KAPITEL VIER

G ewisse Empfindungen sind in das Gedächtnis eingebrannt, werden zu unauslöschlichen Erinnerungen. Erlebt man sie nach einem langen Zeitraum wieder, so stellt man fest, dass sich die Wahrnehmung nicht geändert hat.

Daran musste ich denken, als ich den steilen Weg zu meinem Elternhaus hochging. Es lag auf einem Hang am Ende des Dorfes, und wenn das Wetter schön war, hatte man einen Weitblick und konnte bis zur Kirche sehen. Ich blieb kurz stehen und ließ mein früheres Zuhause auf mich wirken. Es war ein zweistöckiges Holzgebäude mit einem Balkon im ersten Stockwerk. Die bemoosten Steine auf den Dachschindeln wirkten wie Warzen, und die kleinen Fenster erinnerten an tückische Augen. Geduckt wie eine fette Kröte war das Haus in den abschüssigen Hang hineingebaut. Vollkommen ohne Design, nur auf Zweckmäßigkeit geplant, hatte es mein Großvater errichtet. Kein Wunder, denn die Großeltern benutzten es nur zum Schlafen, tagsüber waren sie bei der Arbeit. Im Sommer auf der Alm mit ihren Kühen, und im Winter arbeitete Großmutter in einem Wintersportort. Wozu brauchte man da ein schönes Heim? Darum war es eines der hässlichsten Gebäude im Dorf, und das war wie eine Auszeichnung in diesem an unschönen Bauten nicht armen Ort. Vor vielen Jahren hatte mein Vater den alten Stall abgerissen und begonnen, an das Wohnhaus eine Garage anzubauen. Dieses Projekt war aber nie zu Ende geführt worden. Noch immer ragten die unverputzten Ziegel seitlich aus der Hausmauer, und das improvisierte Dach bestand seit zwanzig Jahren aus Wellblechplatten. Daneben stand die Holzkonstruktion, die Vater über einen ehemaligen Vorratskeller gebaut hatte, wo wir Kohle und Holz für den Winter lagerten.

»Irgendetwas hat sich doch verändert«, murmelte ich, als ich die Fassade hochblickte. Ich überlegte kurz, kam aber im Moment nicht dahinter.

Noch einmal atmete ich tief durch, dann zog ich die rostige Kette, und die Glocke neben dem Eingang bimmelte blechern. Sofort wurde die Tür aufgerissen, und meine Mutter trat heraus. Ihre schwarzen Haare waren grau geworden, und die harten Falten um ihre Mundwinkel hatten sich vertieft. Trotzdem wirkte sie nicht viel älter als vor zwanzig Jahren. Sie trug ein schwarzes Dirndl, den Trachtenumhang hatte sie über den Arm gelegt.

»Du bist wie immer spät dran, Felicitas!«

›Kein Wort der Begrüßung nach so vielen Jahren. Es hat sich nichts geändert‹, dachte ich resigniert.

»Grüß Gott, Mutter. Wir haben uns lange nicht gesehen.« Ich trat auf sie zu, um sie zu umarmen, doch Mutter wich zurück.

»Wir können später reden, aber jetzt müssen wir zum Friedhof.«

»Sicher, ich stelle nur schnell meine Tasche ab.« Ich war gekränkt, ließ es mir aber nicht anmerken. Am liebsten wäre ich auf der Stelle wieder umgedreht und zurück nach Berlin gefahren.

»Willst du in dieser Kleidung zur Kirche?« Mutter deutete missbilligend auf meinen Trenchcoat und die ausgelatschten Sneakers.

»Natürlich nicht, ich ziehe mich schnell um.« Ich trat in den Flur, und sofort war die Ausdünstung des Hauses wieder gegenwärtig. Dieser eigentümliche Geruch nach Bodenwachs, Holz und aufgewärmten Eintopf. »Eintopf«, murmelte ich, als ich die knarrende Treppe nach oben in mein ehemaliges Zimmer huschte. Jeden Freitag hatte es dieses Gericht gegeben, da wurden alle Reste zusammengemischt, die in der Woche übrig geblieben waren. »Eintopf passt hierher«, sagte ich halblaut. »Auch dieses Haus wurde aus Resten gebaut.«

»Hast du was gesagt?«, rief mir Mutter hinterher.

