde, sind Maßnahmen, die nicht auf die Entfernung des Accounts abzielen, wie die Deaktivierung von Tweets und die Reichweitenherabstufung beziehungsweise das Visibility Filtering «, hatte er Anfang 2021 in einer Slack -Nachricht an sein Team geschrieben. Nachdem dieser Text im Dezember 2022 öffentlich wurde – als Teil von Musks Datentransparenzveröffentlichung, bekannt geworden als die »Twitter Files « – wurde Roths Darstellung ironischerweise als noch rauchende Pistole angesehen, die bewies, dass konservative Accounts von den Twitter-Liberalen einem »Shadow Banning « unterworfen wurden, einem geheimen Gesperrtwerden im Hintergrund.
Musk genehmigte nun Roths Idee, »Visibility Filtering« als Alternative für dauerhafte Blockierungen einzusetzen, um die Reichweite und Sichtbarkeit problematischer Tweets und User herabzusetzen. Darüber hinaus stimmte er zu, die Entsperrung von Babylon Bee und Jordan Peterson zu vertagen. »Warum nehmen wir uns nicht ein wenig Zeit«, hatte Roth vorgeschlagen, »um eine erste Version dieses Herabstufungssystems zu bauen?« Musk nickte. »Ich kann das bis Montag für Sie erledigen«, versprach Roth.
»Klingt gut«, sagte Musk.
Am nächsten Tag, ein Samstag, aß Yoel Roth gerade mit seinem Ehemann zu Mittag, als er einen Anruf erhielt, er solle ins Büro kommen. David Sacks und Jason Calacanis wollten ihm ein paar Fragen stellen. »Du solltest hingehen«, riet ihm ein Freund bei Twitter , der wusste, wie wichtig die beiden waren. Also fuhr Roth einmal quer durch die Bay von Berkeley zur Twitter-Zentrale.
In jener Woche wohnte Musk in Sacks vierstöckigem Haus in den Pacific Heights von San Francisco. Die beiden kannten sich seit PayPal-Zeiten. Schon damals war Sacks ein bekennender Libertärer und Verfechter des Rechts auf freie Meinungsäußerung gewesen. Seine Verachtung für Wokeness hatte ihn politisch nach rechts bewegt, allerdings mit einem populistisch-nationalistischen Einschlag, der ihn zu einem Skeptiker des US -Interventionismus machte.
Beim 2011 in der Toskana gefeierten fünfzigsten Geburtstag des Internetunternehmers und ebenfalls Libertären Sky Dayton hatten sich Sacks und Musk beim Dinner darüber unterhalten, wie große Techunternehmen dabei konspirierten, online das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken. Sacks vertrat den populistischen Standpunkt, dass ein »Sprachkartell« von Unternehmenseliten Zensur als Waffe einsetzte, um Außenseiter kleinzuhalten. Grimes lehnte diese Sicht ab, aber Musk schlug sich allgemein auf die Seite von Sacks . Bis dahin hatte er sich nicht viel mit Meinungsäußerung und Zensur beschäftigt, aber das Thema passte zu seiner wachsenden Anti-woke-Haltung. Als Musk Twitter übernahm, gehörte Sacks zur festen Kernmannschaft, stand beratend zur Seite und half, Meetings zu koordinieren.
Sein Freund und Poker-Buddy Jason Calacanis , mit dem er einen wöchentlichen Podcast hatte, stammte aus Brooklyn, war ein Internet-Start-up-Jockey und streberhafter Musk-Kumpan. Seine jungenhafte Begeisterungsfähigkeit war so ganz anders als Sacks’ mürrische Verschlossenheit, und Calacanis war auch politisch moderater eingestellt.
