KAPITEL FÜNF

I n der kleinen Kirche waren alle Plätze besetzt. Dicht an dicht saßen die Bewohner von Dunkelsteig auf den Bänken und flüsterten miteinander. Verwundert stellte ich fest, dass mein Vater ziemlich beliebt gewesen war. Das hätte ich nie gedacht. Für mich war er der unsympathischste Mann der Welt gewesen.

Bis zu seiner Pensionierung hatte er als Lehrer in Dunkelsteig gearbeitet. In Wien hatte er Philosophie studiert, sich aber nie um eine Stelle an einem Gymnasium bemüht. So wurde er über die Jahrzehnte zu einem überqualifizierten Volksschullehrer, der den Dorfkindern Lesen und Schreiben beibrachte. Als ich ihn als Teenager in meiner kindlichen Wut einmal provozierend auf sein verpfuschtes Leben anredete, konterte er kühl: »Auch Wittgenstein war ein einfacher Lehrer. Aber davon hast du natürlich keine Ahnung, mein hässliches Entlein.«

Diese Gedanken schwirrten durch meinen Kopf, als ich die Kirche betrat. Ich starrte gefühllos auf den schlichten Holzsarg, in dem er jetzt lag.

»Felicitas, möchten Sie sich von Ihrem Vater verabschieden?«, fragte der Pfarrer salbungsvoll, als er mich entdeckte.

»Nein danke, kein Bedarf.«

»Benimm dich!«, zischte Mutter und stieß mir den Ellbogen in die Seite, und an den Pfarrer gewandt sagte sie: »Felicitas ist zu traurig, sie würde den Anblick ihres geliebten Vaters nicht ertragen.«

»Was redest du da?« Ich hatte große Lust, ihr zu widersprechen, riss mich aber dann zusammen. Es schien mir nicht der richtige Ort für einen Streit.

Unauffällig blickte ich umher. Die meisten der Anwesenden kannte ich vom Sehen. Dutzende Augenpaare betrachteten mich, und Getuschel pflanzte sich wie eine Welle von Reihe zu Reihe fort. Ich bildete mir ein, Sätze wie »Nach so vielen Jahren lässt die sich wieder hier blicken« oder »Was will die hier?« zu hören.

Dann wurde die Kirchentür mit einem Ruck aufgerissen, und er trat ein. Wie immer zu spät, wie immer mit zerzausten Haaren, die schon von grauen Strähnen durchzogen waren. Wie immer mit diesem unvergleichlichen Lächeln, das er jetzt anknipste, als er mich bemerkte.

»Adrian ist auch extra angereist?«, flüsterte ich zu Mutter und nickte zurück.

»Nein. Er hat es doch nicht weit von seinem Haus.«

»Er wohnt noch immer in Dunkelsteig?«, erwiderte ich verwundert. ›Addi, was ist nur aus deinen hochfliegenden Plänen geworden?‹, dachte ich.

»Er weiß eben, wo seine Wurzeln sind. Anders als du.«

»Wie nett von dir.«

»Ist doch wahr.« Mutter drehte sich zur Seite und blickte nach vorne.

Der Pfarrer begann den Lebenslauf meines Vaters von einem Manuskript abzulesen, während ich unauffällig umherschaute. Dann entdeckte ich auch Johannes, der auf einer Bank am Rand saß und angestrengt in sein Handy tippte. Mit ihm hatten die Jahre es nicht so gut gemeint. Er war in die Breite gegangen und wirkte mit seinem Bürstenhaarschnitt und dem grauen Anzug saturiert.

Als die Ansprachen vom Schuldirektor und dem Obmann des Schützenvereins beendet waren, hoben vier Männer in schwarzen Anzügen den Sarg in die Höhe und trugen ihn zu dramatischer Musikbegleitung durch den Mittelgang nach draußen. Wir folgten mit langsamen Schritten, und ich bemühte mich, eine traurige Miene aufzusetzen. Während der Zeremonie drückte ich viele Hände, nahm die Beileidsbekundungen zur Kenntnis und warf eine Handvoll Erde auf den Sarg.

Nach der Beisetzung atmete ich tief durch und hatte den unwiderstehlichen Drang, den Friedhof so schnell wie möglich zu verlassen.

»Feli. Ich hätte nicht gedacht, dass du zurückkehrst.« Adrian stand plötzlich vor mir und musterte mich mit seinen dunklen Augen.