»Nein, ich habe nur laut gedacht.«

»Beeil dich!«

Als ich die Tür zu meinem alten Zimmer öffnete, prallte ich überrascht zurück. Der Raum wirkte wie eine billige Absteige. Ein Doppelbett mit geblümter Bettwäsche nahm einen Großteil des Zimmers ein, links und rechts davon standen pseudoländliche Nachtkästchen mit geschnitzten Lampen. An der Wand gegenüber versperrte ein Bauernschrank die Sicht. Es gab keinen einzigen persönlichen Gegenstand, der noch an mich erinnerte. Wieder spürte ich, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, doch ich wollte Mutter diesen Triumph nicht gönnen und schluckte meine Enttäuschung tapfer hinunter.

Ich warf die Koffertasche auf das Bett, öffnete sie und zog schwarze Jeans und einen Blazer hervor. In großer Eile zog ich mich um, schlüpfte in schwarze Sneakers und war froh, diesen seelenlosen Raum verlassen zu können.

Als ich aus dem Haus trat, blickte ich hinunter auf den Ort, und mit einem Mal wusste ich, was sich in den Jahren meiner Abwesenheit verändert hatte.

»Wo ist die Silbertanne?«, fragte ich Mutter, die hinter mir stand. »Sie war doch hier vor dem Eingang.«

»Vater hat sie gefällt!«

»Aber das war mein Baum! Großmutter hat ihn für mich gepflanzt«, erwiderte ich. Eine lange unterdrückte Wut begann in mir hochzukochen. »Das hätte er nicht tun dürfen!« So rücksichtslos war Vater immer gewesen. Er wollte mich komplett aus seinem Leben verbannen.

»Du bist damals nicht mehr in unserer Familie gewesen. Deshalb hat Vater ihn weggemacht.«

»Das verzeihe ich ihm nie!«

»Willst du deinem Vater am Tag seines Begräbnisses noch Vorwürfe machen?«, fragte Mutter anklagend.

»Nein, natürlich nicht«, lenkte ich ein. »Es ist nur so bezeichnend für sein ganzes Verhältnis zu mir.«

»Geht das jetzt schon wieder los? Wir sind spät dran. Komm, wir müssen uns beeilen.«

Mutter packte mich am Arm, und beide marschierten wir den abschüssigen Weg hinunter. Als ich mich umdrehte, um noch einmal einen Blick auf das Haus zu werfen, sah ich weiter oben eine Gestalt aus dem Nebel auftauchen. Ich blieb stehen, kniff die Augen zusammen, um die Person genauer zu erkennen. Es war ohne Zweifel eine junge Frau, denn sie hatte langes blondes Haar, das in Wellen bis weit über ihre Schultern fiel.

»Wer ist das dort oben? Wohnt jemand in dem alten Stadel?«, fragte ich Mutter und wies mit dem Arm in die Richtung.

»Wen meinst du?«

»Na die blonde Frau. Sie sieht ein bisschen wie Manu aus.«

»Was redest du da?« Resolut packte mich Mutter am Arm und zog mich weiter. »Da oben wohnt niemand. Der Stadel ist völlig verfallen.«

»Aber ich habe jemand gesehen«, beharrte ich. Wie ein störrisches Pferd blieb ich stehen und blickte zurück. Doch da war niemand mehr. Nur vereinzelte Nebelschwaden zogen wie verschleierte Geister über die geschwärzten Wände des Stadels.

Wahrscheinlich hatte ich mich getäuscht. Ich dachte an das Graffiti in Schwarzach. Aktivierte Dunkelsteig mein Unterbewusstsein so sehr, dass ich jetzt schon Gespenster sah?

»Du kannst die Vergangenheit nicht vergessen?«, hörte ich Mutters Stimme an meinem Ohr. »Aber kein Wunder, nach allem, was damals passiert ist.«