KAPITEL ZWEI

M eine Geburt in Dunkelsteig stand unter keinem guten Stern. Vor dem Krankenzimmer des Gemeindearztes wartete mein Vater und stürzte dann an das Bett, wo ihm Mutter stolz das Neugeborene präsentierte. Zunächst nahm mich Vater sanft in die Arme, legte mich jedoch kurz darauf enttäuscht wieder zurück ins Bettchen: »Es ist kein Junge!«

Diese Geschichte erzählte mir meine Großmutter viele Jahre später, und ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln. So wurde ich vor achtunddreißig Jahren nicht Felix, sondern Felicitas getauft.

Das waren die Erinnerungen, die mich auf dieser langen Fahrt heimsuchten. Ich saß in einem Zug, der mich nach mehrmaligem Umsteigen von Berlin in die österreichischen Alpen beförderte. Niemals wollte ich zurückkommen, das hatte ich mir vor zwanzig Jahren geschworen. Aber jetzt war mein Vater tot und ich auf dem Weg in den verhassten Ort.

›Eigenartig‹, dachte ich, als die Berge immer näher rückten und ich heftig aus- und einatmete. ›In Berlin bin ich eine selbstbewusste Frau, die ihren Job als Journalistin liebt und mit beiden Beinen im Leben steht. Doch je näher ich meiner Heimat komme, desto einsamer und verlorener fühle ich mich.‹ Ich musste mir eingestehen, dass die Reise ein Fehler war. Aber jetzt war es zu spät.

Seufzend verdrängte ich diese Gedanken, betrachtete stattdessen mein müdes Gesicht im Fenster des Zugabteils. Die brünetten Haare schmiegten sich um meine Wangen, und in der Spiegelung verloren die kleinen Fältchen um meinen Mund ihren Schrecken. Meine dunklen Augen wirkten durch die starken Augenringe unnatürlich groß. Ich hatte seit zwanzig Jahren Probleme mit dem Durchschlafen, und das sah man mittlerweile meinem Gesicht an. Während ich an die anstrengenden Nächte dachte, in denen ich mich ruhelos von einer Seite auf die andere wälzte, verlangsamte der Zug sein Tempo. Wir erreichten den Bahnhof von Schwarzach. Hier musste ich das letzte Mal umsteigen. Als ich den Waggon verließ, atmete ich zunächst die frische Luft tief ein und sah mich um. Die Berge waren wieder ein ganzes Stück näher gerückt. Aber in Schwarzach konnte man noch atmen, und das Sonnenlicht drang an diesem trüben Oktobertag bis auf den Talboden vor.

Ich warf einen schnellen Blick auf meine Armbanduhr und stellte fest, dass mir nur wenig Zeit blieb, die Lokalbahn nach Dunkelsteig zu erwischen. Hastig warf ich mir den Riemen der Reisetasche über die Schulter und sprintete durch die Unterführung, die zu dem Bahnsteig für die Regionalzüge führte. Eine defekte Neonröhre flackerte und warf Blitze durch den Betontunnel, dessen Wände mit Graffitis vollgesprayt waren. Plötzlich erblickte ich das Gesicht eines Mädchens mit blonden Haaren, das jemand auf den Beton gemalt hatte. Abrupt blieb ich stehen und starrte auf das Bild. Die feinen Züge und das blonde Haar hatte der Sprayer perfekt getroffen, die Ähnlichkeit war verblüffend. Woher wusste der Künstler, wie sie ausgesehen hatte? All das war doch schon zwanzig Jahre her.

»So ein Zufall!«, murmelte ich laut. »Aber das bildest du dir bloß ein!« Es lag wahrscheinlich an dem flackernden Licht, von dem mir die Augen schmerzten. Dummerweise hatte ich meine Gleitsichtbrille in Berlin vergessen. »Blödsinn, du machst dich ganz verrückt!«, sagte ich eine Spur zu laut, und die Worte hallten von den grauen Betonwänden wider, klangen jetzt so, als würden sie mich verspotten.

Ich drehte den Kopf zur Seite und lief weiter, ließ das Graffiti hinter mir, und mit einem Mal war der Spuk vorüber. Auf der Treppe blieb ich noch einmal kurz stehen und warf einen schnellen Blick zurück auf das gesprayte Gesicht. Es war nur eine optische Täuschung gewesen. Aus diesem Blickwinkel wirkte es ganz anders. Ich hatte in Berlin manchmal Probleme mit flackernden Lichtern. Mein Augenarzt diagnostizierte eine überempfindliche Netzhaut, die auf Helligkeitsnuancen reagierte, und verschrieb mir Tropfen und eine getönte Gleitsichtbrille. Diese lag jetzt in einem schönen Etui auf meinem Schreibtisch in meiner Wohnung.

Mit zusammengekniffenen Augen fixierte ich ein Reklameschild, das in einiger Entfernung aufgestellt war. Problemlos konnte ich den Text lesen, denn die Beleuchtung war ohne Reflexe. Das entspannte mich, während ich neben den Gleisen auf und ab ging.

Als die Lokalbahn wie eine silbrige Schlange beinahe lautlos in den Bahnhof rauschte, war ich im ersten Moment verwirrt. Kein Vergleich zu dem altertümlichen Zug, mit dem ich Dunkelsteig vor zwanzig Jahren verlassen hatte. ›Was hast du denn erwartet? Dass hier die Zeit stehengeblieben ist?‹, dachte ich. Entschlossen öffnete ich die Tür zu dem großen Abteil und suchte mir einen Platz am Fenster. Ein schriller Pfiff ertönte, und langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Die Bahn machte eine elegante Schleife und fuhr in das finstere Tal hinein. Jetzt gab es kein Entrinnen mehr. Für einen kurzen Augenblick hatte ich den Drang, die Notbremse zu ziehen, aus dem Waggon zu springen und nach Berlin zurückzukehren.

Der Zug raste an düsteren Bauernhäusern vorüber, die von grauen Nebelschwaden erstickt wurden. Obwohl es erst Nachmittag war, verlor das Tageslicht bereits den Kampf gegen die Dämmerung. Auf der Schnellstraße, die neben der Bahntrasse in das Tal führte, flammte die Beleuchtung auf. Gelbe Lichter spiegelten sich auf dem vom Nebel feuchten Asphalt. Felswände schoben sich unerbittlich auf uns zu, und je näher wir Dunkelsteig kamen, desto düsterer wurde die Gegend. Der Himmel verschwand vollkommen, und die Berge versperrten den Blick in die Ferne. Ich stand auf, drückte meine Wange an die Fensterscheibe und versuchte, wenigstens noch ein Stück von den grauen Wolken zu erhaschen, um nicht vollkommen in dem trostlosen Dämmerlicht zu versinken. Aber alles, was ich erkennen konnte, war grauer Fels, an dem mein Blick zerschellte.

Wie aus dem Nichts tauchte mit einem Mal das Ortsschild Dunkelsteig auf. »Endstation«, tönte es aus dem Lautsprecher. Dunkelsteig war wirklich eine Endstation. Es war der letzte Ort in dem Tal, denn dahinter türmte sich das Gebirge bis in den Himmel auf. Eingekesselt von schroffen Felsen gab es nur die Bahntrasse und eine Schnellstraße, die hinaus ins Leben führten. Seit damals wollte ich nie wieder in dieses dunkle Dorf zurückkehren. Aber jetzt war mein Vater gestorben, und die Vergangenheit hatte mich eingeholt.