»Es ist keine Rückkehr, sondern nur ein kurzer Besuch für das Begräbnis. Das gehört sich eben«, antwortete ich spröde. Irgendwie hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass ich mit ihm über die Vergangenheit sprechen sollte, denn so vieles war damals ungesagt geblieben. Aber wir hatten uns geschworen, nie wieder darüber zu reden.

»Du hast dich kein bisschen verändert, siehst noch genauso hübsch aus wie früher.«

»Ach wirklich?« Ich spürte, wie ich rot wurde, und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. ›Was für ein wohltuendes Kompliment‹, dachte ich und fühlte mich geschmeichelt.

»Na ihr beiden.« Johannes trat zu uns und legte gönnerhaft seine Arme um die Schultern von Adrian und mir. »Feli, ich habe gehört, du hast als Journalistin Karriere in Berlin gemacht? Schreibst für die BAZ, die Berliner Allgemeine Zeitung.«

»Woher weißt du das?«

»Ach, die Buschtrommeln tragen mir so einiges zu«, entgegnete er verschwörerisch.

»Und was treibst du so?«, fragte ich der Form halber, obwohl es mich nicht sonderlich interessierte.

»Ich bin Rechtsanwalt in Salzburg.« Ein gewisser Stolz lag in seiner Stimme.

»Wow, dann hast du es also geschafft«, meinte ich anerkennend.

»Joe hat sich mit dem System arrangiert und sein Rückgrat an der Garderobe abgegeben«, fuhr Adrian sarkastisch dazwischen.

»Und was ist mit deiner Schauspielkarriere geschehen?«, entgegnete Johannes spöttisch. »Erzähl es uns, oder hat es dir wieder die Stimme verschlagen.«

»Halte dich zurück, Johannes!«, zischte Adrian.

»Hört auf!«, fuhr ich genervt dazwischen. Nichts wollte ich weniger, als dass hier am Grab meines Vaters ein Streit vom Zaun gebrochen wurde.

»Du hast recht. Nichts für ungut.« Johannes klopfte Adrian auf die Schulter.

»Wie fühlt es sich an, nach so langer Zeit wieder nach Dunkelsteig zurückzukehren?«, fragte er mich dann. »Hast du deine Heimat ein bisschen vermisst?«

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete ich spontan.

»Das war ein Scherz.« Johannes grinste über das ganze Gesicht. »Ich bin auch nur noch manchmal an den Wochenenden hier.« Er blickte umher und sagte dann so leise, als würde er uns ein großes Geheimnis verraten: »Jetzt ist ja fast die ganze Clique wieder versammelt. Gehen wir noch zu Manus Heim, dann sind wir alle wieder vereint.« Er deutete über die Gräberreihen.

»Wie geschmacklos von dir«, fuhr ihn Adrian an. »Manu liegt in einem Grab – und du sprichst von Heim?«

»Nun, es ist ihre letzte Ruhestätte«, gab Johannes zur Antwort.

»Man hat sie nie gefunden. Außerdem habe ich jetzt keine Zeit.« Adrian blickte zerstreut auf seine Uhr. »Ich muss mich um meine Familie kümmern. War schön, dich mal wieder zu sehen, Feli.« Er drehte sich um und stapfte zwischen den Gräberreihen auf den Ausgang zu.

›Dann bist du also verheiratet und hast vielleicht auch Kinder? Ob du hier glücklich geworden bist?‹ Aber ich vermied es, Johannes nach Adrians Familie zu fragen.

»Tja, dann gehen eben wir beide zu Manu«, riss mich dessen Stimme aus meinen Gedanken. »Sie war schon sehr speziell, findest du nicht auch?«, fragte er, während wir auf das Grab zusteuerten.

»Ja, sie war etwas Besonderes. Ich denke oft an damals«, entgegnete ich. »Es ist alles so weit weg und doch so nah. Wie geht es dir damit?«

»Ich möchte nicht mehr an den Vorfall erinnert werden«, blockte Johannes sofort ab. Nervös blickte er umher. »Ich glaube, es ist doch keine so gute Idee, ihre letzte Ruhestätte aufzusuchen.«

»Wie du meinst.« Ich blieb stehen und zog die Schultern hoch. Insgeheim war ich über seine Äußerung froh. Auch ich war noch nicht bereit, an Manus Grab zu stehen.

»Vergiss nicht, was wir uns vor zwanzig Jahren geschworen haben.« Johannes drehte sich abrupt um und steuerte auf den Ausgang zu.

»Ich weiß, aber irgendwann müssen wir uns der Vergangenheit stellen«, rief ich ihm hinterher. »Wir können die Ereignisse von damals nicht unser ganzes Leben lang ausblenden.«