Als Musk im April seine ersten Schritte in Richtung Twitter unternahm, schickte ihm Calacanis eine Nachricht, dass er sich freue, ihm zu helfen. »Board-Mitglied, Berater, was auch immer … ich bin an deiner Seite«, textete er. »Nimm mich in die Mannschaft, Coach! Twitter-CEO ist mein Traumjob.« Sein Übereifer wurde gelegentlich von Musk zurückgewiesen, zum Beispiel als er eine spezielle Finanzierungsgesellschaft, ein sogenanntes Special Purpose Vehicle (SPV ), gründete, um Investments für Musks Twitter-Gebot zu sammeln. »Was ist mit dir los? Eine SPV , um an Unbekannte zu verticken?«, schrieb ihm Musk. »Das ist nicht okay.« Calacanis entschuldigte sich und machte einen Rückzieher. »Dieser Deal hat die Welt eben in unvorstellbarer Weise in den Bann gezogen. Völlig beknackt … Ich tu alles für dich, Bro – I’d jump on a grenade for you.«
Als Roth an jenem Samstagmittag bei Twitter erschien, um sich mit Sacks und Calacanis zu treffen, brach gerade eine Krise aus. Twitter war mit rassistischen und antisemitischen Beiträgen überflutet worden. Musk hatte erklärt, er sei gegen Zensur, und nun testeten Schwärme von Trollen und Provokateuren die Grenzen aus. Die Verwendung des N-Wortes war in den zwölf Stunden seit Musks Übernahme um 500 Prozent gestiegen. Das neue Team entdeckte schnell, dass uneingeschränkte Meinungsfreiheit auch eine Kehrseite hatte.
Roth wusste, dass Sacks die Storys über seine linke Gesinnung gelesen hatte, darum war er überrascht, wie höflich und zuvorkommend Sacks ihm gegenüber war. Sie redeten über die Daten des Hate-Angriffs und die vorhandenen Tools, damit umzugehen. Roth erklärte, dass die meisten Beiträge nicht von einzelnen Usern stammten, die ihre persönliche Meinung äußerten, sondern Ergebnis organisierter Troll- und Bot-Attacken seien. »Es handelte sich eindeutig um eine koordinierte Angelegenheit«, so Roth, »und nicht um Leute, die mit einem Mal rassistischer geworden sind.«
Nach ungefähr einer Stunde kam Musk in den Konferenzraum. »Was ist da los mit diesem rassistischen Kram?«, fragte er.
»Eine Troll-Kampagne«, sagte Roth .
»Haut das Zeug auf der Stelle weg«, forderte Musk. »Vernichtet das.« Roth war begeistert. Er dachte, Musk wäre gegen jede Form von Content-Moderation . »Hatespeech hat keinen Platz auf Twitter «, fuhr Musk fort, als würde er eine Erklärung fürs Protokoll abgeben. »Das ertrag ich nicht.«
Calacanis lobte Roth für seine Fähigkeit, die Lage zu erklären. »Warum schreibst du nicht ein paar Tweets darüber?«, fragte er. Also twitterte Roth einen Thread, in dem er versuchte, die Situation bei Twitter zu erklären. »Wir kümmern uns intensiv um den Anstieg des Hater-Verhaltens auf Twitter«, schrieb er. »Mehr als 50 000 Tweets, in denen wiederholt eine bestimmte üble Beleidigung verwendet wurde, stammten von nur 300 Accounts. Nahezu alle dieser Accounts sind nicht authentisch. Wir haben Maßnahmen ergriffen, um die an dieser Troll-Kampagne beteiligten User zu sperren.«
Musk retweetete Roths Beiträge und fügte eigene Tweets hinzu, in denen er die Werbekunden beruhigte, die begannen, Twitter fluchtartig zu verlassen: »Um es superdeutlich zu sagen, wir haben noch keine Änderungen an den Twitter-Bestimmungen zur Content-Moderation vorgenommen.«
Wie mit allen Leuten, die er zu seinem inneren Zirkel zählt, fing Musk an, Roth regelmäßig Fragen und Vorschläge zu schicken. Sogar als eine Flut neuer Geschichten erschien, in denen Roths linksgerichtete Tweets von vor fünf Jahren wieder aufgewärmt wurden, unterstützte er ihn, sowohl privat als auch öffentlich. »Er meinte zu mir, dass er ein paar meiner alten Tweets lustig fand, und er war aufrichtig an meiner Seite, obwohl viele konservativ eingestellte Leute meinen Kopf forderten«, sagt Roth. »Wir alle haben schon mal fragwürdige Tweets veröffentlicht, ich mehr als die meisten, aber ich möchte klarstellen, dass ich auf Yoels Seite bin«, schrieb Musk als Reaktion auf den Twitter-Beitrag eines Konservativen. »Ich habe den Eindruck, er ist sehr integer, und wir alle haben ein Recht auf politische Überzeugungen.«
Obwohl Musk noch nicht ganz herausgefunden hatte, wie man seinen Namen (Yo-El) ausspricht, schien das wie der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.